9punkt - Die Debattenrundschau

Dass wir ehrliche Menschen waren

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.02.2024. Alexei Nawalny ist nach Angaben der russischen Behörden tot. Es bestehen keine Zweifel: Das war politischer Mord. Sogar im Gefängnis war er noch eine große Bedrohung für Putin, schreibt Anne Applebaum in Atlantic. Niemand wurde Putin so gefährlich wie er, weiß auch die SZ, deshalb wurde er ermordet. Die FAZ zeichnet seinen Kampf gegen den Kreml nach. Sicherheitsversprechen sind schön und gut, meint die SZ anlässlich der Konferenz in München, am Ende geht es aber um Krieg oder Frieden. Warum konzentriert man sich bei der Frage der Sicherheit nur auf militärische Belange, fragt die taz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.02.2024 finden Sie hier

Politik

Putin konnte Alexej Nawalny umbringen, aber nicht brechen. Nach der Mitteilung der russischen Gefängnisbehörde FSIN, dass Nawalny beim Freigang von einem Blutgerinsel getötet worden sei, bringt das russische Oppositionsmagazin Meduza auf Twitter einen Ausschnitt aus David Rohers Film "Navalny", der sich wie ein Vermächtnis anhört:


"Selbst hinter Gittern war Nawalny eine reale Bedrohung für Putin, denn er war der lebende Beweis, dass Mut möglich ist und Wahrheit existiert", schreibt Anne Applebaum in Atlantic und erinnert an das zweistündige Video, das Nawalny nach seiner Vergiftung durch Putin auf Youtube präsentierte: "Putin's Palace: The Story of the World's Largest Bribe". Nawalny wies dort nach, dass sich Putin am Schwarzen Meer einen obszönen Palast hatte bauen lassen. "Aber die Kraft des Films lag nicht nur in den Bildern oder gar in den Beschreibungen des verschwendeten Geldes. Die Kraft lag im Stil, im Humor und in der Professionalität des Films auf Hollywood-Niveau, die zum großen Teil von Nawalny selbst vermittelt wurde. Das war seine außergewöhnliche Gabe: Er konnte die trockenen Fakten der Kleptokratie - die Zahlen und Statistiken, die normalerweise selbst die besten Finanzjournalisten zum Erliegen bringen - unterhaltsam aufbereiten. Auf dem Bildschirm war er ein ganz normaler Russe, manchmal schockiert über das Ausmaß der Bestechung, manchmal spottete er über den schlechten Geschmack. Für andere gewöhnliche Russen wirkte er real, und er erzählte Geschichten, die für ihr Leben relevant waren. Ihr habt schlechte Straßen und eine schlechte Gesundheitsversorgung, sagte er den Russen, weil sie Eishockeystadien und Wasserpfeifenbars haben."

taz-Korrespondentin Inna Hartwich konstatiert bitter: "Einen Monat vor Russlands 'Wahl' am 17. März, vor Putins fünfter Wiederbestätigung als Präsident, hat ihn die Staatsmacht ins Grab gebracht, weil sie ihn all die Jahre mit einem absurden Prozess nach dem nächsten und mit immer härteren Haftbedingungen von der Gesellschaft isolierte, malträtierte, folterte."

"Was auch immer die russischen Behörden als Ursache für den Tod Alexej Nawalnyjs angeben", kommentiert Reinhard Veser in der FAZ, es bleibt kein Zweifel daran, dass es sich um einen "politischen Mord" handelt: "Die Bedingungen, in denen er in den vergangenen drei Jahren in Haft gehalten wurde, waren darauf angelegt, ihn körperlich und geistig zu brechen. Da Nawalnyj unbeugsam blieb, wurden die Haftbedingungen immer weiter verschärft, bis er ihnen nun erlegen ist. Russlands Machthaber Wladimir Putin und seine Schergen haben Nawalnyj getötet."

In einem weiteren Artikel zeichnen Reinhard Veser und Friedrich Schmidt den Verlauf von Nawalnys Kampf gegen den Kreml nach: "Angriffslust und Führungsanspruch sind unter den Regimegegnern in Russland keine Alleinstellungsmerkmale. Was Nawalny heraushob, waren Ausdauer, die Fähigkeit, junge Leute für sich zu gewinnen, und das Talent, das Internet für seine Zwecke zu nutzen. In späteren Jahren war dies vor allem die Videoplattform Youtube, auf der Nawalnyjs Auftritte zur wichtigsten Gegenöffentlichkeit in Russland wurden. Nawalny beließ es nicht bei allgemeinen Behauptungen über die Korruption der Mächtigen, sondern sorgte mit skrupulös recherchierten Enthüllungen über prominente Vertreter der Elite für Aufsehen." Eine Zeit vor dem russichen Angriff auf die Ukraine habe er einer befreundeten Journalistin aus der Haft geschrieben: "'Alles wird gut. Und sogar wenn es das nicht wird, trösten wir uns damit, dass wir ehrliche Menschen waren.'"

Schon das 2020 auf Nawalny verübte Attentat mit Nowitschok machte klar, dass der Kreml-Herrscher es auf den Tod seines Gegners abgesehen hatte, schreibt auch Konrad Schuller in der FAS. Als Nawalny nach seiner Genesung nach Russland zurückkehrte, wo er sofort verhaftet wurde, müsse ihm klar gewesen sein, was passieren würde: "Aber es war auch offensichtlich, dass er sein Ziel, Putins Diktatur zu beenden, aus dem Exil kaum erreichen konnte. Er hat das Risiko deshalb in Kauf genommen und jetzt mit seinem Leben dafür bezahlt."

Kaum jemand wurde der Putin-Partei, die Nawalny stets als die "Partei der Gauner und Diebe" bezeichnete, so gefährlich wie er, schreiben Silke Bigalke und Frank Nienhuysen auf der Seite 3 der SZ: "Denn er stand für etwas, was der Kreml besonders fürchtete: für eine gut organisierte, gut vernetzte, bis tief in die russischen Regionen hineinreichende Opposition. Nawalny konnte bis zuletzt Menschenmassen bewegen wie kein anderer Kremlkritiker in Russland. Gezeigt hat sich das sogar dann noch, als er im Januar 2021 festgenommen wurde, Zehntausende gingen in den Wochen danach für ihn auf die Straße. Seitdem hat es nicht mehr auch nur annähernd ähnlich große Proteste in Russland gegeben, weder bei Kriegsbeginn noch während der Mobilmachung."

Auf der Sicherheitskonferenz in München, auf der auch Nawalnys Frau zu gegen war, löste die Nachricht schockierte Reaktionen aus. Maxim Kireev, Holger Stark und Hauke Friederichs schildern auf Zeit Online das Geschehen: "Spontan trat Julija Nawalnaja am Nachmittag auf die Bühne, als die russische Todesmeldung bereits seit mehreren Stunden publik war. Sie wirkt aufgebracht und nervös. Ob sie den Meldungen glauben soll, wisse sie noch nicht. Ihr erster Gedanke sei natürlich gewesen, direkt zu den Kindern zu fliegen, sagt sie zu Beginn ihrer kurzen Rede. 'Aber dann habe ich mich gefragt, was Alexej Nawalny tun würde. Und er wollte jetzt mit Sicherheit hier sein', fährt sie fort."

"Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie", so Cathrin Kalweit in der SZ, "dass Alexej Nawalny, der bekannteste Oppositionspolitiker und Regimekritiker Russlands, mutmaßlich an dem Tag gestorben ist, an dem in München auf der Sicherheitskonferenz so besorgt wie nie über die Wehrhaftigkeit des Westens und das Überleben westlicher Demokratien angesichts der russischen Bedrohung beraten wird. Es ist, als wollte Wladimir Putin zeigen: Ich bin allmächtig. Und als wollte Nawalny, noch im Tod, beweisen: Dieser Mann schreckt vor nichts zurück."

Weitere Analysen und Nachrufe unter anderem auf Zeit Online, in FR, Welt, Tagesspiegel und NZZ.
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Europa

Stefan Kornelius denkt in der SZ anlässlich der Sicherheitskonferenz in München darüber nach, was "Sicherheit" in diesen Tagen eigentlich bedeutet: "Was Wolodimir Selenskij in Berlin und Paris erlebt, die gewaltige Solidarisierung, die ihm auf der Münchner Konferenz zuteilwerden wird: Sie kapituliert am Ende vor der Mündung des Gewehrs. Granate schlägt Sicherheitsversprechen - das ist die simple Logik der russischen Überlegenheit." Sicherheitsversprechen sind ja gut und schön, aber letztendlich geht es "um Krieg und Frieden", so Kornelius: "In zwei Jahren ist es den Unterstützern der Ukraine nicht gelungen, ihre unumstößliche Entschlossenheit in der Verteidigung von Freiheit und Frieden klarzumachen. Putin lebt von diesem mächtigen Restzweifel, der sich in nur einer Frage zusammenfassen lässt: Wer ist bereit, seine Streitkräfte tatsächlich in diesem Krieg einzusetzen? Diese Frage ist alles andere als hypothetisch. Würde der Krieg - wie es zum gängigen Szenario gehört - durch eine Aufnahme der Ukraine in die Nato beendet, wäre die Allianz dann bereit, ihre Soldaten zum Schutz des Bündnisgebietes an die Front zu schicken und für Sicherheit zu sorgen?

Zwar geht das unterzeichnete Sicherheitssabkommen zwischen Olaf Scholz und Wolodomir Selenskyj kaum über das hinaus, was sowieso schon abgemacht wurde, meint Berthold Kohler in der FAZ, es stellt aber trotzdem eine wichtige Botschaft dar: "Doch hat die Ukraine es nun auch schriftlich, dass Deutschland ihr mindestens für zehn Jahre im Abwehrkampf gegen Russland helfen will, und zwar auf allen dafür relevanten Gebieten. Das ist ein wichtiges Signal für die vom Krieg erschöpften Ukrainer auf der einen Seite und den schon Siegesluft witternden Putin auf der anderen. Der dürfte nicht nur die von Trump und dessen republikanischer Garde blockierte Waffenhilfe als Zeichen dafür deuten, dass der Westen Kiew langsam, aber sicher von der Fahne geht."

In der taz spielt Tania Tricarico drei Möglichkeiten durch, was passieren würde, wenn sich die USA aus der Nato zurückziehen würden. Eine Forderung, die utopisch klinge, aber auf der Sicherheitskonferenz Thema war und auch vom Vorsitzenden Christoph Heusgen unterzeichnet wurde, stellt die Verbindung von Sicherheitspolitik und Entwicklungspolitik her, von dem sich "mehr Gerechtigkeit, ein Ausgleich zwischen armen und reichen Staaten, ein gemeinsamer Kampf gegen Klimakrise, Armut und Hunger auf der Welt" versprochen wird: "Ein konkretes Beispiel dafür wäre das Einhalten der sogenannten ODA-Quote, die 0,7 Prozent der Wirtschaftsleistung entspricht, die in eben diesen Kampf gegen Ungleichheit und Entwicklungszusammenarbeit weltweit fließen. ... Derzeit fällt Weltgemeinschaft, EU und demokratischen Staaten allerdings kaum mehr ein, als auf Aggressoren wie den russischen Präsidenten mit militärischer Stärke zu reagieren. Über mehr Kriegsgerät zur Abschreckung, sogar über eine erweiterte nukleare Aufrüstung, also mehr Atombomben in Europa, wurde und wird diskutiert. Geld ist dabei kein Tabu. Gleichermaßen wurden feste Zusagen und Versprechen, in Diplomatie und Entwicklungszusammenarbeit zur Friedenssicherung gleichermaßen zu investieren, in den Hintergrund gedrängt."
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Gesellschaft

Der in Kiew geborene und in Berlin lebende Schriftsteller Dmitrij Kapitelman spricht mit Roman Bucheli in der NZZ über den Krieg in der Ukraine, seine russisch-jüdische Mutter, die Putins Propaganda glaubt, über Israel und wachsenden Antisemitismus in Deutschland: "Es ist immer eine Gefahr, jüdisch zu sein. Immer gewesen, ich habe es nie anders kennengelernt. Natürlich ist der Antisemitismus auch hier in Berlin zu spüren. Briefkästen mit jüdischen Namen wurden markiert. Man hat Eier gegen Fenster geworfen, wo Juden wohnten, und am Fenster, in dem meine Menora stand, ist auch ein Ei gelandet. Das ist etwas, was schon immer da war, aber es erreicht jetzt eine neue historische Eskalation. Es gibt anscheinend ein sehr großes Verlangen, auch in linken Kreisen, Israel für alles die Schuld zu geben. Ich habe einen libanesischen Freund, über den andere Leute sagen, mit dem kannst du nicht mehr befreundet sein, der unterstellt Israel einen Genozid in Gaza. Ironischerweise ist er auch vor kurzem in die Partei Die Linke eingetreten. Was mich wiederum mit Sicht auf die Ukraine fassungslos macht. Ich sehe es aber nicht ein, mit diesem Menschen zu brechen. Und ich glaube einfach nicht daran, dass mein Freund auch nur einen hasserfüllten Knochen in sich hat. So wie ich glaube, dass sehr viel verloren wäre, wenn wir zwei unsere Freundschaft kündigen."
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Medien

Im FR-Interview mit Bascha Mika schildert der frühere Wiki-Leaks-Sprecher Daniel Domscheit-Berg seine Zeit bei der Enthüllungsplattform und die Zusammenarbeit mit Julien Assange. Als die USA Ermittlungen wegen Cyber-Kriminalität aufnahmen und Assange per Haftbefehl wegen Vergewaltigungsvorwürfen in Schweden gesucht wurde, herrschte Chaos, meint Domscheit-Berg: "Diese Suppe hatte so viele Zutaten, dass man gar nicht wusste, wie das alles zusammen funktionieren soll. Und was auch immer in Schweden passiert ist - für mich war wichtig, dass es geklärt wird. So, wie es in jeder ernst zu nehmenden Organisation laufen sollte, um Schaden von ihr und der Arbeit abzuwenden. Und weil jede Frau das Recht hat, dass erhobene Anschuldigungen aufgeklärt werden." Vermutlich wäre alles anders gelaufen, "wenn er sich einfach einem klärenden Verfahren in Schweden gestellt hätte. Er säße heute wahrscheinlich nicht unter diesen menschenunwürdigen Bedingungen fest, in ständiger Gefahr von den Briten an die US-Geheimdienste ausgeliefert zu werden. Um dann, wie der russische Regimekritiker Nawalny, an der Haft zu Grunde zu gehen."
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Stichwörter: Wikileaks, Assange, Julian