Außer Atem: Das Berlinale Blog

Gefangene der Vergangenheit: Marcelo Martinessis "Las Herederas" (Wettbewerb)

Von Thekla Dannenberg
16.02.2018.


Chela und Chiquita führen zusammen ein Leben, das sie sich schon lange nicht mehr leisten können, in einem alten Haus mit Garten in einem noblen Viertel vermutlich in Asunción. Sie sind beide um die sechzig, haben nie gearbeitet und das geerbte Geld aufgebraucht. Sie beginnen schon, Bilder und Mobiliar zu Geld zu machen. Tag für Tag zählen sie die Kristallgläser, die Messer und Gabeln ihres Silberbestecks. Es ist die Inventur eines Erbes, aber auch die Inventur eines gemeinsamen Lebens. "Was haben wir eigentlich von Deiner Familie verkauft?", fragt Chela, mit dem Willen zu verletzen, die weniger vornehme Chiquita.

Ihre prekäre Lage versuchen die beiden lange vor den Nachbarn, Freunden und Bekannten geheim zu halten, doch die eh schon bröckelnde Fassade bricht zusammen, als die verschuldete Chiquita von ihrer Bank eine Klage an den Hals bekommt. Sie muss wegen Betruges ins Gefängnis, offenbar ein üblicher Vorgang in Paraguay. Chela bleibt allein zurück, auch sie gefangen in dem alten Leben. Doch sie beginnt, mit ihrem alten Mercedes die älteren Damen des Viertels zu chauffieren und mit ihnen die Welt zu entdecken. Der Film verbeugt sich sehr charmant vor diesen älteren Damen, die sich von Chela zu ihren Kartenrunden fahren lassen und die eine Todesnachricht oder einen Auffahrunfall mit äußerster Contenance zu nehmen verstehen, solange nur Frisur und Ketten richtig liegen. Eine gibt schulterzuckend zu , dass sie schwerhörig ist: "Ein bisschen vielleicht. Ist doch nicht schlimm."

Es ist eine konservative Welt, in die Martelo Martinessi in "Las Herederas" führt. Hier wird das Alte in Ehren gehalten, das Vergangene, das Europäische. Die Häuser sind vollgestellt mit Antiquitäten, altenglischen Tischen, deutschem Porzellan und französischen Sofas. Auf dem Kamin stehen die Büsten römischer Feldherren neben den Generälen Paraguays. Selbstverständlich haben alle Dienstboten. Auch Chela. Sie lässt sich von der indigen Pati die Füße massieren, im Gegenzug bringt sich nicht einmal aus Höflichkeit Interesse für das Mädchen auf.



Alles hat seinen Platz in dieser Gesellschaft: die Stellung des Mädchens, der Schmuck, die Kaffeetasse auf dem Tablett. Die Ordnung der Dinge ist so starr, dass sie kaum noch eine lebendige Regung erlaubt. Auch Chela, die Erbin, ist zu einer Gefangenen gewordenen, eine Gefangene der Vergangenheit, und mit ihren sechzig Jahren entwickelt diese Frau erst zaghaft, widerwillig fast, doch dann umso stärker noch einmal neue Lust: Auf die Welt, auf andere Menschen, auf die Freiheit.

Mit "Las Herederas" ist zum ersten mal ein Film aus Paraguay im Wettbewerb, Martinessi erzählt in dunklen Tönen und leicht verhangenen Bildern die Geschichte von Selbstbefreiung unter veränderten Vorzeichen. Die Liebe zwischen diesen beiden konservativen Frauen stellt er mit allergrößter Selbstverständlichkeit dar, intim und zart sind seine Bilder von den Körpern der beiden Frauen. Was ihn interessiert, ist Chelas Weg aus der Unfreiheit des eigenen Lebens, den gesellschaftlichen Konventionen, der Klasse. Das ist ein toller Dreh, man würde gern erleben, wie das in Paraguay ankommt. Ana Brun und Margarita Irún verleihen diesen innerlich so Aufgewühlten eine wunderbare äußerliche Gefasstheit. Auf der Pressekonferenz allerdings bricht Ana Brun in Tränen aus und bekennt, sie habe mit dieser Rolle auch ein bisschen ihr eigenes Leben gespielt.

Las erederas - The Heiresses. Regie: Marcelo Martinessi. Paraguay / Uruguay / Deutschland / Brasilien / Norwegen / Frankreich 2018, 95 Minuten. (Vorführtermine)