9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Wissenschaft

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9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.03.2021 - Wissenschaft

In Grenoble sind zwei Professoren in sozialen Medien und über Graffiti an Uni-Gebäuden als "Islamophobe" und Faschisten an den Pranger gestellt worden (unser Resümee). In Frankreich hat die Affäre nach dem Mord an Samuel Paty, der mit einer ähnlichen Kampagne anfing, Aufsehen erregt. Hadrien Brachet berichtet für die Zeitschrift Marianne über die Atmopshäre an der Uni Grenoble, wo sich Professoren in einem Papier äußerten: "Merklich hin- und hergerissen zwischen der Verurteilung der Graffiti und Sympathie für andere Kollegen beklagen sie in dem Kommuniqué 'gefährliche Handlungen' und rufen zur 'Befriedung' auf, ohne jedoch eine Unterstützung der Angegriffenen zu formulieren. Der Repräsentant des wichtigsten Studentenverbands prangert seinerseits eine 'instrumentalisierte Polemik' an und fordert sogar Sanktionen gegen die beiden der 'Islamophobie' bezichtigen Professoren an." In der Welt wird Klaus Kinzler, einer der beiden attackierten Professoren, interviewt, das Interview steht leider nicht online.

Der "Islamogauchismus", die Allianz zwischen linken Intellektuellen und reaktionären Islamisten, ist nicht das Hauptproblem an den französischen Universitäten, meint die Kunstsoziologin Nathalie Heinich im Interview mit der NZZ, sondern "die Vermischung zwischen Aktivismus und Forschung. ... Wenn wir so weitermachen, entwickelt sich die Uni zu dem Ort, an dem in Dauerschleife rein ideologische Arbeiten über Diskriminierung entstehen. Damit man mich richtig versteht: Gegen Diskriminierung zu kämpfen, ist absolut richtig und legitim - in der Arena der Politik. Es gibt Parteien und Assoziationen dafür. An der Uni dagegen sind wir angestellt, um Wissen zu schaffen und weiterzugeben, und nicht, um die Welt zu verändern."

Der klassische Philologe Jonas Grethlein erzählt auf der Geisteswissenschaften-Seite der FAZ aus Cambridge und Oxford, wo Altphilologen Sensibilisierungskurse über ihren "strukturellen Rassismus" belegen sollen und kritisiert Bestrebungen, sein Fach nach den Kriterien der "Critical Race Theory" um den amerikanischen Althistoriker Dan-el Peralta neu zu orientieren: "Dan-el Peralta, Professor für römische Geschichte in Princeton, hat wiederholt festgestellt, als Schwarzer und Immigrant könne er Unterdrückung und andere Phänomene in der Antike anders und besser erschließen als seine weißen Kollegen. Hier wird die Identität des Wissenschaftlers zum Grund für neue Erkenntnisse, die Identitätslogik ist mit der Erkenntnislogik verbunden. ... Altertumswissenschaftler betrachten vergangene Kulturen wie die Antike im Horizont ihrer eigenen Zeit. Aber wenn dieser Horizont so übermächtig wird, dass sie die antiken Werte und Praktiken primär als Bestätigung oder Widerspruch zu ihren eigenen Vorstellungen sehen, dann verspielen sie die Möglichkeit, neue Perspektiven auf die Gegenwart zu gewinnen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.03.2021 - Wissenschaft

Der Trierer Historiker Benjamin Zachariah erzählt bei geschichtedergegenwart.ch, wie die indische Regierung die Coronakrise nutzt, um die akademische Freiheit einzuschränken: "In aller Stille wurde in einer bürokratischen Mitteilung des Bildungsministeriums der indischen Regierung vom 15. Januar 2021 festgelegt, dass alle akademischen Online-Veranstaltungen oder Konferenzen, die an oder mit Beteiligung von staatlich finanzierten Institutionen stattfinden, einer vorherigen Genehmigung bedürfen und beim Außenministerium registriert werden müssen, wobei das Programm auf eine vom Ministerium bereitgestellte Online-Seite hochgeladen werden muss. Bei den akademischen Veranstaltungen dürfen keine inneren Angelegenheiten Indiens, keine sensiblen Themen oder Angelegenheiten der nationalen Sicherheit zur Sprache kommen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.02.2021 - Wissenschaft

Hannah Bethke kam gestern auf der Wissenschaftsseite der FAZ auf die Diskussion um die Genderprofessorin Maureen Maisha Auma zurück, die von dem AfD-Politiker Hans-Thomas Tillschneider heftig attackiert wurde (unser Resümee). Der Islamwissenschaftler ist Abgeordneter und Vizechef der AfD im Landtag von Sachsen-Anhalt und dort Sprecher für Wissenschaft, Bildung und Kultur. An der Uni Bayreuth ist er Privatdozent. Nach seinen Attacken hatte es mehrere Solidaritätserklärungen von Kollegen für sie gegeben. Bethke will allerdings den Studien und Erklärungen der Antirassisten an den Unis nicht ganz trauen und verteidigt sogar einen Antrag der AfD-Fraktion im Bundestag, das Antirassismusprogramm der Bundesregierung aufzugeben. Die AfD argumentiere hier zwar ideologisch verblendet, "das zeigt sich etwa in Fehlschlüssen, welche die Behauptung einer 'unregulierten Zuwanderung' und einer deutschen 'Basisidentität' mit der Theorie-Analyse vermischen. Das enthebt die Gegenseite aber nicht der Pflicht einer sachorientierten Auseinandersetzung."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.02.2021 - Wissenschaft

In der Welt findet es Jörg Phil Friedrich grundsätzlich begrüßenswert, dass Professoren sich in einem Netzwerk für die Wissenschaftsfreiheit einsetzen. Aber so hilflos wie sie tun, sind die Professoren in ihren Machtpositionen nun auch nicht, kritisiert er und fordert mehr Mut: "Da wäre als Erstes die Kraft des Arguments. Wenn sie Widerstand gegen die Einladung umstrittener Gäste fürchten, sollten sie schlicht stark bleiben und praktisch zeigen, wie kontroverser Diskurs funktioniert. Sie sind die, die auf dem Podium stehen, sie sind die, die die Mikrofone in der Hand halten, sie sind die, die darin geübt sein sollten, ihre Argumente mit Witz und Überzeugungskraft vorzutragen. Und sie sollten wohl auch die Reflexionsfähigkeit besitzen, im Gegenwind des Widerspruchs, der oft unsachlich und wenig akzeptabel sein mag, die bedenkenswerten Argumente zu vernehmen, aufzugreifen und zu verarbeiten. Mit einer wehleidigen Attitüde der gekränkten Autorität, die meint, das Abendland würde untergehen, weil sich unsachlicher und lautstarker Widerstand gegen gewohnte und selbstverständlich geglaubte Freiheiten regt, wird man diese Freiheit nicht verteidigen können."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.02.2021 - Wissenschaft

Viel dazu gelernt hat die Wissenschaft seit dem Plagiatsskandal von Guttenbergs Doktorarbeit nicht, meint Tanjev Schultz in der SZ. Das liege vor allem daran, dass viel zu viele Doktorarbeiten geschrieben würden, oft "fürs eigene Prestige, für ein besseres Einstiegsgehalt, die schnellere Karriere oder um in der eigenen Kleinstadt zum Grüppchen der Honoratioren aufzuschließen. Und so lesen sich viele Doktorarbeiten dann auch. Stumpfsinn für Fortgeschrittene, ohne wissenschaftlichen Mehrwert und zum Schaden jener Promovierenden, die tatsächlich interessante oder sogar brillante Ergebnisse erarbeiten. Die gibt es ja auch."
Stichwörter: Plagiate

9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.02.2021 - Wissenschaft

In der FAZ verteidigt Sibylle Anderl die Modellberechnung in der Wissenschaft gegen die Anhänger der reinen Faktenlage: "Modelle als Brückenelemente zwischen Theorien und Anwendungsfällen prägen seit jeher die Wissenschaften. Je komplexer das Problem, desto wichtiger werden Vereinfachungen, Idealisierungen und Approximationen. Mit dem Einsatz von Computern wurden die Grenzen des Berechenbaren zwar verschoben. Daran, dass Modelle das Modellierte nur annähern können, hat sich dennoch nichts geändert. 'Unsicherheit' ist daher der zentrale Begriff jeder Modellierungstätigkeit."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.02.2021 - Wissenschaft

Im Interview mit der SZ hat FU-Präsident Günter M. Ziegler auch keine Antwort auf die Frage, warum es so ewig lange dauert, bis die Kommission zu einem (zweiten!) Urteil in der umstrittenen Doktorarbeit von Franziska Giffey kommt. Statt zu einem Abschluss zu kommen, ist die neue Kommission jetzt überhaupt erst zusammengekommen: "Wir haben uns gewünscht, die Prüfung bis zum Ende des Wintersemesters abzuschließen, das ist richtig. Wir haben aber unterschätzt, wie diffizil das Verfahren ist, auch der Findungsvorgang. Es steht alles unter öffentlicher Beobachtung, und wir wollten jegliche Anlässe für einen Anschein von Befangenheit vermeiden."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.01.2021 - Wissenschaft

Jean-Pierre Jenny erinnert in der NZZ an den Gelehrten Girolamo Fracastoro, der bereits 1546 in seinem Buch "De contagione" direkte und indirekte Ansteckung zu unterscheiden wusste: "Zu dieser letztgenannten Option hielt er jedoch fest, dass eine Infektion über Distanz niemals auf magische oder okkulte Kräfte zurückgeführt werden könne, und wenn ein Krankheitserreger eingeatmet werde, dann könne er auch nicht einfach durch Ausatmen vertrieben werden. Als Arzt vermutete Fracastoro, dass eine Art Keime die Übertragung bewirken musste. Diese Keime seien aber zu klein, als dass man sie sehen könne. Damit trat er in Widerspruch zu der seit der Antike herrschenden Theorie der Miasmen. Nach dieser Auffassung entstehen unter der Erdoberfläche oder in Sümpfen Ausdünstungen, welche fiebrige Erkrankungen und Pestepidemien auslösen. Auch die alte Humorallehre verwarf er. Auf ihrer Basis hatte man Epidemien als Störungen im Gleichgewicht der vier Körpersäfte gesehen."

Joachim Müller-Jung schreibt in der FAZ zum Tod des Atmosphärenchemikers Paul Crutzen, der das Ozonloch entdeckte und den Begriff des Anthropozäns entwickelte: "Warum hat man den Namen Paul Crutzen trotzdem so selten gehört als lauten Mahner und Warner? Diesen Charismatiker, der in der Community schon in den Achtzigern eine Legende war und mit seinem holländischen Spracheinschlag und einer anrührenden Menschlichkeit selbst die tiefgründigsten Chemiethemen aufzulockern wusste? Die Antwort ist einfach: Weil er weniger als andere die große politische Bühne suchte. Er war als begnadeter Experimentator und wissenschaftlicher Theoretiker zu Weltruhm gelangt, doch das Geschäft des politischen Handelns lag in den Händen anderer."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.01.2021 - Wissenschaft

Jürgen Renn, Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, wünscht sich in Antwort auf einen FAZ-Artikel Wolfgang Streecks, der die politische Rolle der Wissenschaftler in der Corona-Pandemie kritisierte (unser Resümee), eine wirksame Außenvertretung der Wissenschaft gegenüber der Gesellschaft, die das versammelte Wissen bündelt und autoritativ verfügbar macht - eine Aufgabe von zunehmender Dringlichkeit".

9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.01.2021 - Wissenschaft

Nach dem Anschlag mit dem Nervengift Nowitschok auf Alexander Nawalny kommt Peter Richter (SZ) in Kontakt mit einem Chemiefabrikanten, der das Gegengift herstellt und ein grundsätzliches Problem der Arzneimittelproduktion, die fast nur noch in Asien sitzt, anspricht: "Er erzählte von Fabriken, die er in China und Indien gesehen hatte. Dort würden die Wirkstoffe zum Teil zwischen Straßendreck zusammengekocht. Dort seien die Qualitätskontrollen auch nicht so streng. Am Ende hätten die Kostenunterschiede dazu geführt, dass in Deutschland, das einmal als Apotheke der Welt galt, heute kaum noch chemische Wirkstoffe hergestellt würden, sondern diese fast alle aus Asien kämen. Dies wiederum sei auch angesichts dessen, was jetzt schon wegen Corona los ist, bedenklich: 'Warum haben wir in Europa keinen einzigen großtechnischen Hersteller von Antibiotika mehr? Und ich rede nicht von den Arzneimittelherstellern, die die in Tabletten pressen, ich rede von den Wirkstoffen, die wir in China und Indien kaufen müssen. Was, wenn das nächste Corona ein Bakterium ist? Und was, wenn die Asiaten dann sagen: Tut uns leid, wir können gerade nicht liefern?'"
Stichwörter: Arzneimittel, Nowitschok, Corona