Efeu - Die Kulturrundschau

Im Angesicht des nahenden Endes

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24.06.2016. An der Volksbühne präsentiert Herbert Fritsch die "Apokalypse" als langen, bösen Witz. Hat sich Michel Houellebecq in die Gemütlichkeit verabschiedet, fragt der Tagesspiegel vor den Fotos des Autors. Nie war der Literaturbetrieb so kommerzialisiert, ruft in der NZZ Leopold Federmair. Die Kunstavantgarden des 20. Jahrhunderts waren nicht Maler, sondern Comic-Künstler, lernen wir in der Frankfurter Schirn.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.06.2016 finden Sie hier

Kunst


Cliff Sterrett, Polly and Her Pals, Detail, Privatsammlung

"Ein Meilenstein" ist die von Alexander Braun kuratierte Ausstellung "Pioniere des Comic: Eine andere Avantgarde" in der Frankfurter Schirn, schwärmt Lars von Törne im Tagesspiegel. : Weil Braun ganz selbstbewusst Comics nicht einfach der Kunst anzudient, sondern ganz im Gegenteil die Avantgarden des 20. Jahrhunderts im frühen Comicstrip als bereits angelegt und vorweggenommen präsentiert. Neben den Comics von Winsor McCay, Lyonel Feininger, Charles Forbell, George Herriman, Frank King sind besonders die Arbeiten von Cliff Sterrett eine Entdeckung für den Rezensenten: "Mit seinen psychedelisch überbordenden Farb- und Formspielen [erscheint er] mit manchen Arbeiten wie ein Wandler zwischen Expressionismus und Surrealismus, dann aber wieder wie ein früher Vertreter der Pop-Art - Jahrzehnte bevor es diesen Begriff gab."

In der Ausstellung hat Sandra Danicke (FR) unterdessen viel Freude an den Arbeiten von Winsor McCay, in dessen Klassiker "Little Nemo in Slumberland" sie auf einen besonders staunenswerten Elefanten stößt: Dieser tritt einem mit "einer formalen Wucht und Dynamik, wie sie mit den Mitteln der Zeichnung auch heute kaum zu übertreffen wären." Und FAZ-Comicexperte Andreas Platthaus (hier sein Comicblog) versichert: "Diese Schau öffnet uns die Augen."

Im Pariser Palais de Tokyo ist unter dem Namen "Rester Vivant" die erste große Fotografieausstellung von Michel Houellebecq zu sehen. In der Welt ist Martina Meister gerührt: "'Rester Vivant' ist ein begehbare Installation, ein mehrdimensionales Werk, dass Zugang zu den Obsessionen Houellebecqs gewährt. Er ist auf sehr besondere Weise Zeuge seiner Zeit, weil bei ihm in der Banalität oder Hässlichkeit der Gegenwart immer die Sehnsucht nach Überwindung durchblinzelt. 'Rester Vivant' ist berührend, bereichernd, komisch und traurig zugleich. Denn Houellebecq ist Romantiker." Die Welt als Misere, typisch Houellebecq, meint Felix Stephan auf ZeitOnline - bis er in einem Raum mit Bildern von Houellebecqs geliebtem Hund und seiner Frau, die er als Utopie des späten Glücks versteht: "Auf der Suche nach Harmonie und Erlösung ist die öffentliche Figur Michel Houellebecq auf die Gemütlichkeit gestoßen. Er hat jetzt eine Ehefrau, ein Häuschen, einen Hund - und er könnte zufriedener nicht sein. Das ist der vorläufige Schlusspunkt, die letzte Wahrheit, das Hautgout einer Schriftstellerkarriere." (Bild: Michel Houellebecq mit seinem Corgi Clément © Michel Houellebecq, Palais de Tokyo)

In der NZZ sieht Jürgen Ritte viel mehr in den Houellebecq-Fotos: "Das wirklich Anarchische und damit Ästhetische ist für Houellebecq das wilde, zwecklose Wuchern der Natur. Sie ist das Gegenmodell zur Hässlichkeit des Funktionalismus in allen Lebensbereichen. Allerdings: die Welt der Ratio kann - notwendig, unfreiwillig? - wieder zur Schönheit des wild Natürlichen finden. Interessant und frappant hier die Gegenüberstellung und morphologische Ähnlichkeit der Nahfotografie einer bunten Bergwiese und der Luftaufnahme von einer nächtlich erleuchteten Megalopole."

Weiteres: Die Künstler Armen Avanessian und Alexander Martos planen im Verlauf der Berlin Biennale einen neuen Geheimdienst zu gründen, verraten sie Jens Balzer im Gespräch für die Berliner Zeitung. In der NZZ erzählt Marc Zitzmann, wie die Pariser Kunstszene auf die Fußballeuropameisterschaft reagiert. Alena Wagnerova besucht für die NZZ eine "grandiose" Ausstellung zu Karl IV. im Wallenstein-Palais in Prag.
Archiv: Kunst

Literatur

Vor einigen Wochen kritisierte der österreichische Autor und Literaturkritiker Leopold Federmair im Blog Begleitschreiben die zunehmende Kommerzialisierung des Literaturbetriebs und kündigte an, keine Literaturkritiken mehr schreiben zu wollen. Heute legt er in der NZZ nach: "Noch nie gab es so viel Kommerz in der Literatur, aber auch noch nie so viele Stipendien, Preise, Stadtschreiberposten, die die kommerziell nicht ganz so Erfolgreichen am Leben erhalten. Das nötigt die Autoren, einen erheblichen Teil ihrer schöpferischen Energie ins Selbstmanagement zu investieren."

Diane Shipley testet für den Guardian die Blinkist, die inzwischen zweite App neben Joosr, die es dem User erlaubt, "Selbsthilfe-Bestseller" und wissenschatliche Texte auf Novellen-Länge zusammengefasst innerhalb von 15 bis 20 Minuten zu lesen und verstehen. Anfangs steht sie der App aus Berlin noch kritisch gegenüber, doch nachdem sie sich mit Hilfe von Blinkist durch die Kurzversion von "Eine kurze Geschichte der Zeit" gearbeitet hat, ist sie anderer Meinung. "Ja, es war um einiges einfacher, es enthält immer noch den Urknall und schwarze Löcher, aber die String-Theorie findet keine Erwähnung oder auch der philosophische Hintergrund wissenschaftlicher Entdeckungen. Aber es packt eine Menge Physik in 14 "Blinks" - Handy-Display-große Zusammenfassungen. Und das Niveau war immer noch hoch. Ich wäre sogar mit einfacheren Erklärungen zufrieden gewesen. ... Wir müssen über unsere Vorstellung hinwegkommen, dass, Stunden damit zu verbringen, in einem Mahagoni-Stuhl die Stirn über einem ledergebundenen Wälzer von 1623 zu runzeln, die beste Art ist, Informationen aufzunehmen."

Weiteres: Für den Tagesspiegel besucht Kai Adler die in Brandenburg lebende, amerikanische Autorin Nell Zink. Besprochen werden unter anderem Güner Yasemin Balcis Buch "Das Mädchen und der Gotteskrieger" (Welt), Michal Hvoreckys Novelle "Das allerschlimmste Verbrechen von Wilsonstadt" (Welt) und Christian Klippels "Verdammt schönes Leben" (SZ).
Archiv: Literatur

Bühne


Spiellust, Anarchie, Slapstick, Intelligenz: Wolfram Koch und Souffleuse Elisabeth Zumpe im unverwechselbaren Theater. (Bild: Thomas Aurin)

Die Apokalypse auf Luther-Deutsch, ein Ein-Mann-Stück für Wolfram Koch samt Souffleuse Elisabeth Zumpe, die auf der Bühne mitspielt und einflüstert, vor abstraktem Bühnenbild inklusive Stairway to Heaven: An der Volksbühne Berlin hatte Herbert Fritschs "Apokalypse" Premiere. Spielt er mit dem Titel etwa auf die Dercon-Krise an? Fritsch liegt nichts ferner, meint Peter Laudenbach in der SZ: "Die für solche Gesten nötige Larmoyanz geht Fritsch entschieden ab. Stattdessen macht die Volksbühne im Angesicht ihres nahenden Endes einfach sehr cool und souverän das, was sie am besten kann: unverwechselbares Theater."

Auch Rüdiger Schaper vom Tagesspiegel kommt begeistert aus der Volksbühne: "Spiellust, Anarchie, Slapstick, Intelligenz, das tut gut in diesen Tagen der Volksbühnenkämpfe. Fritsch zeigt etwas, das gerade jetzt so wichtig ist - die Einmaligkeit des Raums." Das Stück selbst deutet er als Warnung davor, religiöse Texte wörtlich zu nehmen, davon gehe Gefahr aus: "Das Theater bietet dafür einen wunderbaren, sicheren Echoraum. Als wäre die 'Apokalypse' ein langer, böser Witz." Ulrich Seidlers Besprechung in der Berliner Zeitung liest sich unterdessen wie ein erster, künstlerischer Nachruf auf den Regisseur, der unter Dercon seine Arbeit am Haus nicht fortsetzen wolle.

Weiteres: Die Zeit hat Moritz von Uslars Stimmungsbild zur kommenden Intendanz von Chris Dercon an der Berliner Volksbühne, aus dem wir gestern zitierten, online nachgereicht.

Besprochen wird eine Berliner Aufführung von Ronald Harwoods "Quartetto" mit René Kollo (FAZ)
Archiv: Bühne

Film

In der SZ unterhält sich David Steinitz mit Christian Petzold, dem das Filmfest München eine Retrospektive widmet. Unter anderem erfahren wir dabei, dass der Regisseur von echten auf E-Zigaretten umgestiegen ist und welche Auswirkungen es haben könnte, dass immer mehr Filmemacher mit dem Rauchen aufhören: "In den Filmhochschulen gibt es keine Liebe und keine Zigaretten, was wohl der Grund ist, dass in den Filmen wie irre geraucht wird und alle Mädchen Strapse tragen. Ist vielleicht eine Ersatzhandlung. ... Ich habe vor fünf Monaten mit den echten aufgehört. Seitdem lautet auch bei mir jeder zweite Satz beim Drehbuchschreiben: Er zündet sich eine Zigarette an."

Weiteres: Nicolas Winding Refns "Neon Demon" (mehr dazu im gestrigen Efeu) ist, "allem amerikanischen Oberflächen-Glamour zum Trotz, auch ein logischer Endpunkt des europäischen Autorenkinos", schreibt Lukas Foerster in der Jungle World: "Als ultimative Verkörperung eines Regisseur-Egos, das die Welt beim Versuch, sie sich untertan zu machen, Schritt für Schritt auslöscht." In der Welt gibt's ein Interview mit dem Regisseur.

Besprochen werden Yorgos Lanthimos' nach einer Veröffentlichung auf DVD noch im Kino laufender "The Lobster" (FR, unsere Kritik hier), Eric Bergkrauts Dokumentarfilm über Michail Chodorkowski (NZZ) und Dito Tsintsadzes "God of Happiness" (Tagesspiegel).
Archiv: Film

Architektur

Besprochen wird die Ausstellung "Zukunft von gestern" im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt mit Entwürfen der Architektengruppen Future Systems und Archigram für ein besseres Wohnen (NZZ).
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Musik

Robert Glaspers und Gregory Porters in jüngsten Jahren in Aussicht gestellten Jazzerneuerungen haben Andrian Kreye von der SZ als große Gesten des Umsturzes dann doch enttäuscht. Weitaus spannender findet er es in seiner Überblicksbesprechung, was der Schlagzeuger Jack DeJohnette zuletzt alles zu Wege gebracht hat: Für das neue Album "In Movement" (ECM) "hat er nun mit dem Saxofonisten Ravi Coltrane (Sohn des übermächtigen John) und dem E-Bassisten und Experimental-Elektroniker Matthew Garrison (Sohn des Coltrane-Begleiters Jimmy) ein Trio zusammengestellt, das (...) die gesamte Geschichte der schwarzen Musik einer neuen Interpretation unterzieht. Die Behutsamkeit, mit der sie so unterschiedliche Vorlagen wie John Coltranes 'Alabama' oder 'Serpentine Fire' von Earth, Wind & Fire von jeglichem Kontext befreien, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass 'In Movement' eine der fundiertesten Auseinandersetzungen mit dem ist, was Jazz auch in Zeiten der Retro-Seligkeit und elektronischen Möglichkeiten eben immer noch sein kann: ein Befreiungsschlag, ein Aufbruch. Auch wenn 'In Movement' keine Grenzen einreißt, sondern Kreise schließt." Das elektronische Presskit des Labels bietet erste Eindrücke:



"Ein Ereignis" war der Auftritt des Klaviervirtuosen Marc-André Hamelin, schwärmt Harald Eggebrecht in der SZ. Gespielt wurde unter anderem Beethovens "Appassionata": "Mancher mag da das 'Persönliche' vermissen ... Doch Marc-André Hamelin ist vielmehr ein Forscher, neugierig und wissensdurstig, der dann seine staunenswerten Resultate vorführt, deren Prägnanz und Originalität allerdings für sich selbst stehen." Auf Youtube gibt es eine Hamelin-Liveaufnahme von Beethovens Klaviersonate Nr. 32.



Weitere Artikel: Michelle Ziegler annonciert in der NZZ die Aufführung von Stockhausens "Donnerstag aus 'Licht'" am Samstag in Basel. Für den Tagesspiegel besucht Frederik Hanssen den Dresdner Kreuzchor, der in diesem Jahr sein 800-jähriges Bestehen feiert. Für Das Filter unterhalten sich Thaddeus Herrmann und Ji-Hun Kim über Vinyl-Wiederveröffentlichungen der frühen Pink Floyd. In der taz plaudert Jens Uthoff mit dem Pianisten Stephan von Bothmer, der die Fußballspiele der EM live vertont. Und Pitchfork informiert uns, welchen Musikern man in den sozialen Netzwerken unbedingt folgen sollte.

Besprochen werden ein Schostakowitsch-Konzert der Berliner Philharmoniker unter Yannick Nézet-Séguin (Tagesspiegel), ein Konzert von Beck (Tagesspiegel), ein Konzert von Khruangbin (Tagesspiegel) und das neue Album des Technoproduzenten Andy Stott (SZ).
Archiv: Musik