9punkt - Die Debattenrundschau

Zustand der Anomie

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.03.2024. Der UN-Sicherheitsrat fordert eine sofortige Waffenruhe in Gaza: Die FAZ erinnert daran, dass kein anderes westliches Land in den vergangenen Jahrzehnten in einen ähnlich existenziellen Kampf verwickelt war. In seinem Newsletter Thinking about hat Timothy Snyder keinen Zweifel daran, dass der Anschlag in Moskau auf den "Islamischen Staat" zurückgeht. Richard Herzinger hält es indes für möglich, dass das Attentat von Putin inszeniert wurde. Die taz blickt auf die finstere Redner-Liste beim "Palästina-Kongress". Und in der Berliner Zeitung glaubt Katja Lange-Müller: Der Wessi hat den "Jammerossi" aus Neid erfunden.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.03.2024 finden Sie hier

Politik

Gestern war ein historischer Tag. Der UN-Sicherheitsrat fordert eine sofortige Waffenruhe im Gaza-Krieg - und die USA haben kein Veto eingelegt, sondern sich enthalten. Die Resolution fordert die Entlassung der Hamas-Geiseln, aber eben auch eine Einstellung der Kampftätigkeiten - hier der ganze Text. Dass die Bilder aus Gaza immer unerträglicher werden und dass es auch Israels Freunden immer schwerer fällt, sie auszuhalten und Israel zu verteidigen, weiß auch FAZ-Redakteur Alexander Haneke, der Israels Kriegsführung durchaus in vielen Punkten kritikwürdig findet. Aber er fordert auch, sich in die Lage israelischer Soldaten zu versetzen: "Wer über den Krieg urteilen will, muss sich bewusst machen, welche Mechanismen dort wirken - ganz egal, wie man sie ethisch bewertet. Und wer Israels Kriegsführung mit den Armeen anderer Demokratien vergleicht, darf nicht vergessen, dass kein anderes westliches Land in den vergangenen Jahrzehnten in einen ähnlich existenziellen Kampf verwickelt war gegen einen Feind, der, nur durch einen Grenzzaun getrennt, fortwährend Raketen auf Städte und Dörfer feuert und der planmäßig seine Uniformen abgelegt hat, um sich im urbanen Dickicht unter Zivilsten zu verbergen."

Interessant ist, wie etwa die "Tagesschau" über die UN-Resolution berichtet: "Durch den völkerrechtlich bindenden Beschluss steigt der internationale Druck auf die Konfliktparteien Israel und die Hamas weiter. Es ist jedoch fraglich, ob oder inwieweit die Resolution Einfluss auf Entscheidungen der israelischen Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu oder der Hamas zum weiteren Kriegsverlauf haben wird. Die Hamas begrüßte die Resolution und bekräftigte, zu einem sofortigen Austausch der israelischen Geiseln gegen palästinensische Gefangene bereit zu sein." Äh, von "Austausch" ist in der Resolution aber nicht die Rede, sondern von der "sofortigen und bedingungslosen Freilassung aller Geiseln".

In der SZ erinnert Daniel Brössler die propalästinensischen Demonstranten noch einmal daran, was die deutsche Staatsräson eigentlich bedeutet: "Die deutsche Sonderrolle manifestiert sich nicht in Kritiklosigkeit, sondern im Beharren auf dem grundsätzlichen Recht Israels, sich gegen die Hamas zur Wehr zu setzen. Weltweit ist das fast schon ein Alleinstellungsmerkmal. Das wird in Israel wahrgenommen und sorgt zumindest dafür, dass Kanzler und Außenministerin Gehör finden. Schon aus diesem Grund wäre den Palästinensern nicht geholfen, würde sich Deutschland in die Gruppe derer einreihen, die Israel durch ein Waffenembargo oder gar Boykottmaßnahmen unter Druck setzen wollen."

In der NZZ wirft der deutsche Schriftsteller Hans Christoph Buch einen Blick auf die von Völkermord und Sklaverei geprägte Geschichte der Insel Hispaniola, die vor allem Haiti in eine Gewaltspirale führt: "Als Erben dieser Geschichte gibt es in Haiti heute nicht bloß Hungerleider, sondern Millionäre, die wenig oder keine Steuern zahlen und, wie kriminelle Familienclans in Europa, von rechtsfreien Räumen profitieren. Politiker und Polizisten sind bestechlich, Korruption gilt als Kavaliersdelikt, Waffen- und Drogenschmuggel sind so verbreitet wie Folterungen und Vergewaltigungen vor den Augen der Angehörigen. Wie einst die 'Tontons Macoutes' von Papa Doc terrorisieren bewaffnete Banden die Armenviertel; allen voran Cité Soleil, eine von vielen No-go-Areas mit Waffenlagern und Geiselgefängnissen, in denen Entführungsopfer wochenlang, oft vergeblich, auf Freikauf hoffen."
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Europa

Zwei Wochen vor dem "Palästina-Kongress" scheint die Stimmung in Berlin nervöser zu werden. Der Senat möchte die Veranstaltung am liebsten verbieten, bei Veranstaltern gab es Hausdurchsuchungen (aber angeblich nicht wegen des Kongresses), berichtet Erica Zingher in der taz. Die Liste der geplanten Redner ist finster. Da ist "zum Beispiel der Autor und Historiker Salman Abu Sitta. ... Wäre er jünger und würde er noch im 'Konzentrationslager Gaza' leben, hätte er auch einer von denen sein können, die den Zaun am 7. Oktober durchbrochen haben, schrieb er im Januar. Die systematische sexuelle Gewalt durch die Terroristen der palästinensischen Hamas sowie das Köpfen von Babys am 7. Oktober bezeichnete er als Falschinformation und üble Nachrede." Im Tagesspiegel berichtet Sebastian Leber.

"Nach dem Terror kommt noch einmal Terror", konstatiert Gustav Seibt im SZ-Feuilleton mit Blick auf die brutalen Bilder, die aus Russland von den misshandelten Verdächtigen nach dem Anschlag bei Moskau in Umlauf geraten sind: "Maximale Kälte und Mitleidlosigkeit signalisiert diese Form für solche Inhalte. ... Es sind Bilder buchstäblicher Gesetzlosigkeit, sie zeigen einen Zustand der Anomie. Wo geschlachtet wurde, wird weiter geschlachtet werden. Die Ästhetik dieser Bilder ist längst geläufig aus den vergangenen zwei Jahren des russischen Kriegs in der Ukraine. Er wurde von Anfang an begleitet von einer Flut privater oder privat daherkommender Gewalt- und Foltervideos, teils abgefangen aus dem Mobilfunkverkehr, teils absichtsvoll verbreitet in großen Telegram-Gruppen, faktisch also öffentlich. Dort sind sie zu allermeist bis heute verblieben, niemand machte sich die Mühe, sie zu löschen."

Könnte das Attentat in Moskau auch von Putin inszeniert worden sein? Es wäre nicht das erste Mal, dass Putin so verfährt, notiert Richard Herzinger in seinem Blog und erinnert an die höchstwahrscheinlich fabrizierten Attentate im Jahr 1999: "Während das Regime in Blitzesschnelle Tschetschenen als Täter beschuldigte, gingen viele in- und ausländische Experten und Aktivisten - allen voran der abtrünnige Geheimdienstagent Alexander Litwinenko und die Journalistin Anna Politkowskaja, die beide später von Putins Schergen ermordet wurden - davon aus, dass die Anschläge das Werk des Geheimdienstes FSB waren. Eine Einschätzung, die seitdem durch zahlreiche weitere Recherchen erhärtet wurde."

Für die FR hat Michael Hesse Reaktionen von Experten zum Anschlag in Moskau zusammengetragen, darunter Timothy Snyder, der keinen Zweifel daran hat, dass der Anschlag auf den "Islamischen Staat" zurückgeht: "'Russland bombardiert Syrien seit 2015. Russland und der Islamische Staat konkurrieren um Gebiete und Ressourcen in Afrika." Der Islamische Staat habe die russische Botschaft in Kabul angegriffen, betonte Snyder in seinem Newsletter Thinking about. 'Dies ist der relevante Kontext für den Anschlag vor Moskau. Der Schrecken im Krokus-Rathaus hat offensichtlich nichts mit Schwulen oder Ukrainern oder anderen von Putins Lieblingsfeinden zu tun', betont Snyder, der sich nicht erst seit Ausbruch des Krieges 2022 eindeutig für die Ukraine positioniert hat und vor dem Faschismus in Russland gewarnt hat. 'Man fragt sich zu Recht, wie ein Terroranschlag in Russland, einem Polizeistaat, gelingen konnte. Regime wie das russische widmen ihre Energie der Definition und Bekämpfung falscher Bedrohungen. Wenn eine echte Bedrohung auftaucht, müssen die vorgetäuschten Bedrohungen hervorgehoben werden. Vorhersehbarerweise (und wie vorhergesagt) versuchte Putin, die Ukraine für den Anschlag verantwortlich zu machen.'"

In der NZZ kommt Sergei Gerasimow noch einmal auf das Interview zurück, das Tucker Carlson mit Putin führte - und das bei allen Lügen doch einige Wahrheiten über Putin offenbarte. Putin hält alle anderen für dumm, sieht sich in der Tradition der russischen Zaren und glaubt tatsächlich an "ukrainische Nazis". Genauso interessant ist zudem, was Putin nicht erwähnte: "Während des zweistündigen Gesprächs geht Putin mit keinem Wort auf die menschlichen Kosten des Krieges ein. Weder russische noch ukrainische Opfer interessieren ihn - obwohl Russen und Ukrainer aus seiner Sicht je eine einzige Nation sind. Diese absolute Verachtung für das menschliche Leben mag als Zeichen einer außergewöhnlichen Rücksichtslosigkeit erscheinen, die für Putin charakteristisch ist, aber in Wirklichkeit hatten andere russische Zaren ebenso wenig Skrupel. Es genügt, hier Peter den Großen und Iwan den Schrecklichen zu erwähnen. Lenin und Stalin waren ebenso unbarmherzig. Alle diese Machtmenschen errichteten ein Regime des Massenterrors und ließen Millionen von Menschen über die Klinge springen."

Eine Meldung nebenbei: Michael Roth,der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages und einzige bekannte Russland-Kritiker innerhalb der SPD kündigt seinen Abschied aus der Politik an - hier seine persönliche Erklärung. Roth war im Dezember "unter dem Jubel der Delegierten" im Dezember aus dem Vorstand der SPD abgewählt worden, mehr hier.
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Kulturpolitik

Buch in der Debatte

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Etwas zwiespältig resümiert Claudius Seidl in der FAZ die jüngsten Debatten um rechtsextreme Spender für alttestamentliche Prophetenskulpturen, die jetzt auch noch auf die Berliner Stadtschlossattrappe gesetzt werden. Der Architekturhistoriker Philipp Oswalt hatte das ja alles aufgedeckt, während die deutsche Presse noch schlummerte (und war das FAZ-Feuilleton nicht seinerzeit eher begeistert von dem Schlossprojekt?) Nun wirkt alles wie eine Verschwörung, so Seidl, "wenn nicht alles öffentlich und ohne jede Geheimhaltung geschehen wäre". Einerseits. "Nur, was wäre die Botschaft? Worauf liefe die Verschwörung hinaus, die ja insoweit erfolgreich war, als das Schloss in Berlin, der Garnisonkirchturm in Potsdam und ein paar pseudoalte Gassen in Frankfurt tatsächlich stehen? Wer sich auf einen Kaffee in den Schlüterhof setzt, wird vielleicht Boxen sehen für die Musikperformance in der Dämmerung, bunte Figuren, deren Sinn sich nicht sofort erschließt, freundliche, amüsierwillige Touristen. Und im Souvenirshop gibt es den Palast der Republik als Buchstütze oder Briefbeschwerer." Am Ende siegt bei Seidl aber wieder der Schrecken. Dem preußisch-protestantischen Barock fehle eben die Grazie. Was bleibt, ist "die schiere Größe, die Demonstration der Macht, die herrische Geste. Eigentlich, so liest man in den rechten Publikationen, müsste ein deutscher Herrscher im Berliner Schloss residieren."

Die Ausstellung "Die Reise der Bilder" in Linz rekonstruiert die Hitlersche Kulturpolitik, die im wesentlichen darin bestand, Kunstwerke aus Privatsammlungen zu rauben. Aber auch über die Bestände von Museen, vor allem in besetzten Ländern, wollte Hitler für seine Projekte verfügen, berichtet Nikolaus Bernau in der taz: "Das Kunstmuseum Lentos in Linz versucht jetzt dieses Geschehen zu rekonstruieren, die 'Reise der Bilder' nachzuvollziehen. Eine sehr österreichische, durchaus relativierende Sprachregel. Dabei verbanden sich hier im Salzkammergut die Ausplünderung Europas durch die Deutschen, der Raub von Sammlungen der als Juden Verfolgten in Frankreich durch den Einsatzstab Rosenberg mit der Rettung von Kunstwerken vor dem Krieg und den memorialen Ambitionen Adolf Hitlers. Diese 'Reise' der Kunstwerke war also genauso gut Flucht wie Deportation, Verbergung eines ungeheuerlichen Verbrechens wie blanke Rettungstat."
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Ideen

La Règle du jeu ist Bernard-Henri Lévys Website, offiziell die seiner Zeitschrift. Wenn Marc Knobel hier über Lévys neues Buch "La solitude d'Israel" schreibt, darf man nichts anderes als eine Hommage erwarten. Aber in einem Satz Lévys, den Knobel zitiert, ist tatsächlich die Essenz des 7. Oktober resümiert: "'Kein Land auf dieser Erde, das den Juden Schutz bietet - das ist die Aussage des Ereignisses.' Die Einsamkeit Israels, die des Philosophen, ist unsere Einsamkeit."
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Gesellschaft

Die Westdeutschen haben den "Jammerossi" aus Neid erfunden, glaubt die in Ost-Berlin geborene Schriftstellerin Katja Lange-Müller im Gespräch mit der Berliner Zeitung, und zwar "weil sie sich selbst sehr gut wiedererkannten, in dem, was sie da vernahmen. Unsicherheiten, Abstiegsängste und Verwirrungen in der kapitalistischen Praxis, das kennt der Westler natürlich genauso und schon länger - er durfte und darf es aber nicht zeigen, weil man damit seine Schwäche zur Schau stellen und seine Souveränität als angreifbar markieren würde. Dieser Zwang, sich gut zu verkaufen, war im Osten weitgehend unnötig, und entsprechend ungeübt war der Ostler in derart überlebenswichtigen Verlogenheitstechniken. Stattdessen kommt er und jammert völlig hemmungslos rum. Dann wechselt der Wessi den Waggon wie eine Mutterveteranin, die von fremdem Säuglingsgeplärr genervt ist."
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