9punkt - Die Debattenrundschau

Die Duldsamen im Paradies

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.02.2024. Im Guardian fordert Timothy Garton Ash Europa auf, über atomare Aufrüstung nachzudenken. Die taz ermahnt die Linke, an einer Israel-Kritik zu arbeiten, die ohne Antisemitismus auskommt. TikTok ist ein Nährboden für Judenhass und Terrorpropaganda, entnimmt die FAZ einem Report der Bildungsstätte Anne Frank. Die Welt sorgt sich um das Betriebsklima in der SZ. Die SZ fürchtet derweil, dass Benjamin Netanjahu eine "schleichende" neue Nakba plant.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.02.2024 finden Sie hier

Europa

Es ist höchste Zeit, die Idee einer Selbstverteidigung Europas neu zu überdenken, fordert Timothy Garton Ash im Guardian. Auch über atomare Aufrüstung müsse nachgedacht werden, so Ash weiter. Was, wenn ein US-Präsident Trump "die Glaubwürdigkeit der amerikanischen nuklearen Abschreckung zur Verteidigung der baltischen Staaten untergräbt? So unwahrscheinlich dieser Fall auch ist, müssen wir anfangen, mehr über europäische nukleare Abschreckung nachzudenken. Im Rahmen des Nassau-Abkommens von 1962 wird Großbritanniens eher klobiges altes nukleares Abschreckungsmittel der Nato zur Verfügung gestellt, was sich theoretisch auch auf die Verteidigung der baltischen Staaten auswirkt - obwohl die endgültige Entscheidung beim britischen Premierminister liegt. Frankreichs Nukleardoktrin legt nicht fest, über wen genau der Präsident seinen nuklearen Schirm ausbreiten wird. 'Mourir pour Dantzig?' lautete die berüchtigte Schlagzeile eines französischen Zeitungsartikels aus dem Jahr 1939, in dem argumentiert wurde, dass französische Soldaten nicht aufgefordert werden sollten, für die damalige Freie Stadt Danzig (das heutige Gdańsk) zu sterben. 'Mourir pour Narva?' wäre jetzt die Frage - Narva ist eine estnische Stadt direkt an der Grenze zu Russland. Keine andere europäische Macht verfügt über eine nukleare Abschreckung."

Der eigene Rassismus wird heute ständig hinterfragt, für tief sitzende antisemitische Stereotype gilt das allerdings nicht, hält Steffen Greiner in der taz fest: "Statt neue Narrationen linker Kritik zu finden, fließt Energie in die Abwehr eines Eingeständnisses, wie tief der Antisemitismus das Denken post-monotheistischer Gesellschaften durchzieht. Statt die eigentlich selbstverständlichen Hausaufgaben zu machen, durch Selbstreflexion und Aufklärungsarbeit ein mörderisches Diskriminierungsmuster auszulöschen, diskutieren Linke in Deutschland seit Wochen über Detailfragen der Kritik am Staat Israel. Denn bei aller Skepsis gegenüber der mittlerweile wieder abgeblasenen Berliner Antidiskriminierungklausel: Man hätte sie auch, zumindest im Nebeneffekt, zum Anlass nehmen können, sich zu hinterfragen, warum eine anerkannte Antisemitismusdefinitionen die eigene Position als antisemitisch einstuft, statt diese Einordnung zu skandalisieren und das auch noch mit der Erzählungen einer einflussreichen zionistischen Lobby. Es scheint ein größeres Interesse daran zu geben zu verhindern, antisemitisch genannt zu werden, statt an einer Kritik zu arbeiten, in der israelische Politik und Geschichte nicht antisemitisch interpretiert wird."

Maximal ein dreimonatiges Hausverbot kann nach Berliner Hochschulrecht gegen den Studenten verhängt werden, der seinen jüdischen Kommilitonen krankenhausreif prügelte, berichtet Klaus Hillenbrand in der taz kopfschüttelnd darüber, wie in diesem Land "mit notorischen Antisemiten umgegangen" wird: "Wenn es aber konkret wird, wenn Juden in Deutschland geschlagen, bedroht und eingeschüchtert werden, wenn Judenhass öffentlich verbreitet wird, dann sind die Reaktionen verdruckst. Schließlich ist das Verteilen von Süßigkeiten anlässlich eines Massakers nicht strafbar. Schließlich haben Beamte noch viele andere wichtige Aufgaben zu bewältigen, als nur den Judenhass zu verfolgen. Schließlich kann auch eine Uni-Leitung nicht jedem Vorfall akribisch nachgehen."

Erdogans Wirtschaftspolitik treibt die Türkei in den Ruin, notiert Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne: "Nach Angaben des dem Palast unterstellten Statistikamts hat die Ungleichheit der Einkommensverteilung einen historischen Höhepunkt erreicht. Die reichsten 20 Prozent im Land verdienen 50 Prozent des Gesamteinkommens. Die ärmsten 20 Prozent nur 5,9 Prozent davon. Erdogan ist mit den Stimmen der Unter- und Mittelschicht seit 21 Jahren an der Regierung, den Mittelstand hat er nahezu eliminiert, die Reichen reicher und die Armen noch ärmer gemacht. 'Warum wählen ihn die Leute denn immer noch, wenn er breite Kreise ärmer macht?', fragen Sie sich. Das fragen Sie sich zu Recht. Doch Sie verlieren aus dem Blick, wie meisterhaft Erdogan es versteht, religiöse Gefühle und Nationalismus zu instrumentalisieren. Im letzten Jahr lag der Etat der staatlichen Religionsbehörde Diyanet drei Mal höher als der des Kultusministeriums. 2024 stieg er auf ganze 2,8 Milliarden Euro. Von unseren Steuern bezahlte Imame verkünden in ihren Freitagspredigten, wie hehr doch die Armut sei und dass auf die Duldsamen im Paradies 'gerade erst pubertierende Mädchen' warten."

Wolodymyr Selenskyj wird wohl den obersten Befehlhaber der ukrainischen Armee, Walerij Saluschnyj, entlassen. Das war vielleicht seine "bislang beste Personalentscheidung", schreibt Denis Trubetskoy auf Zeit Online. Saluschnyj genießt eine Art Kultstatus in der Bevölkerung, fiel aber in der Vergangenheit durch verschiedene Vertrauensbrüche auf, so Trubetskoy. Eine Auswechslung des Personals war generell überfällig: "Saluschnyj hatte sich seinerseits mehrfach öffentlich über die Entscheidung Selenskyjs aus dem letzten Sommer beklagt, alle Chefs der ukrainischen Rekrutierungsbüros zu entlassen. Dazu kam es nach mehreren Korruptionsskandalen und weil die Wehrämter systematisch zu wenig neue Soldaten eingezogen haben. Die Entlassungswelle war tatsächlich ein radikaler Schritt. Nötig wurde dieser aber erst, weil die Armeeführung um Saluschnyj und den früheren Verteidigungsminister Oleksij Resnikow Reformen in diesem Bereich, etwa eine Digitalisierung des Einberufungswesens, kaum vorangetrieben hat."
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Medien

Der TikTok-Algorithmus begünstigt Terrorpropaganda, Falschinformationen, Verschwörungsideologien und Hassrede, entnimmt Mina Marshall in der FAZ dem Report "Die TikTok-Intifada - Der 7. Oktober & die Folgen im Netz" der Bildungsstätte Anne Frank: "Tiktok überlässt das Feld Judenhassern jeglicher Couleur, Islamisten wie Rechtsextremisten, heißt es in dem Report der Bildungsstätte. Das Netzwerk werde im öffentlichen Diskurs und in der Kulturberichterstattung zu wenig oder fast gar nicht problematisiert. Tiktok sei ein 'unbekanntes Massenmedium' und damit ein idealer Nährboden für Extremisten, die sich in die endlose Kurzvideoschleife einfügen, ohne hinterfragt zu werden. Das nutzten auch AfD-Politiker. Ihre Partei ist die reichweitenstärkste der deutschen Parteien auf Tiktok. Das alles trage zu einer Art 'Speed-Radikalisierung' junger Menschen bei. 'Kein anderes soziales Medium versorgt so eine vulnerable Zielgruppe mit derart verstörendem Content', sagt Deborah Schnabel, Direktorin der Bildungsstätte. Lehrer berichteten, wie Schüler 'plötzlich mit terrorverharmlosenden, israelfeindlichen, antisemitischen und unverrückbaren Positionen zum Nahostkonflikt in die Schule kommen - als hätten sie sich über Nacht radikalisiert'. 70 Prozent der Tiktok-Nutzer sind zwischen 16 und 24 Jahren alt."

Zeit Online meldet mit dpa, dass die Doktorarbeit der stellvertrenden Chefredakteurin der SZ, Alexandra Föderl-Schmid, nach Plagiatsvorwürfen (unser Resümee) vom Kommunikationswissenschaftler Stefan Weber geprüft wird. Der Auftrag kam vom Medienportal Nius, für das auch der ehemalige Bild-Chefredakteur Julian Reichelt arbeitet.

Die Redaktion der Süddeutschen Zeitung hätte sich in der Affäre um eine Abhöraktion vorrangig auf die Plagiatsvorwürfe gegen Alexandra Föderl-Schmid konzentrieren müssen, meint Christian Meier in der Welt. Die Suche nach dem "Maulwurf" lenke von der größeren Frage nach journalistischer Glaubwürdigkeit ab: "Wohl aber wäre ein möglicher Plagiatsfall von öffentlichem Interesse. Hier hat sich die SZ in ein Dilemma manövriert. Statt sich um Vertrauensbrüche in den eigenen Reihen, so bedenklich diese aus interner Sicht auch sein mögen, zu kümmern, hätte die Aufklärung des ursprünglichen Vorwurfs eher Priorität gehabt. Fälle wie diese treffen den Journalismus schließlich an seiner empfindlichsten Stelle, der Glaubwürdigkeit. Jetzt aber ist die Debatte aus dem Ruder gelaufen. Vertrauensbruch hier, Verletzungen redaktioneller Standards da, Misstrauen gegenüber den eigenen Mitarbeitern dort. Bis das Betriebsklima bei der Süddeutschen Zeitung wieder auf Normaltemperatur ist, dürfte es etwas dauern."

Weitere Artikel: Eine BBC-Angestellte, die auf Facebook und X antisemitische Hetze, Holocaustleugnung und Nazivergleiche verbreitete, ist vom Sender entlassen worden, meldet Daniel Zylbersztajn-Lewandowski in der taz. Kein Einzelfall: "Weitere Beispiele antisemitischer Posts von BBC-Angestellten wurden in britischen Medien berichtet, vor allen von Einzelpersonen aus dem arabischsprachigen Dienst der BBC. Es ist nicht klar, wie vehement die BBC gegen sie vorging."
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Politik

Tomas Avenarius hält es in der SZ für möglich, dass die "radikalen" Politiker im Kabinett um Benjamin Netanjahu eine "schleichende Vertreibung" der Palästinenser aus dem Gaza-Streifen anvisieren: "Nun aber wird in den Umrissen eine Art neue Nakba vorstellbar. Denn eine Vertreibung muss nicht mit vorgehaltener Waffe vollzogen werden. Sie kann schleichend kommen. Etwa, indem Israel die Lebensbedingungen so verschlechtert, dass ein Teil der Gaza-Palästinenser gehen müsste, um des Überlebens willen. Noch weigert sich Ägypten, seine Grenze zu öffnen. Aber der Druck steigt. Und Israel tut wenig, um den 2,3 Millionen Ausgebombten in Gaza ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Die Massivität der Bombardements, die Zerstörung von etwa 50 Prozent des Wohnraumes und vieler landwirtschaftlicher Flächen sprechen für sich. Ein Leben in Gaza wird so de facto unmöglich gemacht."

Nordkorea "scheint den Weg der DDR" einschlagen zu wollen, berichtet Hoo Nam Seelmann in der NZZ. Bisher war eine Wiedervereinigung immer noch eine Option, obwohl das wirtschaftliche und ideologische Gefälle zwischen Nord und Süd immer größer wurde: "Nun hat die nordkoreanische Seite bekanntgegeben, dass sie keine Wiedervereinigung mehr mit dem Süden wolle. Ganz offiziell wurde dies verkündet. Neu wird auch bestritten, dass die Koreaner ein gemeinsames Volk bilden würden. Das Wort 'Wiedervereinigung" ist aus der Verfassung gestrichen worden und soll auch aus dem offiziellen Sprachgebrauch verschwinden. Alle Institutionen und offiziellen Kommunikationskanäle, die mit dem Thema zu tun hatten, wurden geschlossen. Sogar ein Monument, das dem gemeinsamen Wunsch nach Wiedervereinigung Ausdruck gab, wurde im Januar abmontiert."
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Wissenschaft

Am Freitag verlieh das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit Bernhard Kempen, der bis vergangenes Jahr Präsident des deutschen Hochschulverbandes war, den erstmals gestifteten Preis für Wissenschaftsfreiheit. Gefeiert wurde auch der eigene Erfolg, weiß Thomas Thiel auf den "Forschung und Lehre"-Seiten der FAZ: "Seine liberale Grundidee verpflichtet das Netzwerk zur Anerkennung eines breiten Meinungsspektrums. Wie weit dieses reichen sollte, machte Kempen in seiner Preisrede klar. An einer Universität müsse die Meinung, die Gesellschaft sei von strukturellem Rassismus durchzogen, genauso geäußert werden können wie die Ansicht, das Genderparadigma sei pure Ideologie. Die Grenze setze in beiden Fällen das Strafrecht. Diese Grenze wurde in den vergangenen Jahren vielfach überschritten: durch Mobs, die Wissenschaftler auf brüchiger Faktenbasis als Unmenschen diffamierten. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn die Aktivisten nicht auf den Rückhalt von Wissenschaftlern und Theorien zählen könnten, welche die Welt entlang simpelster Vorstellungen in gut und böse einteilen, worauf die zweite Vorsitzende des Netzwerks, Susanne Schröter, in ihrer Laudatio hinwies."
Archiv: Wissenschaft

Ideen

Den Weg für die völkischen Pläne der Rechten bereitete der rechte Schweizer Publizist Armin Mohler, erinnert Claus Leggewie im Spiegel: "Das völkische Credo der Neuen Rechten formulierte Mohler so: 'Die Konservativen müssen in die Schicht der Wirklichkeit eintauchen, die entscheidend ist: Ich meine das Volk und die Nation. Die Todsünde des Nachkriegskonservatismus bestand darin, dass er glaubte, die Aufgabe der Wiedergewinnung nationaler Identität vernachlässigen zu können, mit Rücksicht auf Hitler und die Vergangenheit. Das ist heute buchstäblich leergeredet. Was jetzt kommt, ist nur noch: Politik.' (…) Mohlers Fixierung auf die 'Vergangenheitsbewältigung' hatte zum Ziel, die radikale Rechte zumindest an der Oberfläche von der Nähe zu Faschismus und Nationalsozialismus zu befreien; er wollte den christlich-abendländischen 'Gärtnerkonservatismus' der Nachkriegszeit hinter sich lassen, um einen antiwestlichen (und prorussischen) Kurs einzuschlagen und sich mit der Ausschlachtung des Megathemas Migration an die Macht zu bringen."
Archiv: Ideen