Außer Atem: Das Berlinale Blog

Jugend in Paris: Claire Simons "Premières solitudes" (Forum) und Jean Paul Civeyracs "Mes Provinciales" (Panorama)

Von Thekla Dannenberg
19.02.2018.


Claire Simon führt uns mit ihrem Film "Premières solitudes" in das Lycée Romain Rolland in Ivry sur Seine, am Rande von Paris. Unter dem Lärmen und Lachen der SchülerInnen liegt der französische HipHop von Stromae. Alors on danse.

Wir begleiten ein junges Mädchen zur Schulärztin. Sie hat Bauchschmerzen, bekommt jedoch mit ihren beiden Tabletten auch eine Packung Fragen serviert: Ob sie in Mathematik mitkommt. Ob ihre Eltern noch zusammenleben. Wie sie sich ihre Zukunft vorstellt. Warum sie abends nicht mit ihrer Mutter zusammen am Tisch isst. Ob sie sich für die kambodschanische Herkunft ihrer Mutter interessiert. Die Ärztin ist eine sympathische Frau, klug und freundlich, aber hartnäckig. Zaghaft, vielleicht sogar ein wenig widerwillig spricht das Mädchen und ihre Antworten erzählen skizzenhaft, aber eindrücklich von einem Leben am Rande von Paris. Von einem einsamen Mädchen, das mit dem Leben genauso überfordert ist wie auch schon ihre Mutter.

Doch was sehen wir? Wie erfahren wir von dieser berührenden Geschichte? Dokumentiert Claire Simon hier ein vertrauliches Arztgespräch? Oder ist es nachgestellt? In der nächsten Szene sehen wir zwei andere Mädchen, die sich in einem leeren Klassenraum über ihre Nöte unterhalten. Eine spricht von ihrer Einsamkeit als Kind geschiedener Eltern, die andere über ihre Kindheit in Nigeria, über die erste Begegnung mit ihrer Adoptivmutter und den Tod ihrer Eltern. Dann erleben wir drei Teenager auf einer Parkbank, die sich fragen, wie man die Selbstkontrolle behalten kann, wenn man verliebt ist. Oder ob man das überhaupt soll. Ein weiteres Mädchen lebt mit ihren sechzehn oder siebzehn Jahren bereits allein: Ihre Mutter ist schizophren, der Vater hat Selbstmord begangen, und mit ihren grausamen Großeltern möchte sie lieber nichts zu tun haben.

Erst allmählich eröffnet sich einem die sensible, kluge Anordnung dieses Films, in dem die Regisseurin Claire Simon nicht einfach Jugendliche nur vor einer Kamera nach ihren Hoffnungen, Sehnsüchten, Wünschen und Ängsten befragt. Sie bringt die Jugendlichen zusammen, damit sie sich untereinander austauschen, sich näher kommen. Es sind nicht nur ihre Antworten, sondern auch ihre Fragen, die hier Raum bekommen. Claire Simon, die unter anderem in "Le Bois dont le Rêves sont faits" sehr poetisch die Menschen im Wald von Vincenne erkundete, gehört zu jenen RegisseurInnen des neuen französischen Kinos, das hierzulande viel zu wenig wahrgenommen wird. Dazu gehört auch Olivier Babinets einschlägige Doku "Swagger" von 2016, die auch schon Jugendlichen der Banlieue eine Bühne bot, nicht nur für ihre bedrückende Realität, sondern auch für ihre exaltierten Fantasien.

Bemerkenswert sind die Reflektiertheit dieser Jugendlichen, das klischeefreie Vokabular und auch die Zartheit, mit der sie von ihren Gefühlsverwirrungen sprechen. Sind Jungen fragiler als Mädchen? Warum sehen Menschen zuerst die Narben in einem Gesicht? Das muss etwas mit einem Unterricht zu tun haben, der Leben und Kunst verbindet: "Charlie Chaplin war Autodidakt", betont die Lehrerin in einer Stunde: "Schreibt Euch das auf".



Mit ebenso großer Zärtlichkeit, aber beileibe nicht so innovativ erzählt Jean Paul Civeyrac in seinem Spielfilm "Mes Provinciales" von drei jungen Männern, die aus der Provinz nach Paris kommen, um Film zu studieren. Etienne, Jean-Noël und Mathias begegnen sich an der Universität, werden Verbündete, Freunde, Rivalen. Sie lesen Pascal, Novalis und Pasolini, hören Mahler und Bach. Sie diskutieren über Tarantino und Verhoeven, bourgeoise Ästhetik und plebejische Revolte. Sie verlieben sich in ihre Mitbewohnerinnen und trennen sich. Sie verachten die Mediokrität und sind bereit, für die Kunst, die Wahrheit und das Genie einen Preis zu zahlen.

In exquisiten Schwarzweiß-Bildern und mit großem Stilwillen setzt Civeyrac beneidenswerte junge Menschen in Szene, die selbst nicht ahnen, wie unwiederbringlich diese Pariser Jahre sind, in denen sie die Liebe, die Literatur und das Leben zu entdecken, ein Gesicht schöner als das andere. Aber der Film erzählt auch von jenen bitteren Moment, in denen man an die eigenen Grenzen stößt: Wenn man merkt, dass das eigene Talent nicht reicht, dass man nicht geschaffen ist für Paris, dass man nicht zurückgeliebt wird.

Civeyrac lehrt als Professor an der berühmten Filmhochschule La Fémis in Paris, seine Liebe gilt den Klassikern des europäischen Kinos. So ist sein Film von großer Melancholie, die nicht nur den Jahren der Jugend gilt, die sich nicht zurückholen lassen, sondern auch einer Zeit, als das Kino noch existenzielle Bedeutung hatte.

Premières solitudes - Young Solitude. Regie: Claire Simon. Frankreich 2018, 100 Minuten. (Vorführtermine)

Mes provinciales - A Paris Education. Regie: Jean Paul Civeyrac. Mit Andranic Manet, Corentin Fila , Gonzague Van Bervesselès und anderen. Frankreich 2018.  136 Minuten (Vorführtermine)