Politik

Bücher über Kriege, ungerechtfertigte oder gerechte, stehen im Mittelpunkt dieses Frühlings. Drei sind besonders zu empfehlen: die Anklageschrift der Journalistin Anna Politkovskajas gegen den Tschetschenienkrieg, das Buch der Journalistin Amira Hass über das Leben im Gazastreifen und "eine Reihe von ungleich gut ausgearbeiteten Aufsätzen des New Yorker Sozialphilosophen Michael Walzer über "Gerechte Kriege - Kriegserklärungen".

Michael Walzer gilt als einer der wichtigsten politischen Denker zur Zeit. In seinem umfangreichen Werk widmet er sich immer wieder den Fragen von Gerechtigkeit, Pluralität und dem Erhalt des demokratischen Gemeinwesens. So auch in seinem neuen Essayband "Gerechte Kriege - Kriegserklärungen". Die taz feiert ihn als denjenigen, der es geschafft hat, die Lehre vom gerechten Krieg als "kritisches Korrektiv gegen Pazifisten wie Bellizisten" rehabilitiert zu haben. Da er Krieg nicht verdammt, sondern den gerechten Krieg lehre, könne man sein Projekt auch als "moralphilosophische Hegung" bezeichnen, in der er "angesichts der Unmöglichkeiten, den Krieg abzuschaffen, an der Begrenzung des Krieges arbeitet", schreibt die NZZ. Walzer steht damit zwischen allen pazifistischen und kriegbefürwortenden Stühlen.

Mitten in den Konflikt hinein gestürzt hat sich Amira Hass, denn sie lebt als Jüdin unter Palästinensern im Gazastreifen. Der C. H. Beck Verlag bezeichnet sie deshalb auch als "Grenzgängerin zwischen den Fronten". In ihrem Buch "Gaza - Tage und Nächte in einem besetzten Land" berichtet sie über den Alltag der palästinensischen Bevölkerung und hat damit etwas Unentbehrliches "für das Verständnis des israelisch-palästinensischen Konflikts" geschaffen, begeistern sich einhellig die Kritiken.

Ein "investigatives Meisterstück" habe die couragierte russische Journalistin Anna Politkovskaja mit ihrem Buch "Tschetschenien - Die Wahrheit über den Krieg" geschrieben, befindet die Zeit. Dabei hat sie ein "Schwarzbuch in drei Teilen" vorgelegt. Das erste Kapitel beschreibe den Kriegsalltag, das zweite die Auswirkungen des Krieges auf Russen und Tschetschenen, und im dritten Teil frage Politkovskaja nach der Zukunft Tschetscheniens. Wer dieses Buch gelesen habe, glaube nicht mehr an die offizielle russische Darstellung, der Tschetschenienkrieg sei eine "antiterroristische Aktion" gegen islamische Fundamentalisten, versichert Marius Zippe in der Zeit. "Die Wahrheit über den Krieg" dürfte Russlands Präsident Putin, der sich derzeit mit Gerhard Schröder offiziell um den Frieden sorgt, gar nicht gefallen", vermutet dagegen Barbara Oertel in der taz.



Biografien

Aus einer ganzen Reihe biografischer Neuerscheinungen haben wir vier besonders spannende ausgesucht.

Aloys Winterling hat eine Biografie über den "von einer Aura des Wahnsinns" umgebenden römischen Kaiser "Caligula", geschrieben. Das große Verdienst von Winterlings Biografie besteht nach Ansicht der Zeit darin, den Despotismus Caligulas als motiviert darzustellen; in der antiken und bis heute wirksamen Lesart galt er nämlich schlichtweg als degenerierter Sadist und Geisteskranker. Am Ende wird "aus dem vermeintlich verrückten Ungeheuer ein rational handelnder Zyniker der Macht". Für die FAZ ist das Werk "analytisch glasklar" und "ein reines intellektuelles Vergnügen".

Ingo Hermann erhellt das lange Zeit "verdunkelt" gebliebene Bild eines der wichtigsten Staatsmänner seiner Zeit: Karl August Freiherr von Hardenberg. Eine "Lichtgestalt" sei Hardenberg gewesen und "seinem Biografen gebühre das Verdienst, ihn endlich seiner Bedeutung gemäß darzustellen", freut sich die Zeit ob dieses unerwarteten Schmankerls. Immerhin war es Hardenberg der ein halbes Jahrhundert vor Bismarck die Grundlagen dafür schuf, dass jener Deutschland einigen konnte - ohne von der zeitgenössischen Geschichtsschreibung Anerkennung dafür zu erhalten. Hervorgehoben seien noch Ed Stuhlers "freigeistige" Biografie der "Margot Honnecker" und Jonathan Spences "Mao"-Biografie.



Geschichte

Wolfgang J. Mommsens "War der Kaiser an allem schuld?" nimmt Bezug zu der seit einiger Zeit laufenden Debatte um die Rolle und Verantwortung Wilhelms II. für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges. In jüngster Zeit überwog die Tendenz, ihm die Hauptverantwortungen für die politischen Fehlentscheidungen des Reiches zuzuschreiben. Mommsen beziehe dabei klar und unmissverständlich Position. Nicht der Kaiser trage die Hauptverantwortung, sondern vor allem die "preußisch-deutschen Machteliten", so Christoph Jahr in der NZZ. Und eigentlich das System des "Semikonstitutionalismus", das den verschlungenen machtpolitischen Dynamiken zugrunde lag: Weder wollte man den Kaiser machen lassen, noch konnte man ohne ihn. Die Kritiken überbieten sich gegenseitig mit Lob für dieses Werk: die SZ schwärmt von einer "Sternstunde" der Geschichtsschreibung, die Zeit lobt Mommsens Gewissenhaftigkeit, und die NZZ findet, er schreibe "als wäre er dabei gewesen" und zugleich mit der intellektuellen Distanz des Wissenschaftlers.

Wie heilig war das Leben der Heiligen und wodurch wurden sie zu Heiligen? Diesen Fragen geht Friedrich Prinz in seinem Werk "Das wahre Leben der Heiligen" nach. Dabei zielt das Buch laut Michael Borgolte nicht, wie man beim Titel vielleicht glauben könnte, auf eine "Entlarvung des Legendarischen als Priestertrug". Vielmehr ist der Rezensent der FAZ davon überzeugt, dass, wer zur wirklichen Persönlichkeit des Heiligen vorstoße, hier Außerordentliches finde, das sich zur Normsetzung eigne - Prinz schildere die Heiligen als Modelle geglückten Lebens. Der Autor erweise sich dabei glücklicherweise auch als "hochgelehrter Forscher" und "brillanter Erzähler". Über alle Maßen gelobt wurde auch der Report Meinhard Starks "Frauen im GULag".



Kulturgeschichte

In einem ganz wörtlichen Sinne muss man den Titel "Wege nach Rom" verstehen, denn Arnold Esch erkundet "jene Wege, die zur Ewigen Stadt führen", so der C. H. Beck Verlag. Dabei setzt sich der Autor mit rein praktischen Fragen auseinander: "Wie wusste ein deutscher Pilger um 1500 den Weg nach Rom zu finden? Wo nahm er Quartier, und was musste er dafür aufwenden? Und einmal angekommen: Was gab es bei einem Gang durch das Rom der Hochrenaissance in den verschiedenen Stadtvierteln zu sehen?". Daneben beschäftigt sich Esch aber auch mit den Romerfahrungen eines Goethe oder Humboldt. Die NZZ findet Eschs Werk wegweisend für die "Geschichtsschreibung von unten", und die FAZ lobt seine schier "unerschöpfliche" Fantasie bei der Aufdeckung von "palimpsestartigen Quellen", seien es " Spolien, Graffiti, Fahrrinnen im römischen Pflaster und sprechende Straßennamen" oder die Erschließung von Pilgerfrequenzen durch einen "Blick in den Opferstock für den Hauptaltar von St. Peter". Erst der "kritische und zugleich fantasiebegabte Blick des Historikers" und "ein glänzender Stilist" Formen diese Erkenntnisse zu einem wahrhaftigen Bild, resümiert eine begeisterte SZ.



Literaturwissenschaften

Lieben sie Klassiker? Die SZ empfiehlt ihnen ein Werk der besonderen Art: "Warum Klassiker lesen?" von Italo Calvino. Laut Calvino sind Klassiker Bücher, die jedes mal um so neuer, unerwarteter, bahnbrechender wirken, wenn man sie wiederliest und so lädt Calvino den Leser in seinen Aufsätzen über Manzoni und Montale, die Odyssee, den rasenden Roland, Stendhal und Raymond Queneau ein, zu einer Entdeckungsreise. Andreas Dorschel ist besonders von der "erschließenden Kraft" der Essays begeistert, ohne jedes "bildungsbürgerliche Gestikulieren" des Autors. Calvino "pustet den Staub fort", der sich über die sogenannten Klassiker gelegt hat, schwärmt der Rezensent, und es beeindruckt ihn, dass der Autor das Klassische einerseits als "Chimäre" entlarvt und es andererseits dennoch nicht auf dem "ideengeschichtlichen Müll" entsorgt. Überaus gelobt wurden auch ein Briefwechsel zwischen Heinrich Mann und Felix Bertaux und Jorge Louis Borges' "Eine neue Widerlegung der Zeit und 66 andere Essays".


Nationalsozialismus

Die Zeit war skeptisch, als ihr ein weiteres Buch über die umstrittene Rolle des Papstes Pius XII. während des Holocaust vorgelegt wurde. Die Zweifel verfliegen aber, versichert die Zeit: zum ersten Mal sei es gelungen "die Kernpunkte aller zugänglichen Quellen und der gesamten Sekundärliteratur sachlich-kritisch zu verarbeiten und dabei dem Dilemma zwischen Verurteilung und Freispruch fast zu entkommen". Die FAZ ist sich sicher, dass der Autor Jose M. Sanchez dabei keineswegs die wissenschaftliche Debatte anheizen will, sondern schreibe in einem "ruhigem Duktus" ohne den Leser überreden noch emotionalisieren zu wollen. Die widerspruchsvolle Persönlichkeit des Papstes beschreibt Sanchez im Schlussteil seines Werkes als "bemitleidenswerte und beeindruckende Gestalt" und erntet vollste Zustimmung von den Kritikern.



Physik

Wer glaubt, die großen Entdeckungen würden von weltfremden Weisen in abgelegenen Elfenbeintürmen gemacht werden, dem sei Peter Galisons "Einsteins Uhren, Poincares Karten" ans Herz gelegt. "Glanzvoll" und "stilistisch souverän" revidiere der Autor dieses Bild, lobt die FR. Besonders die "Fülle von Details", die der Autor über die vielfältigen Verstrickungen der beiden Geistesgrößen in ihrer Zeit zusammengetragen hat, haben es dem Rezensenten Michael Adrian angetan. Etwa die zahlreichen politischen und ökonomischen Projekte, die zu Einsteins Zeiten zur Vereinheitlichung der Zeit betrieben wurden, oder das Engagement des Mathematikers Poincare, Vorläufer in Sachen spezielle Relativitätstheorie, in der Vermessung des französischen Kolonialreichs.


Sozialwissenschaften

"Äußerst informativ, aufschlussreich und wegweisend" findet die FR Norman Birnbaums Werk "Nach dem Fortschritt". Der Sozialwissenschaftler hat den Weg der sozialen Bewegungen im 20. Jahrhundert verfolgt: Zu Beginn setzte eine breite Bewegung sozialistischer Ideen und sozialer Reformen ein, am Ende waren andere Werte in der europäischen und der amerikanischen Gesellschaft an ihre Stelle getreten: Individualismus und Konsumorientierung. Birnbaum geht im Detail den Weg dieser Wandlung nach, von der Zerstörungskraft der beiden Weltkriege und der Neuordnung danach bis zur Epochenzäsur 1989. Seither gelten die Mechanismen des Marktes als Allheilmittel für die Stabilisierung moderner Gesellschaften. Birnbaums Kritik richtet sich gegen diese weitverbreitete Annahme und trifft mitten hinein in die europaweite Krise von sozialdemokratischer Politik und Programmatik. Damit avanciert es zu einem "der wichtigsten politisch-intellektuellen Bücher der Saison", begeistert sich die Zeit.

Die belletristischen Bücher der Saison finden Sie hier.