Efeu - Die Kulturrundschau

Ein gewisses Augen-Make-up als Standard

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03.06.2021. Der Observer bewundert frustiert die Formen der Bildhauerin Barbara Hepworth. Die Zeit unterhält sich mit Kara Walker über politische Kunst. Und Clemens J. Setz erzählt vom spannendsten intellektuellen Slapstickmoment seines bisherigen Lebens. Die Welt feiert Barry Jenkins' Serie "Underground Railroad". Die taz bewundert die rüstungshafte Schönheit Angelina Jolies als Feuerwehrfrau. Im Standard versetzt Rene Pollesch ein Brecht-Stück in ein Hollywoodmusical von 1938.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.06.2021 finden Sie hier

Kunst

Barbara Hepworth, Two Forms with White (Greek), 1963. Barbara Hepworth © Bowness. Wakefield Permanent Art Collection (The Hepworth Wakefield) 


In der Nähe von Leeds hat eine Ausstellung zu einer großen Künstlerin des 20. Jahrhunderts eröffnet: Barbara Hepworth. Im Observer ist Rachel Cooke hin- und hergerissen. Sie ist tief beeindruckt von Hepworth' Leben und Arbeit, aber die Ausstellung ist ihr zu hagiografisch und überladen: "Hepworth war bekanntlich ein sehr taktiler Mensch. Selbst wenn sie nicht arbeitete, hatte sie immer etwas in der Hand: einen Kieselstein, eine Muschel. Werkzeuge, so betonte sie, seien 'kostbare Erweiterungen des Sehvermögens und des Tastsinns'. Jene Skulpturen, die aus exotischen Harthölzern geschnitzt und auf Hochglanz poliert sind - 'Curved Form' (Oracle) (1960) ähnelt einer riesigen, fremdartigen Samenkapsel -, rufen danach, gestreichelt zu werden, und weil das zwangsläufig verboten ist, gehört die Frustration beim Betrachten dazu (wie die Fingerspitzen kribbeln, bedauernd). Ebenso liegt die Spannung eines Werks wie 'Spring' (1966), einem ausgehöhlten Ovoid, das wie ein Instrument gespannt ist, nicht so sehr im Kontrast zwischen Kurve und Linie, Festigkeit und Raum, sondern in der Tatsache, dass das, was sicherlich summen und vibrieren sollte, so entschlossen still ist. Hepworth war besorgt, dass ihre Skulpturen, wenn sie zu groß würden, in bloße Dekoration kippen würden, alles nur Effekt und keine Bedeutung. Aber wann erschüttert ihr Werk jemals? Ihre schiere, verbissene Geschmackssicherheit macht es leicht, sie zu mögen, aber schwer, sie zu lieben." (Grace Cobb hat ein sehr schönes Foto von Hepworth auf Instagram gepostet: hier)

Kara Walker, Untitled, 1996-97. Private Archive Kara Walker © Kara Walker
Im Interview mit der Zeit spricht die amerikanische Künstlerin Kara Walker, deren Ausstellung im Kunstmuseum Basel am Samstag eröffnet, über politische schwarze Kunst, Kunst, die nur für Schwarze sichtbar ist, Dana Schutz und Political Correctness. Zu letzterer meint sie: "Die Kunst von Goya, von George Grosz und von Otto Dix, die ich bewundere, ist direkt. Diese Künstler zeigten, was sie sahen. Da gibt es selbstverständlich auch Stilisierungen, da gibt es eine latent perverse Lust, eine Radierung genau so zu machen, wie man die Welt gerade erlebt: den Krieg zu zeigen, das Blut, die Gedärme, die Selbstmorde, die Opportunisten, die Opfer. Es gibt nicht die eine Political Correctness."

Außerdem: In der taz schreibt Robert Miessner zum Tod des Klangkünstlers Bob Rutman. Besprochen werden eine Ausstellung des Künstlers Anton Steenbock, der in der Berliner Weserhalle die sogenannten "Art Flats" aufs Korn nimmt (taz), die Ausstellung "Send me an image" im c/o Berlin (Tsp) und die Claudia-Skoda-Ausstellung "Dressed to thrill" im Berliner Kulturforum (Tsp).
Archiv: Kunst

Literatur

In der Zeit versucht Clemens J. Setz die Tatsache zu verdauen, dass die amerikanische Regierung offiziell die Existenz von Ufos zugegeben hat (mehr hier): "Es ist der spannendste intellektuelle Slapstickmoment meines bisherigen Lebens. Emblematisch dafür erscheint mir der bekannte Philosoph Sam Harris, der sich im Podcast-Interview mit Lex Fridman vor einigen Tagen ausgiebig darüber wunderte, dass er sich nicht wundert. Von offizieller Seite zu erfahren, dass es Fluggeräte gibt, die täglich in unseren Luftraum eindringen und von denen wir nicht im Geringsten sagen können, was sie sind und woher sie kommen, das sollte uns doch eigentlich zu denken geben, so Harris. Aber er wisse leider auch nicht, was er mit der Information wirklich anfangen solle. Es ist logischerweise eine der bedeutsamsten Offenbarungen der jüngeren Geschichte. Und zugleich eine totale Non-Information. Als man noch Verschwörungstheoretiker sein musste, um es zu glauben, war alles schön und gut. Aber jetzt, wo man die Tatsache auch in der Schule lernen könnte, ja, was jetzt?" Jens Jessen möchte sofort zur Dekolonialisierung der Ufos schreiten.

Einen Lesekanon zusammenstellen - das war früher schon schwierig, es wäre heute ein Ding der Unmöglichkeit, glaubt Thomas Ribi in der NZZ. Der Grund: Viel zu viele partikulare Forderungen würden den Entscheidungsprozess überformen. "Ansprüche von Minderheiten nach Repräsentation und Anerkennung und der Druck tagespolitischer Postulate würden es kaum mehr zulassen, dass man sich der Frage stellt, um die es eigentlich gehen sollte: An welchen Texten lässt sich zeigen, wie Literatur menschliche Grunderfahrungen reflektieren kann. ... Dass es Texte geben könnte, die unabhängig davon, wer sie wann geschrieben hat, exemplarisch sind für das, was Menschen erleben und erleiden, was sie in Hochstimmung versetzt und was sie zerstört, was ihnen Hoffnung gibt und was sie verzweifeln lässt, wozu sie fähig sind und was sie am Leben hält: Das hat eine Zeit aus dem Blick verloren, die Menschen nicht mehr als Menschen sehen will, sondern nur noch als Vertreter von Gruppen wahrnehmen kann."

Weiteres: Felix Stephans vor wenigen Tagen in der SZ veröffentlichte Einschätzung, dass die deutsche Gegenwartsliteratur das Mitläufertum in der DDR zu wenig thematisiere (hier unser Resümee), hält der Schriftsteller Gregor Sander im Dlf Kultur für "kleingeistig und provinziell". In der Dante-Reihe der FAZ stößt Tilman Spreckelsen auf Dantes Ergriffenheiten.

Besprochen werden unter anderem Dieter Henrichs philosophische Autobiografie "Ins Denken ziehen" (taz), Christina von Brauns Autobiografie "Geschlecht" (Tagesspiegel), Monika Marons Essaysammlung "Was ist eigentlich los?" (Zeit), Malte Herwigs Biografie "Der grosse Kalanag" (NZZ) und eine Münchner Ausstellung zum Thema "60 Jahre Marvel-Comics" (Tagesspiegel).
Archiv: Literatur

Film

Kompromisslos erzählt: "The Underground Railroad" auf Amazon

Serien haben ihren Zenit überschritten? Von wegen, meint Peter Huth in der Welt, nachdem er auf Amazon Barry Jenkins' "Underground Railroad" nach dem gleichnamigen Roman von Colson Whitehead gesehen hat. Diese Serie hebt "das Genre auf ein neues Niveau. Das hat es lange nicht mehr gegeben, vielleicht sogar zuletzt bei 'The Wire' und 'The Sopranos'. ... Die Kompromisslosigkeit, mit der Jenkins erzählt, einerseits fast dokumentarisch-realistisch, dann in weiten Teilen surreal, bizarr, definiert eine neue Liga. Weil die Sklavenhalter-Barbarei der in der Anlage damals schon modernen und freiheitlichen Gesellschaft Nordamerikas die Keimzelle der heutigen Spaltung der USA ist, ist 'The Underground Railroad' eine der wenigen wirklich relevanten TV-Serien."

Schönheit als Rüstung: Angelina Jolie

Die vielen Filme, die in den letzten Monaten pandemiebedingt abgesoffen sind, wird man eines Tages wohl als "verlorene Filme" bezeichnen, mutmaßt Barbara Schweizerhof in der taz. Den Actionthriller "They Want Me Dead" mit Angelina Jolie als Feuerwehrfrau möchte die Kritikerin aus dieser Masse aber unbedingt herausholen, schon alleine, weil das auch ein toller Schauspielfilm ist und Regisseur Taylor Sheridan bei aller Action sein Ensemble immer genau in Beziehung zueinander setzt. "Zwar gelingt es Jolie nicht, wie etwa Kate Winslet aktuell in der Serie 'Mare of Easttown', ihren Star-Glamour unter schlecht gefärbten Haaren und Ungeschminkt-Maske völlig verschwinden zu lassen. Ihrer Feuerwehrfrau eignet ein entschieden nicht-hinterwäldnerischer Glanz, der auch im fernen Feuerbeobachtungsturm noch ein gewisses Augen-Make-up als Standard sieht. Aber die Unwilligkeit, sich völlig 'ohne' zu zeigen, lässt zugleich die besondere Stärke von Jolie erstrahlen: Sie war schon immer großartig darin, das Rüstungshafte ihrer Schönheit auszustellen, um dahinter Verletzlichkeit und Verwundbarkeit sichtbar werden zu lassen."

Besprochen werden die DVD von "Mad Love in New York" der Safdie Brothers (taz), die Neuauflage der Nineties-Serie "Master of None" (ZeitOnline) und die Disney-Komödie "Cruella" mit Emma Stone (taz).
Archiv: Film

Bühne

Im Interview mit dem Standard spricht Rene Pollesch über sein neues Stück "Die Gewehre der Frau Kathrin Angerer", das am Samstag im Theater an der Wien Premiere hat. Der Abend setzt sich mit dem mit dem Produktionsprozess eines Stücks auseinander, "das einmal das meistgespielte von Brecht war, was man heute nicht denken würde", erzählt Pollesch. "'Die Gewehre der Frau Carrar' hieß erst 'Generäle über Bilbao'. Wir behaupten einfach, dass Hollywood 1938 eine Filmfassung vorhatte. Unser Set ist ein Filmstudio mit einem sogenannten Spinning Room, aus einem Musical, in dem Fred Astaire an der Decke tanzt. Wir beziehen uns auf den Spanischen Bürgerkrieg, von dem Brecht 1937 den Ausgang ja noch nicht kannte, und behaupten, dass Brechts Problem eine Nähe hat zu einer Entscheidung, die 1938 getroffen wurde: dass das Wrestling nicht mehr als Sportart galt, sondern als Show, als Fake, weil man herausfand, dass der Ausgang nicht offen war, sondern geschrieben. Da ziehen wir Parallelen zwischen Brechts Produktionsprozess und dem Wrestling."

Nachtkritiker Michael Bartsch beobachtete am Staatsschauspiel Dresden die von Rimini Protokoll veranstaltete "Konferenz der Abwesenden" und lernt: "Diese Konferenz der Abwesenden ist nichts anderes als eine transformierte Erzählwerkstatt, wie sie vor 30 Jahren in Mode kamen. Neun Menschen, offenbar von den Riminis recherchierte real existierende Personen aus aller Welt, berichten von sich. Zur Abwesenheit verurteilt, lassen sie sich aber von den Premierengästen vor Ort vertreten und sparen so etliche Kilotonnen Kohlendioxid im Flugzeug. Manchmal wird mit dem metaphorischen Zaunpfahl gewinkt, wenn es beispielsweise um Löcher geht: das diamantenschürfende in Mirny/Jakutien etwa oder die Schwarzen Löcher des Universums bei einem Physiker, der sehr an den nervengelähmten Steven Hawking erinnert." Gelangweilt hat sich Bartsch nicht, aber man hätte die Sache noch vertiefen können, findet er.

Weiteres: Im Interview mit der taz erklärt Dietrich Kruse, Interimsleiter der Staatlichen Ballettschule in Berlin, wie er sich die Zukunft der Schule vorstellt. Die nachtkritik zeigt noch heute bis 18 Uhr Maria Ursprungs Stück "Schleifpunkt", das Olivier Keller als Koproduktion vierer Schweizer Theater inszeniert hat.
Archiv: Bühne

Musik

Jens Balzer hat sich für ZeitOnline zum epischen Plausch mit Daniel Miller und Gareth Jones getroffen, die einst das legendäre Label Mute Records gründeten und jetzt ein mit technologisch an sich obsoleten Modularsynthesizern aufgenommenes Album veröffentlicht haben. Auf solchen Instrumenten Musik zu spielen hat gegenüber digitalen Geräten erhebliche Vorzüge, schwärmt Jones: "Es ist spontan und flüchtig! Anders als mit digitalen Geräten kann man mit Modularsynthesizern keine Sounds speichern, das heißt, es ist schwer, etwas zu wiederholen, was man vorher gemacht hat. ... Das verschafft einem beim Musizieren einen enormen Fokus." Und dass es keine downloadbare Presets gibt, die Sounds vorab definieren und die man sich nur noch zusammen kuratieren muss, findet auch Miller großartig, denn "Presets betäuben das Bewusstsein." Wir hören rein:



Außerdem: Robert Jungwirth erinnert in der NZZ daran, wie Arnold Schönberg im Juni 1921 von Antisemiten aus Salzburg vertrieben wurde. Besprochen wird Till Lindemanns zum Weltkindertag veröffentlichte Single "Ich hasse Kinder" (Im dazugehörigen Video führe "die affirmative Brachiallyrik immerhin zumindest filmisch zu einem verdienten Ende des Autoren-Ichs und Ungustls", beruhigt uns Christian Schachinger im Standard),
Archiv: Musik