Efeu - Die Kulturrundschau

Dem Irdischen entrückte Superfrauen

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22.08.2023. Dominik Grafs neuer Essayfilm gräbt sich tief ein in die Fragen von Schuld und Verantwortung der Literaten der "inneren Emigration", schreibt der Filmdienst. Vielleicht sollte das Lucerne Festival sich von dem Gedanken verabschieden, dass ein einziger Dirigent das Festival prägt, muss die NZZ seufzend feststellen. Außerdem schwelgt sie in der Londoner "Diva"-Ausstellung in der mythischen Entrücktheit göttlicher Abendkostüme. Die FAZ wird in einer Ausstellung zum "Okkulten in der Thyssen-Bornemisza-Sammlung" von einem unerwarteten Blick getroffen. Und die Welt freut sich, dass Berlin den Brutalismus plötzlich wieder schön findet.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.08.2023 finden Sie hier

Film

Graustufen der Schuld: "Jeder schreibt für sich allein" von Dominik Graf (Piffl)

Diese Woche startet Dominik Grafs neuer Essayfilm "Jeder schreibt für sich allein" in den Kinos. Es geht - anhand von Anatol Regniers gleichnamigem Buch - um die Schriftsteller der sogenannten "inneren Emigration", die in Nazi-Deutschland geblieben sind und sich darüber später widersprüchlich äußerten. Mit fast drei Stunden Laufzeit und teils assoziativ angehäuftem Material liegt hier "ein faszinierendes Monster von einem Film" vor, schreibt Lukas Foerster im Filmdienst. Neben der Darstellung des literarischen Verlusts durch den Nationalsozialismus, "geht es um einen differenzierten Blick auf den Nationalsozialismus selbst, vor allem aus der Perspektive des alltäglichen Lebens. ... Die Formel, die der Film für letzteren Aspekt findet, sind die Graustufen. Es gehe darum, heißt es im Voice-Over-Kommentar in mehreren Variationen, neben dem Schwarz-Weiß der totalen Schuld auf der einen und Schuldabwehrbegriffen wie 'innere Emigration' auf der anderen Seite Abstufungen von Schuld zuzulassen. Eine nachvollziehbare Position insoweit man Schuld als eine moralische Kategorie fasst, deren einziger Maßstab das Individuum ist. Nur: Ist eine derartige Subjektivierung von Schuld in diesem Fall angemessen? Gibt es nicht auch eine überindividuelle, historische Perspektive, aus der der Unterschied zwischen Exil und Dableiben eben doch einer ums Ganze ist?" Dlf Kultur hat mit Dominik Graf über seinen Film gesprochen.

In Wien hat derweil der Dokumentarfilmer Günter Schwaiger seinen neuen Film "Wer hat Angst vor Braunau?" vorgestellt, in dem es um Hitlers Geburtsthaus geht, vor allem aber um die Braunauer selbst und die anhaltenden Auseinandersetzungen darum, was mit dem Haus geschehen soll. Die Lebenshilfe musste 2011 aus dem Gebäude ausziehen, die Politik hätte dort gerne eine Polizeidienststelle. "Die Ordnungsmacht ausgerechnet dort unterzubringen, wo einer der schlimmsten Diktatoren der Geschichte seinen Anfang nahm, missfiel nicht nur der Mehrheit der Einheimischen", schreibt Hannes Hintermeier in der FAZ. "Überhaupt sind die Braunauer die eigentlichen Helden in diesem Film - mit ihrem Geschichtsbewusstsein, ihrer erklärten Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, den Kopf hinzuhalten, bis ihre Landsleute endlich aufhören, sie als Sündenbock zu missbrauchen. Das hat auch historische Gründe: Mit Ausnahme der zwölf braunen Jahre war Braunau eine Stadt der Arbeiterbewegung." Der Film bringt noch ein pikantes Detail ans Tageslicht: Auch die Nationalsozialisten hätten das Gebäude wohl gerne administrativ genutzt, schreibt Rosa Schmidt-Vierthaler in der Presse. "Dass das Innenministerium, das 2019 die Entscheidung traf, von Hitlers Wunsch nichts wusste oder wissen wollte, ist für Schwaiger kein Ruhmesblatt: 'Wie kann es sein, dass man sich nie gefragt hat, was Hitler mit dem Haus wollte, was die Nazis mit dem Haus wollten?'"

Bert Rebhandl reist für die FAZ mit den Experimentalfilmen von Jonas Mekas im Gepäck nach Litauen: "'Reminiscences of a Journey to Lithuania' (1971/72) heißt einer seiner bekanntesten Filme. Man kann ihm dort bei einer Rückkehr an einen mütterlich geprägten Ort zusehen, das 16-mm-Filmmaterial trägt viel zu der Patina bei, mit der die Landschaften seines Herkommens bei Mekas belegt sind. Wenn man heute durch diese Flecken im Baltikum fährt, dann hat man das zwanzigste Jahrhundert der Gewalt überall gegenwärtig. Man sieht aber auch ein wald- und wasserreiches, dünn besiedeltes Land, von dem die Privilegierten dieser Welt wahrscheinlich bald begreifen werden, dass sich hier dem Klimawandel besser trotzen lässt als auf griechischen Inseln." Ein Ausschnitt:

Archiv: Film

Design

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Die "Diva"-Ausstellung des Victoria & Albert in London ist mit ihren zahlreichen versammelten Abendkleidern und Kostümen "eine Feier der unerreichbaren, dem Irdischen entrückten Superfrauen, die abgehoben von der Menge existieren", freut sich Marion Löhndorf in der NZZ. "Die Primadonna braucht die Kulisse, den Laufsteg oder den roten Teppich, um die Metamorphose zur Phantasiegestalt zu vollziehen: ohne Bühne keine Diva. Federn, Strass, Fransen, Tüll, Samt und Seide helfen, den großen Auftritt ins Mythische zu heben. Die Kleider erweitern die Ausstrahlung der Göttlichen hin zur Überlebensgröße. ... Bob Mackies Entwürfe für Cher und Tina Turner gehören zu den Höhepunkten der Ausstellung." Denn "wenn Tina tanzte, tanzten schmale Stoffbahnen mit, die um ihre Beine schwangen. Cher verwandelte er mit spektakulären Gewändern in einen Paradiesvogel und schickte sie 1986 mit einem gigantischen Federkopfschmuck zur Oscar-Verleihung. Als einzige Ausnahme unter den vielen bunten Prachtgewändern nimmt sich Edith Piafs bescheidenes, schwarzes Kleidchen in einer Vitrine aus."
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Stichwörter: Diva, Mode, Mackie, Bob

Musik

Riccardo Chailly ist es seit 2014 nicht gelungen, das Vakuum nach Abbados Tod beim Lucerne Festival zu füllen, stellt NZZ-Kritiker Christian Wildhagen nach diesem Jahrgang fest, bei dem sich Chailly gesundheitsbedingt vertreten lassen musste. "Vielleicht ist das Modell mit nur einer prägenden Figur an der Spitze aber ohnehin ein Auslaufmodell. Der Gedanke drängt sich in diesem Jahr besonders auf. Denn anstelle Chaillys stehen gleich drei unterschiedliche Dirigenten am Pult des LFO. Und die Herausforderung für das Orchester, sich jeweils auf deren individuelle künstlerische Handschriften einzulassen - sie entpuppt sich als Gewinn. Nicht nur bei der Zusammenarbeit mit Zürichs Musikdirektor Paavo Järvi, der kurzfristig die beiden Eröffnungskonzerte übernahm und vor allem am zweiten Abend zu einem intensiven musikalischen Austausch mit den Musikern fand. Auch dem Kanadier Yannick Nézet-Séguin und dem Kolumbianer Andrés Orozco-Estrada begegnet das Orchester mit beeindruckender Flexibilität." Bei Arte-Concert lassen sich einige Aufnahmen finden.

Außerdem: Wolfgang Schreiber schreibt in der SZ zum Tod der Komponistin Gloria Coates. Besprochen werden ein von Daniel Harding dirigiertes Konzert der Wiener Philharmoniker in Salzburg (Standard), Grian Chattens Album "Chaos For the Fly" (FR) und neue Popveröffentlichungen, darunter ein neues Live-Album von Sonic Youth, das viel "Lärm und Energie" bereithält, wie Standard-Kritiker Karl Fluch bezeugt.

Archiv: Musik
Stichwörter: Lucerne Festival

Literatur

Für die NZZ liest Ilma Rakusa neue osteuropäische Diaspora-Lyrik von Volha Hapeyeva, Polina Barskova und Yevgeniy Breyger. Letzterer, in Charkiw geboren, setzt sich in "Frieden ohne Krieg" mit seiner durch den Krieg bedingten Lebens- und Schaffenskrise auseinander und wagt sich "an das Unsagbare" heran: "Schritt für Schritt, wobei der Prozess des Schreibens und die Stimmungslage des Schreibenden schonungslos offengelegt werden. Erschütternd, wie Breyger im ersten Gedicht ('du musst das hören') seine tragisch-verwickelte jüdische Familiengeschichte erzählt; sie liefert den Kontext für das, was kommt. Für Scham, Schmerz, Verzweiflung, Ohnmacht, für Protest und Wut, etwa wenn einer ukrainischen Verwandten in Deutschland das Chemie-Diplom aberkannt wird. Breygers neuer O-Ton hat alle barockisierenden Manierismen abgelegt, das Verhandelte ist so hart, dass die Sprache in alle Richtungen zu explodieren scheint."

Außerdem: Julia Hubernagel resümiert in der taz einen Berliner Abend mit ukrainischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die über ihr fassungsloses literarisches Schweigen angesichts der Katastrophe in ihrem Heimatland sprachen. In der NZZ schreibt Sergei Gerasimow weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Mia Eidlhuber erzählt im Standard von ihrer Begegnung mit der Schriftstellerin Monika Helfer, die eben ihren neuen (in der FR besprochenen) Roman "Die Jungfrau" veröffentlicht hat.

Besprochen werden unter anderem die Gesamtausgabe von Peter van Dongens Comic "Rampokan" ("ein Meisterwerk", jubelt Ralph Trommer in der taz), Jonathan Coes "Bournville" (FR, Welt), Colson Whiteheads "Die Regeln des Spiels" (SZ) und Maxim Billers "Mama Odessa" (FAZ).
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Kunst

Paul Delvaux, Das Viaduct. © Foundation Paul Delvaux, Koksijde, Belgium / VEGAP - SABAM. Foto: Museo Nacional Thyssen-Bornemysza.


FAZ-Kritiker Paul Ingendaay taucht im Museum Thyssen-Bornemisza in Madrid ab ins "Reich der Schatten, der Ängste, des Aberglaubens und geheimen Wissens". Das Museum hat seine Sammlung auf "Spuren des Okkulten" untersucht und fördert so einige Kuriositäten zu Tage, so der angenehm gegruselte Kritiker. So erscheint Edvard Munchs Ölgemälde "Abend" von 1888 noch viel unheimlicher, wenn man per Röntgenverfahren die zweite Frauenfigur entdeckt, die vom Künstler später wieder übermalt wurde, erfahren wir. Sensationell ist vor allem eine Entdeckung, die man in José de Riberas berühmter Pietà von 1633 machen kann. Man sieht sie aber nur, wenn man ganz nah an das Bild herangeht, verrät der Kritiker, dann blickt es nämlich zurück: "Tatsächlich, ein Auge, gleich unterhalb des linken Oberarms Christi; eher kein wohlwollendes, sondern ein kritisches, vielleicht sogar wütendes Auge. Kunstvoll simulieren die Falten des Leichentuchs den Ausschnitt eines Gesichts. Sollen wir darin das Auge des Malers sehen? Oder das Auge Gottes, das aus dem Leichentuch heraus auf das Leiden seines Sohnes schaut? Und was, wenn es sich um den Blick des Bösen handelte - welches nach alter christlicher Auffassung niemals schläft, sondern stets wachsam die Augen offen hält? Wie es sich für eine Ausstellung über das Okkulte und Geheime gehört, werden unsere Fragen an die Kunst nicht weniger, sondern mehr."

Besprochen wird außerdem die Ausstellung "Plastic World" in der Schirn Kunsthalle Frankfurt (SZ) (unser Resümee).
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Bühne

Weitere Artikel: Welt-Kritiker Manuel Brug bespricht die Höhepunkte vom "Tanz im August"-Festival. Nachtkritikerin Valerie Heintges resümiert den Auftakt des Zürcher Theater-Spektakels. Die Dokutheatergruppe "Das letzte Kleinod" bespielte den für den Abriss bestimmten "Columbus-Bahnhof" in Bremerhaven mit drei Abschiedsstücken. Jetzt gibt es Pläne für eine Instandhaltung, freut sich Jens Fischer in der taz.

Besprochen werden Philipp Preuss' Inszenierung von Euripides Drama "Die Bakchen" im Theater an der Ruhr in Mühlheim (SZ) und Stefan Kaegis Langzeitperformance "Shared Landscapes" bei Grünheide (SZ, taz).
Archiv: Bühne

Architektur



Bureau N und Something Fantastic, ICCC - International Center for Contemporary Culture, 2014-2023
© Bureau N / Something Fantastic 

Interessant, dass sich Berlin gerade jetzt wieder für die "brutalistischen Betonriesen" interessiert, meint Welt-Kritiker Alexander Gutzmer, die die Stadt in den siebziger Jahren "ins Rampenlicht globaler Architekturentwicklungen rücken sollten". In den letzten Jahren hörte man kaum Positives über Bauten wie den "Mäusebunker", das ehemalige Tierversuchslabor der FU, oder das ICC in Charlottenburg. Die Ausstellung "Suddenly wonderful" in der Berlinischen Galerie zeigt, dass sich das nun ändert: "Jedenfalls kommt Schwung in die Sache. Zum Mäusebunker lief gerade ein Modellverfahren. Auch das ICC triggert momentan die Kreativität. Für eine primär kulturelle Nutzung macht sich das Projektbüro 'Something Fantastic' stark. Ihnen schwebt dort ein 'International Center for Contemporary Culture' (ICCC) vor, ein neuer Experimentierort für Berlins Kunstszene. Hier käme die Stärke der Architektur des Gebäudes zum Tragen: Diese bietet mit ihren vielfältigen Ecken, Kanten und Techno-Elementen Anknüpfungspunkte für spannende raumbezogene Kunstprojekte. Parallel dazu möchte der Architekturpublizist Niklas Maak das Ganze mit einer Serverfarm anreichern. Seine Idee: Die anonyme Welt der Daten in ein physisch verortetes, der Allgemeinheit zugängliches Gut verwandeln. Ziel wäre eine berlinweit nutzbare Infrastruktur im Digitalzeitalter, deren Wärmeausstoß in den Energiehaushalt des Gebäudes einfließen könnte."
Archiv: Architektur
Stichwörter: Brutalismus, Mäusebunker, ICC, Techno