9punkt - Die Debattenrundschau

Hohes Maß an inhaltlichen Gemeinsamkeiten

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.01.2024. Im Tagesspiegel fordert Francis Fukuyama Waffenstillstand in Nahost. In der Welt widerspricht Michael Wolffsohn seinem Kollegen Moshe Zimmermann, der in Haaretz behauptet hatte, die "zionistische Lösung" sei gescheitert. Die Zweistaatenlösung dient nur dem Nationalismus, glaubt in der SZ der israelische Schriftsteller Tomer Dotan-Dreyfus. Ebenfalls in der SZ fordert Ronen Steinke Anklagen aus Den Haag sowohl gegen den Militärführer der Hamas als auch gegen "Hetzer" im Kabinett Netanjahus. In der taz ermuntert der Sozialwissenschaftler David Begrich zum Kampf gegen die AfD.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.01.2024 finden Sie hier

Politik

Die Zionismus hatte den Juden weltweit nur Sicherheit vor "innenpolitischer Verfolgung, Diskriminierung und Liquidierung" versprochen und tut es noch heute, widerspricht in der Welt der Historiker Michael Wolffsohn seinem Kollegen Moshe Zimmermann, der in Haaretz behauptet hatte, die "zionistische Lösung" sei gescheitert: "Wie unsicher jüdische Existenz außerhalb Israels ist, sehen, lesen, hören und erleben wir nach dem 7. Oktober 2023 täglich. Eine antijüdische Hass-und-Massen-Demonstration nach der anderen. Weltweit. Verbale und körperliche Drohungen gegen die jeweilige jüdische Minderheit gehören selbst in Westeuropa und den USA zum Alltag. In dieser Wirklichkeit ist gerade der Zionismus die Lösung für Juden - die einzige Lösung. Polizei und Justiz wollen ihre Juden schützen, können es aber offensichtlich nicht. Jüdisches Leben ist seit rund dreitausend Jahren - also bereits tausend Jahre vor der vom Römischen Weltreich im Jahre 70 n. Chr. erzwungenen europäischen Diaspora - Existenz auf Widerruf."

"Man hat das Gefühl, dass die Vereinigten Staaten sehr heuchlerisch sind, wenn sie die Ukraine unterstützen, aber nicht das palästinensische Volk", sagt Francis Fukuyama im Tagesspiegel-Gespräch, in dem er auch einen Waffenstillstand in Nahost fordert: "Die liberale Demokratie in Israel hat diese extrem konservative und populistische Koalition unter Benjamin Netanjahu hervorgebracht. Ich glaube, dass vielen Leuten in dieser Koalition die palästinensischen Opfer leider ziemlich egal sind. In einer Demokratie gibt es eine Reihe von Ansichten, und einige davon sind sehr extremistisch. Leider sind sie diejenigen, die die Ziele im aktuellen Krieg gegen die Hamas vorgeben." Er glaube nicht, dass Netanjahu einen Plan habe: "Ich glaube nicht, dass irgendjemand eine langfristige Strategie formulieren kann, die dieser Region Frieden bringen wird. Die Israelis haben bereits 2008 versucht, sich aus dem Gazastreifen zurückzuziehen und diesen in die Selbstverwaltung zu überführen. Das hat nicht funktioniert. Es funktioniert auch nicht, wenn Israel dieses Gebiet regiert. Das haben sie schon einmal versucht, und es war sehr kostspielig. Die Israelis sitzen gewissermaßen in der Klemme, weil es keine langfristige Lösung für den Konflikt gibt."

In Deutschland mag die Zweistaatenlösung noch ein Thema sein, im Netanjahu-Israel ist sie es längst nicht mehr, meint der israelische Schriftsteller Tomer Dotan-Dreyfus, der in der SZ selbst wenig mit der Idee anfangen kann: "Diese Konzeption von Eigentum, als wäre etwas meins nur dann, wenn es nur meins ist, vereint zwei europäische Ideen: den Kapitalismus und den Nationalstaat. (…) Wenn es nach dem Krieg zwei Nationalstaaten gäbe, verspräche das weder den Israelis noch den Palästinensern Sicherheit. Der einzige Gewinner einer solchen Lösung wäre der Nationalismus, der sich noch einmal bestätigt sähe als die einzige Möglichkeit, in der eine Nation sich selbst bestimmen kann. Hannah Arendt war sich dessen bewusst, als sie für einen Binationalismus in Israel und Palästina eintrat. Sie befürwortete eine 'jüdische nationale Heimat' anstatt eines 'jüdischen Nationalstaats'. 1944 bezweifelte die Politikwissenschaftlerin in einem Artikel im Menorah Journal unter dem Titel 'Zionism Reconsidered' die Idee eines Nationalstaats in Palästina und behauptete, es sei genau dieser Nationalismus, der die Katastrophe in Europa evoziert habe. Nationalstaaten führen zu 'nationalen Konflikten', schrieb sie."

Worauf wartet Den Haag, fragt Ronen Steinke ebenfalls in der SZ. Der Haftbefehl gegen den Militärchef der Hamas ist längst überfällig, aber auch israelische Verstöße gegen das Völkerrecht gilt es anzuklagen, so Steinke: "Jene israelischen Taten, die eindeutig kriminell sind - der Terror rechtsradikaler Siedler im Westjordanland gegen Palästinenser etwa -, sind nicht ohne Weiteres der Militärführung anzulasten. Das macht es schwierig, eine politische Führungsfigur zu benennen, die für sie Verantwortung trägt. Aber eine Antwort gibt es auch hier. Herr Ben-Gvir zum Beispiel, Vorname Itamar, geboren 1976 in Mewasseret Zion. Israels Polizeiminister also. Oder Herr Smotrich, Vorname Bezalel, geboren 1980 auf den Golanhöhen. Israels Finanzminister, auch zuständig für Siedlungen. Die beiden Rechtsradikalen in Benjamin Netanjahus Kabinett sind Hetzer im Staatsamt, jüngst riefen sie sogar dazu auf, den Gazastreifen zu entvölkern und mit Israelis neu zu besiedeln. Vielleicht sollte man sie daran erinnern, dass die Besiedlung besetzter Gebiete nicht bloß völkerrechtswidrig ist. Sondern auch strafbar, als Kriegsverbrechen nach dem Statut des Weltstrafgerichts."

Der Angriff der Hamas triggert ein historisches Trauma in Israel, erklärt der Psychologe Andreas Maercker, der im NZZ-Gespräch auch darlegt, weshalb noch in nachfolgenden Generationen historische Traumata eine Rolle spielen: "Da spielt die fortgesetzte Diskriminierung eine Rolle. Werden die Nachkommen der Opfer weiter unterdrückt, bleiben die historischen Traumata bestehen. Dazu kommt, dass Botschaften, die einmal Überlebensstrategien waren, an die nächsten Generationen weitergegeben werden. Zum Beispiel 'Falle politisch nicht auf' oder 'Sprich nicht über die Unterdrückung deiner Familie'. Die Nachkommen der Opfer verfügen oft über keine oder nur dysfunktionale Opfererzählungen."
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Gesellschaft

Es ist mehr als wahrscheinlich, dass die AfD am Ende des Jahres in mehreren Bundesländern mitregieren wird. Darauf muss man sich einstellen, ermuntert in der taz der Theologe und Sozialwissenschaftler David Begrich, und vor allem ihre Niederlagen studieren: "Die AfD will ihrer Wählerschaft weismachen, sie könne die Menschen vor der gesamten Symptomatik der gegenwärtigen Krisen beschirmen. Alle Umfragen zur Kompetenz der AfD zeigen, dass die Menschen der Partei das eigentlich nicht zutrauen. Dies bedeutet, dass die AfD gerade kommunalpolitisch alles andere als unbesiegbar ist. Lokal gut vernetzte Kommunalpolitiker können gegenüber der AfD offensiv ihre Stärke ausspielen. Ihre Präsenz und Ansprechbarkeit in überschaubaren Sozialräumen, umfängliche Ortskenntnis und persönliche Authentizität können das von rechts verbreitete Bild von den vom 'wahren Leben' enthobenen Bürokraten korrigieren."

Simon Strauß blickt in der FAZ auf die Galgen und an Lynchopfer erinnernden baumelnden Gummistiefel, mit der einige Bauern ihren Protest gegen die Subventionskürzungen ausdrücken. Alles nicht so gemeint? "Im Gegenteil: Die Ästhetik ihres Widerstands ist grell, laut und martialisch. Sie bedient sich der Mittel der Einschüchterung und des Erschreckens. Darin - und nicht im angeblich unterschiedlichen gesellschaftlichen Rückhalt - liegt der zentrale Unterschied zu den Aktionen der Klimakleber. Protest bedeutet für die Bauern nicht nur auf der Metaebene: Kampf."
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Stichwörter: AfD

Geschichte

Erst die Politik der Perestroika ermöglichte Juden in Russland eine freie Ausübung der jüdischen Religion, "deren Unterdrückung spätestens seit Stalins antisemitischer Kampagne von 1948 bis 1953 zum Verlust der jiddischen Kultur, der Muttersprache sowie zur erzwungenen Assimilation der meisten Juden geführt hatte", erinnert Sonja Margolina in der NZZ. Zugleich verließen viele Juden unter Gorbatschow das Land: "Während sich immer mehr postsowjetische Juden vor dem Hintergrund von Privatisierungschaos, 'Schocktherapie', Raubzügen von Gelderpressern und nicht ausgezahlten Löhnen auf den Weg nach Israel, nach Deutschland oder in die USA machten, fand in Boris Jelzins bankrottem Staat ein Aufstieg jüdischer Oligarchen statt. Sie waren es, die staatliche Unternehmen, vor allem Ölkonzerne und Industriebetriebe, aber auch Fernsehkanäle unter Mithilfe des Präsidenten und seiner ultraliberalen Berater für einen Apfel und ein Ei übernahmen. Als Gegenleistung sollten sie insbesondere die kommunistische Opposition von der Macht fernhalten sowie Jelzins Wiederwahl zum Präsidenten, damit aber auch ihre eigenen Reichtümer, sichern. Diese Zusammenballung der Profiteure war eine Steilvorlage für ein Wiedererwachen des Antisemitismus in der russischen Gesellschaft: Zu exponiert waren die Besitzer der Fernsehkanäle, zu ungeniert führten sie ihren Einfluss auf die ums Überleben kämpfende Bevölkerung vor Augen."
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Kulturmarkt

Die Selfpublishing-Branche hat sich in den letzten Jahren deutlich professionalisiert, stellt die Literaturwissenschaftlerin Erika Thomalla in der FAZ fest. Ihre Bücher sind von denen der etablierten Verlage oft kaum noch zu unterscheiden. Diese sollten das Phänomen nicht unterschätzen, warnt sie und erklärt das Erfolgsrezept der Selbstverleger am Beispiel von Nomad Publishing: "Die meisten Gecoachten sind nicht etwa Menschen, die davon träumen, endlich ihr Manuskript zu veröffentlichen - sondern es sind überwiegend solche, die mit Literatur oder Büchern noch nie etwas zu tun hatten, aber Geld mit Amazon verdienen möchten. Dabei wird nichts dem Zufall überlassen. Nomad Publishing identifiziert mithilfe digitaler Analysewerkzeuge Nischenthemen im Sachbuchbereich, also Themen, bei denen es eine Nachfrage gibt, zu denen es aber noch keine Publikation mit sehr hohen Verkaufszahlen gibt. Diese Themen werden dann als Schreibaufträge an Experten weitergegeben: 'Wenn wir beispielsweise herausfinden, dass es eine Marktnische im Bereich Hundeerziehung gibt, sprechen wir Hundetrainer an und bieten ihnen an, einen Text für uns zu verfassen.'"
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Ideen

Der Rückgriff aufs "Gemeinwohl" war lange eine Taktik der Linken, mit der Grundrechte eingeschränkt werden konnten, um größere Ziele durchzusetzen: "Wollen Wissenschaftler das Rechtsverständnis ändern, gelingt dies oft durch die Einbringung von Theorie aus Nachbarfächern: so bei der ökonomischen Analyse in Zivil- und Wirtschaftsrecht oder der Gender-Theorie im Verfassungsrecht", erklärt der Verfassungsrechtler Jannis Lennartz in der FAZ. Jetzt übernehmen zunehmend Rechte in den USA und Europa diese Strategie, um "Gemeinwohl" in ihrem Sinne - "family, nation, God, what is common" - durchzusetzen. Aber damit werden sie wohl nicht weit kommen, beruhigt Lennartz: "Aus der historischen Verbindung zwischen römischem Privatrecht und christlichem Naturrecht folgt noch kein hohes Maß an inhaltlichen Gemeinsamkeiten - die Frage, wie man einen abredewidrig nicht freigelassenen Sklaven herausverlangen kann, weist keine große Nähe zu Thomas von Aquins Vorstellung von gerechter Herrschaft auf. Zwar gibt es keinen Mangel an Gemeinwohlbezügen bei verschiedenen Autoren. Aber ein einheitlicher Begriff und Maßstäbe, die sich juristisch sicher verwenden lassen, folgen daraus nicht."

Antonio Gramscis Idee einer kulturellen Hegemonie, also die Theorie, dass erst die Besetzung des vorpolitischen Raums wie Kunst, Medien oder Philosophie politische Macht sichert, ist virulenter denn je, konstatiert Marc Reichwein in der Welt: "Heute, in Zeiten von Social Media, sind die 'Mentalitäten und Moralvorstellungen des Volkes', von denen Gramsci sprach, eine Medienkultur der Vielen, in jeder Timeline von TikTok bis Instagram zu beobachten und zu bespielen. Das Gefühl, das heute alle mitsprechen und allem ihre Meinung artikulieren dürfen, ist auf eine Weise eine wahr gewordene Gramsci-Utopie. Denn von Gramsci stammt ja das Diktum 'Alle Menschen sind Intellektuelle'. Aber von Gramsci stammt auch der Satz 'Nicht alle Menschen haben in der Gesellschaft die Funktion von Intellektuellen.' An dieser Stelle ist es interessant zu beobachten, wie oft Kommunikation in den sozialen Netzwerken kultureller Hegemonie bis heute dienlich ist. Denkfabriken, Verlage, Bücher, Theorien, Musik, ja sogar Design - man kann alles in den Dienst einer Gesinnung, Haltung oder kulturellen Hegemonie stellen. Reichwein warnt auch: "Das Endziel aller Hegemonie-Träume à la Gramsci bleibt antidemokratisch und illiberal: eine Diktatur der Inhalte, Begriffe und Ideen im Sinne der jeweils eigenen gesellschaftlichen Gruppe."
Archiv: Ideen