Efeu - Die Kulturrundschau

Kern des Menschseins

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05.08.2023. Rumänien geht den Bach runter, erzählt der rumänische Autorenfilmer Radu Jude in der NZZ. Dem israelischen Schriftsteller Eshkol Nevo wird es auf den Demonstrationen gegen die rechte Regierung seines Landes mulmig zumute: Impuls seiner Arbeit ist doch gerade die Empathie. Das Thema Migration bestimmt den literarischen Herbst, stellt die Literarische Welt fest. Die FAZ erfährt von Thomas von Steinaecker, wie er in den Comics von Chris Ware der Zeit beim Vergehen zusieht und entdeckt mit "healthy building" einen neuen Bautrend. Die FAS erkennt in der Ausstellung "Everybody talks about the weather", dass Monet den Klimawandel malte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.08.2023 finden Sie hier

Literatur

Der israelische Schriftsteller Eshkol Nevo leidet an dem Paradox, bei Reden auf Demonstrationen gegen die ultrarechte Regierung seines Landes in Parolen denken und handeln zu müssen, während eigentlich sein "schriftstellerischer Grundimpuls die Identifikation ist", wie er in der FAZ schreibt: "Während des Schreibens muss ich in die Schuhe meiner Figuren schlüpfen. ... Dieser Drang zur Identifikation ist bei mir fundamental und dermaßen zügellos, dass ich mich in den vergangenen, absolut polarisierenden Monaten erstaunlicherweise sogar mit rechten Likudwählern identifiziert habe, was ich doch eigentlich lieber vermeiden sollte. ... Die Seele widersetzt sich dichotomischen Aufteilungen. Die Seele widersetzt sich der Eindeutigkeit. Manchmal, wenn ich eine Rede halte, spüre ich, dass sie sich von meinem Körper löst, mir von der Seite her zuschaut und meine übertriebenen Handbewegungen, die Ausrufezeichen am Ende eines jeden Satzes spöttisch belächelt."

Das Thema Migration hat Konjunktur in der Literatur, stellt Mladen Gladic in der Literarischen Welt nicht nur mit Blick auf große Auszeichnungen der jüngsten Jahre, sondern auch mit Blick aufs literarische Herbstprogramm fest, wenn in großen Publikumsverlagen neue Romane von Necati Öziri, Tijan Sila, Deniz Utlu und Amir Gudarzi erscheinen. Silas Roman "Radio Sarajevo" über die Erfahrungen aus dem jugoslawischen Bürgerkrieg etwa "gehört zu jenen, die ein Land braucht, in dem Erfahrungen, kollektive, familiäre und persönliche, sich immer weniger in nur einem historischen und kulturellen Leben bewegen. So wird sein schmales Buch, gegen den Strich vulgärer 'Identitätspolitik', Teil der 'multidirektionalen Erinnerung' des Einwanderungslandes Deutschland: zum Reservoir von Erfahrung einer Gesellschaft, deren Reichtum an guten und schlechten Erfahrungen aus vielen Quellen schöpft."

In der NZZ erzählt Ulrich M. Schmid, wie es zwischen Alexander Solschenizyn und Warlam Schalamow über die literarische Aufarbeitung der Geschichte der Gulags zum Bruch kam. Solschenizyn wollte Schalamow für den "Archipel Gulag" gewinnen, Schalamow lehnte ab: "Aus seiner Sicht war die Lagererfahrung absolut negativ und durfte auf keinen Fall ästhetisiert werden. (…) Schalamow fällte 1971 ein vernichtendes Urteil über Solschenizyn - ein unausgesprochener Neid auf den Literaturnobelpreis mag hier auch seinen Einfluss gehabt haben: 'Solschenizyns Tätigkeit ist die Tätigkeit eines Geschäftemachers, die eng auf den persönlichen Erfolg ausgerichtet ist - mit allen provozierenden Accessoires einer solchen Tätigkeit.'"

In "Bilder und Zeiten" der FAZ verneigt sich der Schriftsteller Thomas von Steinaecker vor dem Comic-Meister Chris Ware: "Es gibt wenige Künstler, die das Vergehen der Zeit derart virtuos erfahrbar machen. ... Bei allen formalen Experimenten und handwerklicher Meisterschaft ist es in Wares Büchern das, was mich immer wieder ergreift und sie für mich in eine Reihe mit den großen Werken des Erzählens setzt, seien es nun Tolstois 'Krieg und Frieden' oder Joyce' 'Ulysses'. Sie dringen (Achtung, Pathos!) zum Kern des Menschseins vor."

Weitere Artikel: Der aus der Türkei stammende, seit den Sechzigern in Berlin lebende Dichter Aras Ören erinnert sich in einer von der FAZ dokumentierten Rede an die goldene Westberliner Zeit, als im Literaturcolloquium Berlin Aufbruchstimmung herrschte und er zugleich den neuen Internationalismus unter den Gastarbeitern entdeckte, deren Fürsprecher Ören wurde: Für die Gegenwart wünscht er sich "mehr soziale und kulturelle Begegnung wagen, mehr ernst gemeinte Integration". Joseph Hanimann porträtiert für "Bilder und Zeiten" der FAZ die Pariser Verlegerin Claire Paulhan, die sich darauf spezialisiert hat, in Archiven auf wiederzuentdeckende Autoren zu stoßen. Susanne Messmer geht für die taz mit der Naturautorin Nancy Campbell im Berliner Viktoriapark spazieren. Leander Steinkopf plädiert in einem taz-Essay für mehr Mut zum Kürzen bei langen Wälzern: "Die Überlänge vieler Bücher ist die Hauptquelle meiner Lesefrustration." Martin Walser hat dem Literaturarchiv Marbach einen nahezu lückenlosen Nachlass zum Nachvollzug seines Lebens überlassen, erzählt Archivleiterin Sandra Richter im Gespräch mit Mara Delius in der Literarischen Welt. Die Schrifstellerin Dana Vowinckel erzählt in der Literarischen Welt von ihrem Verwandtenbesuch in Israel. Paul Ingendaay schwärmt in der FAZ vom literarischen Kastilien.

Besprochen werden unter anderem Emily St. John Mandels "Das Meer der endlosen Ruhe" (FR), Dovid Bergelsons Erzählband "Die Welt möge Zeuge sein" (NZZ), Ulrike Sterblichs "Drifter" (Standard), Graham Nortons Krimi "Der Schwimmer" (taz), Jem Calders Erzählband "Belohnungssystem" (taz), Hilary Mantels "Sprechen lernen" (Literarische Welt), Iris Murdochs "Die Souveränität des Guten" (SZ), Yevgeniy Breygers Gedichtband "Frieden ohne Krieg" (SZ) und Giuliano da Empolis Putin-Roman "Der Magier im Kreml" (FAZ).

Die SZ bringt ein Gedicht von Albert Ostermaier zum WM-Aus der deutschen Fußballnationalmannschaft:

"denk ich an deutschland
auf dem platz herrscht
tiefste nacht die eintracht
heisst jetzt niederlage..."
Archiv: Literatur

Kunst

Exhibition view of "Everybody Talks About the Weather", Fondazione Prada, Venice, Ph. Marco Cappelletti

So hat FAS-Kritikerin Karen Krüger Monets berühmtes Werk "Impressionen, Sonnenaufgang" noch nie gesehen. Die Ausstellung "Everybody Talks About the Weather" in der Fondazione Prada in Venedig zeigt quer durch die Kunstgeschichte, wie Künstler das Wetter malten. Das hat allerdings einen sehr aktuellen Hintergrund, so die Kritikerin. So erscheint beispielsweise das berühmte dunstig-blaue Morgenlicht im Monet-Gemälde hier gar nicht mehr so idyllisch: Die angebrachten Info-Tafeln interpretieren den Dunst als erste Anzeichen von industrieller Verschmutzung und Beginn des Klimawandels. Auch mit zeitgenössischen Werken soll mehr Aufmerksamkeit für das Thema geschaffen werden: "Von unschuldiger Schönheit scheint...der Wandteppich "Kinked Rain/ Gold" (2022) von Pae White zu sein, der aus Wolken Regen in Form goldener Fäden niedergehen lässt. Er ist ein wiederkehrendes Elementen in Whites Arbeiten, genauso wie Rauch. Als Kalifornierin kennt sie die Zerstörungskraft von Hitzewellen und Feuer - und die lebensrettende Bedeutung von Wolkenbrüchen, die, das ist in diesen Tagen oft zu hören, mit zunehmender Erwärmung an Intensität gewinnen werden. Ein Wolke am Himmel kann einfach nur das Objekt einer ästhetischen Betrachtung sein, an dem man sich erfreut - oder eben als ein Hinweis auf die menschengemachte Klimakatastrophe gelesen werden."

Weitere Artikel: Dakar ist das neue "Mekka für Street-Art und Graffiti", entdeckt Jonathan Fischer für die SZ. Neben ihrem künstlerischen Wert, haben die Werke auch eine wichtige soziale und politische Funktion, so Fischer. Zu ihrem dreihundertjährigen Jubiläum hat die Ernst von Siemens Kunststiftung der Schatzkammer des Grünen Gewölbes in Dresden ein prächtiges Präsent überreicht, weiß Stefan Trinks in der FAZ: "ein Prunkschach aus Elfenbein, Ebenholz, Schildpatt und Silber aus der Zeit des Museumsgründers, August des Starken".

Besprochen wird die Ausstellung "Künstler, Kollegen, Sammler - Carl Blechen und die Fricks" im Schloss Branitz (FAZ).
Archiv: Kunst

Bühne

Sabine Seifert berichtet für die taz von der Problematik, mit der sich die Karl-May-Szene konfrontiert sieht: Stereotype Darstellungen und Diskussionen um kulturelle Aneignung werfen viele Fragen auf. Ein Anfang ist gemacht, findet Seifert: "Fragen stellen, sich beraten lassen. Das heißt aber, dem Rat auch zu folgen. Fronten und Empfindlichkeiten klären. Das Karl-May-Museum und die kleinste der Karl-May-Bühnen haben Bereitschaft signalisiert. Aber reicht die Bereitschaft, Karl May zu entrümpeln, um seine Geschichten mit Respekt für das Schicksal der First Nations auf die Bühne und unter die Leute zu bringen?"
Archiv: Bühne

Architektur

"Nachhaltigkeit" ist out, "healthy building" ist in, schreibt Ulf Meyer in der FAZ. Nach dem Prinzip des "gesunden Wohnens" hat der niederländische Architekt, Ben van Berkel jetzt die neue Zentrale des Reiseunternehmens booking.com in Amsterdam errichtet. Von außen kommt das Gebäude nicht so hip daher, wie frühere Entwürfe des Architekten, lesen wir. Hier hat er einen "kristallinen Bau entworfen; es waren die Spiegelungen auf dem Wasser und der Welleneffekt, die ihn zu den dreieckigen Fensterproportionen inspirierten. Diese vergleichsweise unmodische Ästhetik verheißt eine gewisse Langlebigkeit." Vor allem im Innern zeigt sich aber, was den neuen Trend ausmacht: "Es gibt viel Tageslicht, die Interieurs sind in haptisch und visuell ansprechenden Materialien ausgeführt. Vom Foyer fällt der Blick zunächst auf üppig begrünte Terrassen und Wände. Die dichte Bepflanzung trägt dazu bei, die Luft zu filtern und Geräusche zu dämpfen. Wie nachhaltig das ist, was grün aussieht, steht allerdings dahin. Durch das weitläufige Terrassen-Atrium hindurch führt eine elegante Brücke, deren Eichenholzverkleidung zu den Fußböden und breiten Sitztreppen am Eingang passt. Die Glaswände sind schräg gestellt, um durch das Fehlen paralleler Wände eine gute Raumakustik zu fördern.
Archiv: Architektur

Musik

Der Nachrichtenwert, dass mit Nathalie Stutzmann in Bayreuth neben Oksana Lyniv nun auch eine zweite Frau dirigiert, nutzt sich schnell ab, findet Florian Zinnecker in der Zeit: "Dazu ist das, was Nathalie Stutzmann da macht, viel zu klug, zu interessant und - ganz buchstäblich - zu spannend." Carolina Schwarz ist in der taz schwer enttäuscht von Lizzo, der ehemalige Tänzerinnen schwere Vorwürfe machen und die darauf mit einem sehr abbügelnden Statement auf Instagram reagiert hat. Louisa Zimmer führt in einer taz-Reportage durch die Stockholmer Popszene, die in den letzten Jahren aufgeblüht ist. Für die FR spricht Klaus Walter mit der Popjournalistin und Musikerin Kethy Grether unter anderem über Groupietum. In der Welt erinnert Manuel Brug an den vor 400 Jahren geborenen Opernkomponisten Pietro Antonio Cesti. Christoph Wagner porträtiert für die NZZ das Berliner Jazzprojekt Dell-Lillinger-Westergaard.



Besprochen werden ein Auftritt von Nik Bärtsch in Frankfurt (FR), ein neues Album von Militarie Gun (FR) und ein Wiesbadener Konzert der Geigerin Julia Fischer mit dem European Union Youth Orchestra (FR).
Archiv: Musik

Film

Andreas Scheiner spricht in der NZZ anlässlich des Filmfestivals in Locarno mit dem rumänischen Autorenfilmer Radu Jude über die Lage in dessen Heimat, die er in jeder Hinsicht als desolat bezeichnet: "Romania is fucked", heißt es in Judes neuem Film an einer Stelle. "Die Hoffnung in all den Jahren nach dem Ende der kommunistischen Diktatur, dass die Einführung der freien Marktwirtschaft automatisch zu Verbesserungen in allen Bereichen des Lebens führen würde, hat sich als nicht ganz so berechtigt herausgestellt. ... Vieles rührt noch von der kommunistischen Diktatur her und einiges sogar noch von der Diktatur davor. Und dann ist da diese toxische Mischung aus schlechter Politik und Korruption in der Verwaltung. Dazu Auswüchse in der Privatwirtschaft, die nicht gesetzlich im Zaum gehalten wird. Oder selbst wenn es die Gesetze gibt, werden sie nicht angewandt. Es gibt auch kaum noch eine freie Presse."

Außerdem: In den "Barbenheimer"-Diskussionen sollten sich beide Fraktionen die Hand geben, findet Jenni Zylka in der taz: Immerhin seien "beides gute Filme".  Valerie Dirk blickt für den Standard auf die Biopics der kommenden Saison. Kurt Sagatz besucht für den Tagesspiegel die Dreharbeiten der Serie "Public Affairs" - wahrscheinlich die letzte Serie, die Sky in Deutschland produzieren wird. Besprochen werden der neue "Teenage Mutant Ninja Turtels"-Film (FAZ) und die ARD-Serie "37 Sekunden" (FAZ).
Archiv: Film