Außer Atem: Das Berlinale Blog

Guter Bruder, böser Bruder: 'The Dinner' von Oren Moverman im Wettbewerb

Von Katrin Doerksen
10.02.2017.


"Für den Rest der Welt hatten Sie hier einfach ein nettes, langes Dinner", so lautet die offizielle Version des Abends. Dieser Satz ist nicht das Ergebnis einer Einigung, eher der vorläufige Endstand eines Kampfes, ausgetragen in sechs Runden - Aperitif, Vorspeise, Hauptgang, Käseplatte, Dessert und Digestif. Der Firnis der Zivilisation liegt dünn auf den zwischenmenschlichen Untiefen in Oren Movermans Wettbewerbsbeitrag "The Dinner", auch wenn man sich darin zum Abendessen an einem Ort trifft, der nicht nur den unbedingten Willen zu einem Gesellschaftsvertrag symbolisiert, sondern besonders den zur schöngeistigen Kultur, die die Schöpfung erst krönt. "Es ist, als würde man nach Frankreich reisen", ereifert sich Claire Lohman (Laura Linney) über das Edelrestaurant, und ihr skeptischer Ehemann Paul (Steve Coogan) grummelt: "Während der deutschen Besatzung."

Paul wirft gern mit Zitaten und historischen Anekdoten um sich, denn er ist Geschichtslehrer - seine Perspektive ist es, die durch den Abend führt. Die alten Griechen, das Mittelalter, die Renaissance, er hat zu allem eine Meinung, auch zu seinem Bruder Stan (Richard Gere), einem Kongressabgeordneten mit Ambitionen auf den Posten des Gouverneurs. Stan, als Kind schon Mutters Liebling, Streber, jetzt elitärer Politiker, der nichts von den alltäglichen Problemen an einer öffentlichen Schule versteht. Bis hierhin sieht alles ganz einfach aus: guter Bruder, böser Bruder. Ihre Söhne haben gemeinsam ein Verbrechen begangen. Nicht nur ihre Zukunft, auch Stans Karriere steht auf dem Spiel. Aber die Aufnahmen der Überwachungskamera sind pixelig und es besteht die Chance, dass sie nie identifiziert werden. Das weitere Vorgehen soll an diesem Abend besprochen werden.

Nimmt man die pessimistischen Töne von "The Dinner" für voll, so kann das Zusammentreffen einer Familie gezwungenermaßen in nichts anderem als einer Tragödie biblischen Ausmaßes enden: von Generation zu Generation werden schließlich Arschlochgene weitergegeben. Oren Moverman, für den Richard Gere zuvor einen Obdachlosen in "Time Out Of Mind" gespielt hatte, verfilmt den Roman "The Dinner" des Niederländers Herman Koch als Parabel, bei der Erzähltes und Gemeintes in einem Fort die Seiten wechseln. Mal ist die Familie Allegorie für die Politik, dann verhält es sich wieder umgekehrt. Die Kamera scheint dem Anschein des Gezeigten selbst nicht zu trauen: schon die kurze Anfangssequenz, in der sie in den ornamental angerichteten Köstlichkeiten, im makellosen Prunk des Restaurants zu schwelgen droht, zerfällt schnell in ihre Einzelteile. Den Versuch, die Großaufnahmen brillierender Darsteller seinem Publikum als befriedigendes Identifikationsangebot zu unterbreiten, unternimmt Moverman gar nicht erst. Ständig werden die Gesprächspartner neu konstelliert, ruhelos die Räume gewechselt, beinahe im Minutentakt wechselt im Hintergrund die Musik und zunehmend erodiert die Perspektive.

Schwer zu sagen, welche Szene den Höhepunkt des Films markiert, unter Spannung steht er unentwegt. Vielleicht das Ende. Vielleicht die in kaltes Nacht- und Schattenlicht getauchten Flashbacks, die immer wieder den Wahrheitsgehalt des Besprochenen in Frage stellen. Vielleicht der Exkurs zum Besuch der Brüder auf dem ehemaligen Schlachtfeld von Gettysburg, eine collageartige Sequenz, in der sich die Tonspur einer Museumsführung in einem wilden Montageexzess und ohrenbetäubendem Tinnituslaut auflöst wie das hehre demokratische Selbstverständnis einer Nation im Angesicht alltäglicher Scherereien. Dass Geres Abgeordnetenfigur es sich zum erklärten Ziel gesetzt hat, mit einem Gesetz Lücken des affordable care acts zu schließen, erscheint erst recht vor dem Hintergrund der aktuellen Nachrichtenlage als zynisches Satire-Element.

The Dinner. Regie: Oren Moverman. Mit Richard Gere, Laura Linney, Steve Coogan, Rebecca Hall, Chloë Sevigny. USA 2016, 120 Minuten. (Weitere Vorführtermine)