9punkt - Die Debattenrundschau

Kultur der kalten Augen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.12.2023. Wenn es je einen "deep state" gab, dann den der Hamas im Gazastreifen, sagt Herta Müller in der NZZ. Und die Hamas brauche das Elend der Palästinenser, um existieren zu können. Die New York Times kritisiert die israelische Kriegsführung mit massiven Bomben in Wohngebieten. Der Spiegel sieht mehr Zerstörung als in Deutschland im Zweiten Weltkrieg - nur die Ruhrbarone bestreiten das. Marcel Beyer protestiert in der FAS gegen die deutsche Empathielosigkeit mit Blick auf Ukraine und Israel.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.12.2023 finden Sie hier

Politik

Der UN-Sicherheitsrat hat gestern Abend eine Resolution beschlossen, an deren Text intensiv gefeilt wurde, damit die USA kein Veto einlegen, berichtet unter anderem die Zeit. Die Resolution kritisiert Israel, die Terrortaten der Hamas werden nicht thematisiert: "Insgesamt stimmten 13 der 15 Länder für den Text. Neben den USA enthielt sich Russland. Der völkerrechtlich bindende Beschluss fordert Israel dazu auf, 'unverzüglich einen sicheren und ungehinderten humanitären Zugang' in den Gazastreifen zu ermöglichen. Auch müssten die Voraussetzungen für eine nachhaltige Einstellung der Gewalt geschaffen werden."

Vor dem Hintergrund der Resolution berichteten die Medien noch intensiver über die Lage im Gazastreifen.

Die New York Times wirft Israel in einem Video vor, viel zu massive Munition für bewohnte Gebiete zu benutzen: "Die Videountersuchung konzentriert sich auf den Einsatz von 2.000-Pfund-Bomben in einem Gebiet im südlichen Gazastreifen, in dem Israel Zivilisten aufgefordert hatte, sich in Sicherheit zu bringen. Bomben dieser Größe werden zwar von mehreren westlichen Streitkräften eingesetzt, aber laut Munitionsexperten werden sie von den US-Streitkräften fast nie mehr in dicht besiedelten Gebieten abgeworfen." Laut Times-Bericht könnte Israel auch kleiner Bomben einsetzen, Israel begründet den Einsatz dieser Bomben damit, dass es die Tunnelsysteme der Hamas zerstören will."

Der Spiegel wird noch wesentlich massiver und bereitet eine Tickermeldung ganz groß auf: Israel führe laut Experten "eine der zerstörerischsten Offensiven der Geschichte": "In nur etwas mehr als zwei Monaten hat die israelische Offensive einer Analyse von Satellitendaten zufolge mehr Zerstörung angerichtet als die Angriffe auf das syrische Aleppo zwischen 2012 und 2016, die Belagerung der ukrainischen Stadt Mariupol oder, relativ gesehen, die alliierten Bombenangriffe auf Deutschland im Zweiten Weltkrieg."

Stefan Laurin rechnet bei den Ruhrbaronen nach. Der Spiegel spricht von einer Zerstörung von 33 Prozent der Gebäude im Gazastreifen. Das sei allerdings nicht massiver als im Zweiten Weltkrieg: "Spitzenwerte im Zweiten Weltkrieg lagen .. deutlich höher: Stalingrad wurde von der Wehrmacht nach Einschätzung des Bundesarchivs weitgehend zerstört, was deutlich mehr als 33 Prozent ist. Yokohama wurde an einem Tag zu 90 Prozent zerstört, Warschau zu 85 Prozent und Hull zu 95 Prozent. Wer einen Zerstörungsgrad von 33 Prozent bei einer Ansammlung von Städten mit zwei Millionen Einwohnern auf einer Fläche, die mit 360 Quadratkilometern deutlich kleiner ist als Köln mit 405 Quadratkilometern, als das Ergebnis einer der zerstörerischsten Militärkampagnen der Geschichte bezeichnet, hat ein Problem mit Zahlen."

Herta Müller benennt im Gespräch mit Paul Jandl in der NZZ die Verantwortung der Hamas für die Lage in Gaza: "Wenn der Begriff des Deep State einen Sinn ergibt, dann hier. Die Hamas hat einen tiefen Staat, und der liegt fünfzig Meter unter der Erde. Die Armut der Palästinenser ist programmiert. Die Hamas ist auf dieses System angewiesen, um überhaupt existieren zu können." Müller kommt auch auf die religiöse Überhöhung zu sprechen, mit der den Tätern die Lizenz zur Mordlust gegeben wird. Sie trifft für sie nicht nur auf den Islamismus zu, sondern auch auf Putin und seinen Krieg in der Ukraine: "Besonders loyal gegenüber Putin ist die russisch-orthodoxe Kirche. Sie spielt bei der ideologischen Aufrüstung im Ukraine-Krieg eine unsägliche Rolle und erreicht damit das ganze Volk. Das Wort Sühne wird in einem religiösen Sinn verwendet. Und Putin sagt den russischen Müttern: Der Tod als Soldat in der Ukraine ist ein Höhepunkt des Lebens. Die Menschen werden in diese Verbrechen hineinverflochten mit einer sakralen und gleichzeitig brutalisierten Sprache."
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Gesellschaft

Der Schriftsteller Marcel Beyer erzählt in der FAS von seinem Besuch beim Schriftstellertreffen "Eine Brücke aus Papier" im unmittelbar an der Grenze zur Slowakei gelegenen Uschhorod in der Ukraine - und ihm stockt regelrecht der Atem, wenn er die Gesten des Zusammenhalts und der Solidarität, die er dort erlebt hat, mit der Meckerlaune und allgemeinen Gleichgültigkeit in Deutschland vergleicht. Seit diesen Eindrücken "fürchte ich mich nur noch mehr vor einer Kultur der kalten Augen, wie sie sich auch in Deutschland zu erkennen gibt. Wenig war hier von echten wie von selbsternannten Intellektuellen zu hören, als die russische Armee die Gedenkstätte Babyn Jar im Nordwesten von Kiew bombardierte. Als der russische Außenminister herumschwadronierte, nicht nur Wolodimir Selenski, auch Adolf Hitler könne jüdischer Herkunft gewesen sein. Als der russische Präsident erklärte, die Perfidie des westlichen Strebens nach Weltherrschaft bestehe gerade darin, an die Spitze eines faschistischen Regimes in Kiew einen Juden zu setzen. Ich erkenne keine Beunruhigung in der deutschen Öffentlichkeit darüber, dass Iran, das sich die Vernichtung Israels zum Ziel gesetzt hat, mitten in Europa an einem Vernichtungskrieg beteiligt ist. Stattdessen gefällt man sich darin, von unrealistischen, unangebrachten 'Maximalforderungen' zu reden, wenn der ukrainische Präsident auf der territorialen Integrität des Landes besteht."

In der DDR verdrängten die wenigen verbliebenen Juden das Jüdische, und Antisemitismus konnte es ja im Antifaschismus nicht geben, erinnert sich Lea Streisand in der taz, Urenkelin des letzten deutschen Streisand, der die Nazis überlebte. Der 7. Oktober war für sie eigentlich DDR-Geburtstag, bis zu diesem Jahr. "Stellt euch meine Überraschung nach dem 7. Oktober vor, als ich erfuhr, dass es anderen genauso geht wie mir. In meiner Familie wird über die jüdischen Vorfahren nur in unbeendeten Sätzen geredet. Als ich meiner Mutter jüngst erzählte, ich hätte auf offener Bühne Anfeindungen für einen Text über Antisemitismus erfahren, meinte sie mitfühlend: 'Ja schlimm, aber wenn du dich so exponierst...' Ihr war klar, dass man Hass erntet, wenn man die jüdische Position einnimmt."
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Kulturpolitik

Wenn man überlegt, mit welcher Hingabe die Öffentlichkeit fragte, ob Hubert Aiwanger im Alter von 17 Jahren ein Flugblatt verfasst hat, das als antisemitisch ausgelegt werden muss, staunt man über die Gelassenheit, mit welcher Hochschulen zum Beispiel Äußerungen wie "Zionism is the new Nazism" von Professoren hinnehmen. Die Rede ist von dem berühmten, an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe lehrenden Fotografen Adam Broomberg (Fotolot, hier und hier), der auf Instagram gern Verschwörungstheorien postet wie die, dass die Israelis die Geschichte mit den geköpften Babys nur inszeniert hätten. Boris Pofalla für die Welt hat beim Land Baden-Württemberg nachgefragt, das die sehr unwillige Hochschule nun offenbar aufgefordert hat, die Vorgänge rechtlich zu prüfen: "Das klingt, als schätze das Ministerium die Aussage 'Zionismus ist der neue Nazismus' als potenziell strafbar ein. Und es lässt durchblicken, dass man die Untätigkeit der Hochschule für ein Problem hält. Spätestens seit den Ereignissen an anderen Universitäten in den letzten Wochen, bei denen Aktivisten mit blutrot bemalten Händen den Präsidenten der Universität der Künste in Berlin niederschrien und an der FU einen Hörsaal besetzten, stehen die Hochschulen im Fokus der Politik. Es mangelt nicht an Erklärungen und Beschlüssen zum Thema, wie ihn etwa die Kulturministerkonferenz am 8. Dezember 2023 fasste."
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Ideen

An der Singularität des Holocaust ist sehr wohl festzuhalten, schreibt Richard Herzinger in einem Essay für die Zeitschrift Internationale Politik. Vergleiche sind erlaubt, ja geboten. Allerdings komme es sehr darauf an, wo und wie verglichen wird: "Wie mit der Singularität des Holocaust umzugehen ist, stellt alles andere als eine abstrakte theoretische Frage dar. Denn der Kampf um die Deutungshoheit über die Geschichte ist zu einem wesentlichen machtpolitischen Faktor in der internationalen Politik geworden. Wie die Vergangenheit betrachtet und welche Lehren aus ihr gezogen werden, bestimmt maßgeblich die Normen und Werte, auf die sich die globale Ordnung gründet."

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Der moderne Antisemitismus bedient sich immer noch großzügig aus dem Fundus des Christentums, schreibt Tilman Tarach, Autor des Buchs "Teuflische Allmacht - Über die verleugneten christlichen Wurzeln des modernen Antisemitismus und Antizionismus" in der taz. Der Urtext des Antisemitismus ist für ihn das Neue Testament: "Die historisch unhaltbare Erzählung des Neuen Testaments, wonach der unschuldige römische Statthalter auf Druck der Juden Jesus hinrichten ließ, nachdem ihn der vom jüdischen Hohepriester bestochene Judas verraten hatte, imaginiert die Juden als die Strippenzieher hinter den Entscheidungen der römischen Obrigkeit: Den Nazarener, so heißt es in der Apostelgeschichte, hätten die Juden 'durch die Hand von Gesetzlosen ans Kreuz geschlagen'. Die 'Gesetzlosen', also die ohne das mosaische Gesetz lebenden Römer, erscheinen mithin nur als Marionetten der hinterlistigen Juden."

Tania Martini kommt in der taz nochmal auf die Diskussion um Masha Gessen zurück und hat eine Frage an die Böll-Stiftung, die den Preis erst bejubelte, sich dann aus der Preisverleihung zurückzog, und ihn dann, als sie Druck von der Basis spürte, wieder bejubelte. "Apropos canceln: Vielleicht müssten Jurys und Kuratoren den intellektuellen Grips haben zu wissen, wen sie sich ins Haus holen, und das dann auch verteidigen, denn canceln ist ein schlechter Ansatz." Der Arendt-Preis ging übrigens nicht zum ersten Mal an einen Israelhasser - Martini erinnert an den Preisträger Gianni Vattimo, der der Hamas Waffen liefern wollte.

Buch in der Debatte

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Der Historiker Historiker Jörn Leonhard beschäftigt sich in seinem letzten Buch mit der Frage, wie Kriege enden. Mit Blick auch auf die Kriege in der Ukraine und Gaza sagt er Interview mit Jan Pfaff von der taz: "Wann ist ein Krieg wirklich reif für den Frieden? Für diesen Moment müssten alle am Konflikt beteiligten Akteure von einer politischen Lösung mehr erwarten als von der Fortsetzung der Kämpfe. Signalisiert nur eine Partei Konzessionsbereitschaft, kann das zur Eskalation der Gewalt führen. Denn die andere Seite schließt von solchen Zeichen auf Erschöpfung und wird ihre militärischen Anstrengungen steigern, um die eigenen Ziele doch noch zu erreichen. Gerade die Endphase von Kriegen war häufig besonders blutig. Für die Ukraine bin ich skeptisch, ob bereits der Moment für glaubwürdige Verhandlungen gekommen ist."
Archiv: Ideen