Außer Atem: Das Berlinale Blog

Kleiner Wegweiser durch die Berlinale

Von Anja Seeliger
08.02.2017. Es ist wieder soweit: Insgesamt 399 Filme werden in den nächsten zehn Tagen im wuchernden Berlinaleprogramm gezeigt. Hier der Versuch, einen kleinen Pfad zu schlagen. Wir freuen uns ganz besonders auf Josef Haders Regiedebüt "Wilde Maus", Raoul Pecks Baldwin-Film "I am not your Negro", Fernando León de Aranoas Doku "Política, manual de instrucciones" über Podemos und Nicolas Wackerbarths fantastischen Schauspielerfilm "Casting".

Stanley Tucci, Sally Potter, Aki Kaurismäki, Margarete Kreuzer

Es ist wieder soweit: Insgesamt 399 Filme werden in den nächsten zehn Tagen im wuchernden Berlinaleprogramm gezeigt. Hier der Versuch, einen kleinen Pfad zu schlagen.

Eröffnen wird die Berlinale morgen abend mit Etienne Comars Film über den französischen Jazzgitarristen und Sinto Django Reinhardt (seine Vorfahren stammten aus dem Elsass), den die Nazis im Zweiten Weltkrieg liebend gern für ihre Propaganda gegen die "Negermusik" eingesetzt hätten.

Zur Einstimmung kann man sich ja schon mal diese Reinhardt-Doku von Bayern alpha ansehen:



Künstlerbiografien sind ein Thema auf dieser Berlinale. Allein im Wettbewerb laufen außer "Django" noch Stanley Tuccis "Final Portrait" über den Bildhauer Giacometti (mit Geoffrey Rush in der Hauptrolle) und Andres Veiels dokumentarisches Beuys-Biopic, das aus "zahlreichen bisher unerschlossenen Bild- und Tondokumenten" schöpft, so die Ankündigung. Im Panorama porträtieren Catherine Gund und Daresha Kyi die großartige mexikanische Sängerin Chavela Vargas, deren weiblicher Machismo einem den Atem verschlagen kann. Romuald Karmakars Dokumentarfilm "Denk ich an Deutschland in der Nacht" widmet sich fünf Pionieren der elektronischen Musik und Margarete Kreuzers "Revolution of Sound" ist eine Langfassung ihres bereits auf Arte gezeigten Films über die deutsche Elektronik-Band "Tangerine Dream". Die Reihe Berlinale Special schließlich zeigt Aisling Walshs Biopic über die kanadische Malerin Maud Lewis. Hier sind außerdem zwei Filmbiografien Politikern gewidmet: Raoul Pecks Film über den jungen Karl Marx und Julius Ševčíks "Masaryk" über den tschechischen Politiker Jan Masaryk am Vorabend des Zweiten Weltkriegs.

Freuen darf man sich im Wettbewerb wohl auf einen typischen Aki Kaurismäki, der in seinem Wettbewerbsbeitrag "Die andere Seite der Hoffnung" einen syrischen Flüchtling auf einen finnischen Restaurantbesitzer und dessen herzensgutes Personal samt Hund treffen lässt. Der österreichische Kabarettist Josef Hader, der mit seinem Regiedebüt "Wilde Maus" gleich im Wettbewerb landete, gibt als entlassener Wiener Musikkritiker seiner Abstiegsangst und verletzten Eitelkeit Zucker. Und Sally Potter schildert in "The Party" ein Abendessen unter linken Politikern, das außer Kontrolle gerät. Überhaupt fällt auf, wieviele Wettbewerbsbeiträge in diesem Jahr als "auch Komödien" angekündigt werden: etwa Agnieszka Hollands "Pokot" (ein "Genremix aus komischer Detektivstory, spannendem Ökothriller und feministischem Märchen"), Sabus "Mr. Long" (der Gangsterfilm, Liebesgeschichte und Gewaltausbrüche mit "überraschenden Slapstick-Einlagen kombiniert") oder Alex de la Iglesias "Le Bar" (eine Mischung aus "Thriller und pechschwarzer Komödie" über einige Passanten, die nach einem Attentat in einer Bar festsitzen).

Der Koreaner Hong Sangsoo ist ein Meister des kleinen Films, der kleinen und doch rätselhaften Geschichte. Auf der Berlinale war er zuletzt 2013 mit "Nobody's Daughter" vertreten (hier unsere Kritik). Sein neuer Film heißt "On the Beach at Night Alone" und begleitet eine berühmte chinesische Schauspielerin nach Hamburg, wo sie sich über ihre Liebesaffäre mit einem verheirateten Mann klar zu werden versucht. Auch der rumänische Regisseur Călin Peter Netzer, der mit seinem Film "Mutter und Sohn" 2013 den Goldenen Bären gewann (hier unsere Kritik), ist wieder dabei, diesmal mit dem psychoanalytischen Liebesdrama "Ana, mon amour". Und hingewiesen sei auch noch auf Thomas Arslans Vater-Sohn-Roadmovie "Helle Nächte" und Liu Jians Animationsfilm "Have a Nice Day".


Hong Sangsoo, Agnieszka Holland, Josef Hader, Ann Carolin Renninger

Das Panorama bietet neben seinem traditionellen queeren Schwerpunkt in diesem Jahr eine kleine Reihe von Dokumentarfilmen zu "Europa, Europa", die sich mit der politischen und wirtschaftlichen Krise beschäftigen. Besonders empfehlenswert hier ist Fernando León de Aranoas "Política, manual de instrucciones", der den Weg der spanischen Bürgerbewegung Movimiento 15M hin zur Partei Podemos begleitet. Außerhalb Europas untersucht Merzak Allouache in seinem Fiktion und Doku mischenden Film "Investigating Paradise" das Bild vom Paradies im Islam. João Moreira Salles' Film "In the Intense now" über politische Umbrüche in den Sechzigern beginnt mit der Selbstbefragung seiner Mutter, die 1966 auf einer Reise durch China die Kulturrevolution feierte. Hervorgehoben seien noch Jochen Hicks' "Mein wunderbares West-Berlin", der die Emanzipation der Schwulenszene im Westen feiert, bis Aids zuschlug, und Michael Glawoggers letzter Film "Untitled" über das Unterwegssein und die Fremde.

Ein weiterer kleiner Programmschwerpunkt im Panorama sind "Schwarze Welten", dessen Höhepunkt Raoul Pecks Essayfilm "I Am Not Your Negro" über James Baldwins Fragment gebliebene Erinnerungen seine drei ermordeten Bürgerrechtler-Freunde Malcolm X, Medgar Evers und Martin Luther King ist. Unter den Spielfilmen im Panorama sei Philippe Van Leeuws Kammerspiel "Insyriated" empfohlen, der am Beispiel einer Familie, die sich in Damaskus in ihrer Wohnung verbarrikadiert hat, die hausgemachte Grausamkeit dieses Krieges vorführt, ohne auch nur einen Toten zu zeigen.

Insgesamt sind im Panorama von 51 Filmen 21 Dokumentarfilme. Dieser Trend spiegelt sich auch im Forum wieder. Rati Onelis "City of the Sun" etwa schildert das letzte bisschen Leben, das sich in den weitestgehend stillgelegten Minen Tschiaturas in Westgeorgien in die alten Volkslieder, die letzte noch arbeitende Mine und die Hoffnung auf die Olympischen Spiele krallt. Daneben gibt es Hybride, die Kunst- und Dokumentarfilm vereinen. Da sieht man dann - zumindest im Fall von Manuel Muñoz Rivas' "The Sea Stares at Us from Afar" - schöne Bilder statt harter Fakten. Wer von den Mustern inspiriert wird, die Wind und Wellen im Sand hinterlassen, wird hier gut bedient.


Nicolas Wackerbarth, Laura Schroeder, Dieudo Hamadi, Ahmed Bouanani

Ein kleiner Schwerpunkt des Forums kreist um den 2011 verstorbenen marokkanischen Filmemacher Ahmed Bouanani: Zu sehen gibt es unnter anderem Wochenschaufilme, die Bouanani für das Centre Cinématographique Marocain gedreht bzw. geschnitten hat, und seinen einzigen Spielfilm, "Le Mirage" von 1980. Außerdem werden einige Filme gezeigt, die von Bouanani inspiriert sind, darunter Ahmed El Maanounis großartiger und immer noch aktueller "Alyam, Alyam" von 1978, der eine erstarrte Gesellschaft zeigt, die mit ihren Traditionen und ihrem religiösen Phlegma ihre Jugend erdrückt.

Einer der schönsten Filme auf dieser Berlinale ist Nicolas Wackerbarths "Casting" über die Besetzung der Hauptrolle für eine Neuverfilmung von Fassbinders "Die bitteren Tränen der Petra von Kant". Mit Hilfe einer fantastischen Schauspielerriege und einem Drehbuch, das Biss hat, nimmt Wackerbarth die Hierarchien im Film- und Theaterbetrieb aufs Korn. Wie da mit süßem Lächeln und sanfter Stimme nach unten getreten und nach oben gebuckelt wird, wie private Demütigungen plötzlich ins Spiel wechseln und umgekehrt, das ist böse und groß. Unbegreiflich, dass der nicht im Wettbewerb läuft. Unter den Spielfilmen lohnt sich auf jeden Fall Amit V. Masurkars Komödie über den Erbsenzähler Newton, der eine Wahl im indischen Dschungel überwachen soll, Alex Ross Perrys Generationenfilm "Golden Exits" sowie "My Happy Family" Nana Ekvtimishvili und Simon Groß, der den Befreiungsschlag einer georgischen Frau von ihrer Familie beschreibt.

Was fehlt noch? Die Hommage ist in diesem Jahr der Kostümbildnerin Milena Canonero gewidmet. Die Retrospektive feiert "Future Imperfect" mit Science Fiction Filmen. Und die Reihe Natives begibt sich diesmal in die Arktis, wo Robbenjäger, Pferdezüchter und Fischer um ihre traditionelle Lebensweise kämpfen. Alle Sektionen finden Sie hier. Jetzt heißt es nur noch: Schal umbinden und auf ins Kino!