Efeu - Die Kulturrundschau

Unheimliches Rad aus Brie

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17.07.2018. Die London Review lernt mit Chagall, was Farbe ist. Der schwedische Alternativ-Literaturnobelpreis könnte entweder an  Don DeLillo oder an J. K. Rowling gehen, meldet die NZZ. Die SZ feiert Erroll Garners "Nightconcert" von 1964. Der Freitag unterhält sich mit Angela Haardt über Frauenquoten im Film. Die Welt trauert um die Rockmusik, die in Bedeutungslosigkeit versinkt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.07.2018 finden Sie hier

Kunst

Marc Chagall, Paris through the Window (Paris par la fenêtre), 1913. Solomon R. Guggenheim Museum, New York, Solomon R. Guggenheim Founding © Marc Chagall, Vegap, Bilbao 2018


John-Paul Stonard lernt in der Chagall-Ausstellung über dessen "Durchbruchsjahre 1911-19" im Guggenheim Bilbao, wie Chagall die Farbe entdeckte - erst in den Kursen von Leon Bakst und dann in Paris: "Nichts symbolisierte die Befreiung mehr als die 'freie' helle Farbe der Pariser Malerei", schreibt Stonard in der London Review of Books. "Chagall reiste im Mai 1911 nach Paris und lebte schließlich in einem Atelier in La Ruche ('der Bienenstock'), einer verfallenen, kreisförmigen Einrichtung, die in keilförmige Ateliers für Künstler und Schriftsteller, Ehefrauen und Liebhaber unterteilt war und von dem Bildhauer Ossip Zadkine als "unheimliches Rad aus Brie" beschrieben wurde. Chagall fängt seine böhmische Atmosphäre in seinen Memoiren ein: 'Während ein beleidigtes Model in den russischen Ateliers schluchzte, die italienischen Studios mit Liedern und Gitarrenklängen liefen, die jüdischen mit Diskussionen, war ich allein in meinem Studio vor meiner Öllampe. Ein Atelier voller Bilder, mit Leinwänden, die nicht wirklich Leinwände waren, aber meine Tischdecken, Laken und Nachthemden in Stücke gerissen.' Er malt nackt und schneidet einen Hering in zwei Teile, wobei er den oberen Teil für den nächsten Tag reserviert. Vielleicht erinnerte ihn das an seinen Vater, einen Heringshändler; jedenfalls war er noch halb in Russland."

Weiteres: Ursula Seibold-Bultmann besucht für die NZZ den Skulpturengarten von Tremenheere in Cornwall.

Besprochen werden eine Ausstellung des belgischen Videokünstlers David Claerbout im Kunsthaus Bregenz ("Man sieht 'wirkliche Zeit in unwirklicher Umgebung vergehen'", verspricht der Künstler im Standard), die Delacroix-Ausstellung im Louvre (Tagesspiegel) und eine Ausstellung mit Bildern der "Provence-Periode" von Nicolas de Staël in Aix-en-Provence (FAZ).
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Literatur

In der NZZ liefert Aldo Keel Informationen zum Alternativen Nobelpreis, den die schwedische Journalistin Alexandra Pascalidou nach den Eskapaden an der Schwedischen Akademie mit der Gründung einer Neuen Akademie ins Leben gerufen hat: 126 Mitglieder zählt diese Akademie, darunter "Architekten, Designer, Event-Manager, Digitalstrategen, Rapper, Punker, eine Psychiaterin, ein Evangelist sowie Schriftsteller wie Björn Ranelid und Maria Sveland. ... In einer ersten Runde nominierten Schwedens Bibliothekare ihre Favoriten. Von den 46 Nominierten stammen 20 aus der angelsächsischen Welt, 12 aus Schweden. Don DeLillo steht neben J. K. Rowling." Auf der Website der Neuen Akademie kann man sich an der Abstimmung im übrigen beteiligen, die Endauswahl nimmt die Jury vor.

Besprochen werden Guadalupe Nettels "Nach dem Winter" (SZ), Maxim Ossipows "Nach der Ewigkeit" (NZZ), Simon Schwartz' Comic "Ikon" über die Ermordung der Romanows (Standard), James Rayburns Thriller "Fake" (Standard), Taiyō Matsumotos Manga "Tekkon Kinkreet" (Tagesspiegel), Gerhard Henschels und Gerhard Kromschröders "Laubengänge. Auf den Spuren von Wilhelm Busch durchs Weserbergland zum Harz" (taz) und Matthias Senkels "Dunkle Zahlen" (FAZ).
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Film

Spiegel online übersetzt eine Rede Bernard-Henri Lévys über Claude Lanzmann, in der Lévy auch Lanzmanns faszinierende Widersprüchlichkeit anspricht: "Bedenken Sie, dass Lanzmann seine Unterstützung der Befreiung Algeriens nie bereut hat, auch dann nicht, als der junge nordafrikanische Staat sich gegen Israel wandte. Lanzmann, stellen Sie sich das vor, bewunderte Ben Gurion und Menachem Begin, aber bis zum Schluss auch Frantz Fanon, dessen Werk, wie Lanzmann genau wusste, den ärgsten Feinden Israels intellektuelle Munition liefert. Und in welche Verlegenheit brachte Lanzmann all seine antikolonialistischen und fortschrittlichen Freunde, als er mit 'Tsahal' einen Film über die siegreiche israelische Armee machte."

Für den Freitag spricht Matthias Dell mit Angela Haardt über Pro Quote Film und den schon seit den 70ern geführten Kampf darum, dass entscheidende Positionen im Film auch mit Frauen besetzt werden. Früher waren die Frauen mitunter schon weiter, erinnert sich Haardt: Doch "das Interesse der Deutschen verschob sich durch die Vereinigung auf Ost-West im eigenen Land. Da ist auch die Frauenfrage in den Hintergrund gerutscht. Seit 1983 war außerdem Kohl an der Macht, anfangs mit diesem Innenminister Zimmermann, was eine ziemliche Katastrophe war. Das gesellschaftliche Klima änderte sich, die Praxis war schwierig geworden in vielerlei Hinsicht. In den 90er Jahren herrschte eine Euphorie - dass man vom Ende der Geschichte gesprochen hat oder von einem Sieg der westlichen Demokratien. Das war ziemlicher Unsinn."

Weitere Artikel: Anna-Lena Niemann hat für die FAZ die Dreharbeiten zur Serie "Hackerville" besucht. Rainer Nolden schreibt in der nachtkritik zum 100. Geburtstag von Ingmar Bergmann.

Besprochen werden Alireza Khatamis "Los Versos del Olvido " (Tagesspiegel), Lucrecia Martels "Zama" (SZ, unsere Kritik hier) Hans Weingartners Roadmovie "303" (Standard, ZeitOnline) und eine Arte-Doku über Lauren Bacall (FR).
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Bühne

In der NZZ schreibt Martina Wohlthat zum Abschied von Stuttgarts Ballettchef Reid Anderson. In der FAZ glaubt Jürgen Kaube nicht, dass es tatsächlich einen Spielplan für das Tanztheater Wuppertal gab und wirft der entlassenen Intendantin Adolphe Binder vor, sie wäre am liebsten ihre eigene Geschäftsführerin gewesen: "Meine Pläne, geprüft und in letzter Instanz bejaht - durch mich."
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Architektur

Ein Bremer Punkt der Gewoba von LIN Architekten in der Gartenstadt Süd in der Neustadt

Ist serielle Bauproduktion eine Antwort auf den Mangel erschwinglicher Wohnungen? Und ob, meint Robert Kaltenbrunner in der NZZ. Deshalb muss es ja nicht scheußlich aussehen, man braucht nur etwas Fortschrittsoptimismus: "Beispiele dafür gibt es ja. Den 'Bremer Punkt' etwa - so nennen die Berliner LIN Architekten den für die norddeutsche Hansestadt entwickelten Solitär mit einer Grundfläche von 14 × 14 Metern. Er beherbergt bis zu elf Apartments auf vier Geschossen. Die kompakten und flexibel konzipierten Wohnhäuser, deren quadratische Öffnungen für helle Räume sorgen, ergänzen bestehende Siedlungen der 1950/60er Jahre, die sich auf typische Weise in Punkt- und Zeilenmanier ausdehnen. Von diesem Systembau aus vorgefertigten Holzbauelementen entstanden bereits drei Prototypen in der Gartenstadt Süd, weitere folgen an anderer Stelle."
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Musik

Im Jazz purzeln die unentdeckt gebliebenen oder verschollenen Aufnahmen derzeit offenbar von den Bäumen. Nach John Coltranes "Both Directions at Once" dürfen sich Connaisseure jetzt über Erroll Garners am 7. November 1964 im Amsterdamer Concertgebouw gegebenes "Nightconcert" freuen, das nun ans Tageslicht gekommen ist. Dieses Konzert ist wirklich "grandios", gar "brillant" schreibt Andrian Kreye in der SZ: Garnes "Methode war es, in einem unbegleiteten Intro schon einmal um die Harmonien herumzuspielen, ohne viel zu verraten. Da perlen die Kadenzen durch die Akkordwechsel, bis mit dem Einsatz der Rhythmusgruppe das Thema deutlich wird. ... An das genialische Konzert am Pazifik reicht das 'Nightconcert' vielleicht nicht heran. Aber fast. Die innere Euphorie, die Erroll Garner beim Klavierspielen wohl in jedem Moment erfasste, überträgt sich auch jetzt noch." In All About Jazz hält Chris Mosey die Wiederentdeckung des Albums gar "für das Jazz-Pendant zum Dachbodenfund eines Van Gogh oder einer Ming-Vase." Erste Eindrücke bietet dieses Promo-Video:



Preiset das Internet, denn ohne das Internet wäre es Matthias Dell kaum möglich gewesen, herauszubekommen, wer sich hinter dem Stück "History Repeats Itself" auf dem Soundtrack zu Oliver Stones Holzhammer-Mediensatire "Natural Born Killers" verbirgt, das in den 90ern manchen Liebeskummer getröstet hat. Die Künstler-Abkürzung A.O.S. führte seinerzeit kaum zu Ergebnissen, heute jedoch ist bekannt: Dahinter steckt der mittlerweile als Hörspiele-Macher arbeitende Klaus Buhlert, dessen Geschichte Dell für den Freitag aufschreibt. Sie lässt sich - mit Auftritten von Brian Eno, Peter Gabriel und Oliver Stone - kaum bündig zusammenfassen. Und Pynchonites aufgemerkt: Ganz beiläufig erfährt man hier, dass Buhlert derzeit an einer 32 Episoden umfassenden Hörspiel-Adaption von Thomas Pynchons "Enden der Parabel" arbeitet.



Weitere Artikel: Bei Konzerten von Pearl Jam und Alice in Chains trauert Welt-Redakteur Dennis Sand der Rockmusik hinterher, die sich in die Bedeutungslosigkeit verabschiedet hat und den Welt- samt Zeitgeist dem Hip-Hop überantwortet hat. Dafür machen die letzten Giganten des Rock auf der Abfahrt zum Altenteil allerdings nochmal ziemlich gut Kasse: In der SZ-Retrokolumne jedenfalls staunt Max Fellmann, mit was für einer LKW-Ladung an Bonusmaterial Guns N'Roses den geneigten Zuhörer in ihrer Luxus-Neuauflage des Debüts "Appetite for Destruction" beschmeißen: "Die Box ist so bizarr prunkvoll, wie es Guns N'Roses immer sein wollten." Georg Rudiger gratuliert dem Freiburger Barockorchester zum 30-jährigen Bestehen. Besprochen werden Jason Morans Auftritt beim Rheingau-Musikfestival, der Tim Gorbauch (FR) und Wolfgang Sandner (FAZ) gleichermaßen begeistert hat, Alexandros Giovanos' zweistündige Darbietung von Iannis Xenakis' Schlagzeugkompositionen (Tagesspiegel), die Kammerkonzerte, mit denen das Festival "Infektionen" an der Berliner Staatsoper abgeschlossen wurde (Tagesspiegel), Andreas Scholls und Dorothee Oberlingers Auftritt beim Rheingau Festival (FR) und ein Konzert von Earth, Wind and Fire (FR).
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