9punkt - Die Debattenrundschau

Statt der Städte nur Staub und Ruinen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.10.2023. Immerhin: Endlich hat in Berlin eine Solidaritätskundgebung für Israel stattgefunden, Frank-Walter Steinmeier redete, und betonte, dass Judenhass auf unseren Straßen nicht hinnehmbar sei. Währenddessen traf sich die die islamistische Sekte Hizb ut Tahrir auf dem Alexanderplatz. Ähnliche Szenen zeigen wir aus Amsterdam, Stockholm und Paris. Und Greta Thunberg? Die SZ fragt verzweifelt, wie sich Antisemitismus so ins linke Denken fräsen konnte. Die NZZ sucht nach Gemeinsamkeit zwischen Putin und der Hamas. Es gibt auch andere Themen: Die FAZ erinnert an hundert Jahre türkische Republik.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.10.2023 finden Sie hier

Politik

Jene, die die Ereignisse in Israel "kontextualisieren" wollen, denken ja vor allem nur an einen Kontext, die "Gewaltspirale". Demnach seien die Pogrome der Hamas durch die Politik Israels zu erklären. Dieter Schnaas, Autor der Wirtschaftswoche, lehnt in einem viel retweeteten Kommentar  diese Art der Kontextualisierung ab: "Bei Gräueltaten wie denen der Hamas handelt es sich um Zivilisationsbrüche, die nicht kontextualisierbar sind, sondern nur außerhalb allen Kontextes verständlich werden: als Statements elementarer Amoralität." Bei jenen Kulturinstitutionen, die durch ihren "Weltoffen"-Aufruf BDS-Positionen stark machen wollten, konstatiert er heute eine große Schüchternheit: "Man sieht nur wenige israelische Flaggen an öffentlichen Gebäuden und Balkonen. Und stößt in den 'Sozialen Medien' allenfalls zufällig auf Profile von Politikern, Bürgern, Unternehmen, die sich erkennbar mit Israel identifizieren und solidarisieren wollen. Kein Kerzenmeer, kein spontaner Trauerzug, kaum demonstratives Beileid in den ersten vierzehn Tagen."

Immerhin: am Bebelplatz gab es gestern Kerzen.

Charlotte Wiedemann, Autorin des Buchs "Den Schmerz der anderen denken", denkt den Schmerz der andern so:
Vor dem Brandenburger Tor fand nun die erste große Solidaritätskundgebung für Israel statt, bei der auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sprach. Imanuel Marcus berichtet bei der Jüdischen Allgemeinen. "Israelhass, 'der sich auf unseren Straßen entlädt', dürfe nicht geduldet werden, erklärte Steinmeier. 'Von niemandem!' Die Demokratie in Deutschland unterscheide nicht nach Erfahrung, Herkunft und Religion. 'Jeder, der hier lebt, muss Auschwitz kennen und die Verantwortung begreifen, die daraus für unser Land erwächst.' Der Schutz jüdischen Lebens in der Bundesrepublik sei Staatsaufgabe, aber auch Bürgerpflicht, so der Bundespräsident."

Wenig später traf sich am Alexanderplatz die islamistische Sekte Hizb ut Tahrir :


Über Paris lesen wir Folgendes:


"Die größte Demonstration in Frankreich zur Solidarität mit Palästina seit Beginn des Konflikts verläuft in Paris friedlich", berichten Christophe Ayad et Richard Schittly in Le Monde erleichtert - organisiert wurde die Demo von der Partei des Linkspopulisten Mélenchon (siehe Tweet oben). Gleichzeitig kam es in Paris zu einem Brandanschlag auf die Wohnung eines jüdischen Rentner-Ehepaars.



Aus Amsterdam ist diese Szene überliefert:


Und dies ist Stockholm:

taz-Autor Klaus Hillenbrand begrüßt die Kundgebung am Brandenburger Tor und hat doch Kritik, denn sie war "nicht von der Zivilgesellschaft geprägt, deren Mattigkeit in dieser Angelegenheit mehr als bedenklich wirkt...  Es ist nicht Aufgabe eines Bundespräsidenten, auf einer Veranstaltung der Zivilgesellschaft zu sprechen. So entsteht der Eindruck, als sei eine Demonstration von staatlichen Akteuren gekapert worden. Das hat mehr geschadet als genutzt, denn es weckt Zweifel, ob es wirklich die Zivilgesellschaft in Deutschland ist, die ihre Solidarität ausdrückt."

In London demonstrierten am Wochenende gar 100.000 Menschen für den Gaza-Streifen. Währenddessen fühlen sich die Juden in Großbritannienen nicht mehr sicher, berichtet Daniel Zylbersztajn-Lewandowski in der taz: "Laut der Organisation CST, die Sicherheitsvorkehrungen jüdischer Einrichtungen koordiniert, ist die Zahl der Angriffe auf jüdische Menschen in der Zeit zwischen dem 7. und 16. Oktober um 581 Prozent höher als im gleichen Zeitraum im Vorjahr. Zu den gemeldeten Fällen gehörten in dem Zeitraum 15 gewalttätige Angriffe, 14 Zerstörungen oder Schändungen jüdischen Eigentums und 46 direkte Drohungen, wie Aufrufe zur Ermordung von Jüdinnen und Juden. Die Londoner Polizei verbuchte zwischen dem 1. und 18. Oktober sogar einen 1350-prozentigen Anstieg an antisemitischen Vorfällen im Vergleich zum Vorjahr."

Natürlich musste sich auch noch Greta Thunberg mit den Palästinensern solidarisieren, stöhnt Philipp Bovermann in der SZ. Zu dem Massaker der Hamas an israelischen Zivilisten hatte die Ikone der "Klimagerechtigkeitsbewegung" nichts zu sagen. "Und nun: #FreePalestine." Bovermann versucht sich zu erklären, wie sich der Antisemitismus so ins linke Denken fräsen konnte. Vielleicht liegt es daran, dass ihr ein konkretes materielles Anliegen fehlt, "etwa: mehr Lohn für alle. Linke Anliegen treten deshalb immer häufiger als Bündel auf. Andere Formen der Unterdrückung und Ausbeutung als die jeweils adressierten hat angeblich mitzureflektieren, wer wirklich die Zusammenhänge begreifen will: Wie gegen Rassismus kämpfen, ohne neokoloniale Praktiken in den Blick zu nehmen? Und wurzeln die nicht wiederum in patriarchalen Überlegenheitsfantasien, ebenso wie der kapitalistische Extraktivismus? ... 'Intersektionalität' heißt das böse Zauberwort: Alles hängt mit allem zusammen. Das ist dann von einem bestimmten Punkt an exakt die trübe Brühe, die nach einem etwas leichter zu fassenden Schuldigen verlangt. Es ist wieder, natürlich: der Jude."

Reinhard Müller kommentiert in der FAZ die pro-palästinensischen Demos in deutschen Städten: "Wenn in der Stunde des Massakers und der Trauer um die Opfer Terroristen gefeiert werden, so ist das ein unglaubliches Zeichen von Verrohung und womöglich Vorbote für weitere Gewalt in unseren Straßen. Dem muss der deutsche Staat konsequent entgegentreten. Auch die Unterstützung von Terror, die Verherrlichung von Morden und der Aufruf zu Gewalt sind strafbar. Zudem würde Untätigkeit ein fatales Signal senden. Die Straße würde frei gemacht, der Rechtsstaat hätte sich aufgegeben. Dabei ist klar, dass jederzeit für die Rechte des palästinensischen Volkes demonstriert werden darf." In der taz wendet sich dagegen eine Gruppe in Berlin lebender jüdischer Künstler gegen Verbote von pro-palästinensischen Demos.

Antiisraelische Demonstrationen sind nicht "pro-palästinensisch", sondern einfach nur "pro Hamas", erinnert Alan Posener in der Welt und fordert mehr Achtsamkeit beim Sprachgebrauch. "'Diese Leute sind nicht pro-palästinensisch, sie sind pro-Hamas', sagte mir eine palästinensische Freundin; 'und wenn sie für diese Truppe demonstrieren, die seit 2007 die Palästinenser in Gaza unterdrückt, dann sind sie anti-palästinensisch'. Recht hat sie. Wir würden eine Demonstration von Neonazis auch nicht als 'pro-deutsch' bezeichnen, und wenn sie noch so lauthals die Befreiung Deutschlands vom anglo-amerikanischen und jüdisch-kapitalistischen Joch forderten."

Die Hamas steht in direkter Traditionslinie der Muslimbrüder und des Muftis von Jerusalem, Amin al-Husseini - das ist der "Kontext" den die Kontextualisierer meist verschweigen und auf den der Politologe Joachim Krause heute in der FAZ hinweist: "Amin al-Husseini war ein unbelehrbarer Antisemit, und die Muslimbrüder waren es auch. Ihre Argumente bezogen sie in den Dreißiger- und Vierzigerjahren aus dem Dritten Reich. Von dort erhielten sie auch finanzielle und materielle Unterstützung, um die unsäglichen antijüdischen Parolen der Nazis in der arabischen Welt zu verbreiten. Die Muslimbrüder organisierten Hasskampagnen gegen jüdische Kaufleute und lancierten Horrormeldungen über jüdische Verschwörungen, die den Parolen der Nazis abgeschaut waren."

Wann wird Kritik an Israel antisemitisch, möchte Spon von der Politologin Nicole Deitelhoff wissen. Ihre Antwort: "Schon der Umstand, dass der Begriff 'Israelkritik' existiert, zeigt, dass es hier ein Problem gibt. Oder haben Sie schon mal von Frankreichkritik gehört? Kritik an konkreter Politik, wie zum Beispiel am Abbau der Rechtsstaatlichkeit unter der Regierung Netanyahu, ist legitim. Äußerungen, die den Staat als solchen infrage stellen, sind es dagegen nicht, oder gar solche, die Israel mit Nazideutschland gleichsetzen." Dass sich gerade Kulturschaffende so gern für die Palästinenser einsetzen, kann sie jedoch verstehen: "Macht anzustreben oder auszuüben und sich gleichzeitig als Underdog zu vermarkten, das gefällt doch vielen einflussreichen Menschen. Die Attitüde des Unangepassten hat eine enorme Außenwirkung. Das weiß Donald Trump schon lange. Und das wissen auch in der Kulturbranche viele."

In der NZZ sieht Ulrich Schmid eine Menge Gemeinsamkeiten zwischen Putin und der Hamas: "Putin und die jihadistischen Araber hassen den Westen aus demselben Grund: Sie spüren, wie hoffnungslos unterlegen sie sind. Liberale Demokratien lösen nicht nur politische Probleme besser, sie sind vor allem erfolgreich. Das schreckt Despoten. ... Die Hamas lässt nicht wählen. Rebellionen hat sie grausam niedergeschlagen. Sie kujoniert ihre Untertanen, sie will herrschen. Sie hasst die Freiheit. Dass beide Angreifer, Palästinenser wie Russen, sich nicht als Täter sehen, rundet das Bild ab. Ein Opfernarrativ ist für expansive Staaten unerlässlich. Es eint die Untertanen, es legitimiert die Despotie im Innern und die Aggression gegen außen. 'Der Russe ist nun wie der Jude in Berlin 1940', singt die Band 'Leningrad', sie meint es ernst."
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Ideen

In der Zeit denkt die ukrainische Übersetzerin, Essayistin und Verlegerin Kateryna Mishchenko über die Seele in Zeiten des Krieges nach - und über die Landschaft: "Kann die Landschaft ein Trauma zum Ausdruck bringen oder veranschaulichen? Die Satelliten- oder die Drohnenbilder der ukrainischen Landschaft dienen heute oft als eine Visualisierung des Krieges, die erträglich sein soll. Die Felder, die man sieht, sind zerrissen von großen Gruben, statt der Wälder sind abgebrannte und zerbrochene Stämme zu sehen, statt der Städte nur Staub und Ruinen. Was im Boden steckt, was in der Erde bleibt, kann die Kamera nicht einfangen. Die Körper von Gefallenen, die durch den ständigen Beschuss nicht schnell genug vom Kampffeld geborgen werden können, sind auf den Kameraaufnahmen der Landschaft kaum registrierbar. In gewissem Sinne halten wir uns beim Betrachten dieser Bilder nur auf der Oberfläche auf, aber die Landschaft wuchert, indem das Gesehene von dem Wissen begleitet wird, dass da unten Unsichtbares ist, versteckt, aber unüberhörbar. Ist nicht genau dies die Resonanz, die zwischen Landschaft und Blick immer wieder zustande kommt? Ist dies nicht die wechselseitige Projektion des Inneren und des Äußeren, die die Vielschichtigkeit unserer Psyche anspricht und aus ihr erwächst?"
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Kulturpolitik

Warum wird das Pergamonmuseum nach einem Entwurf von Oswald Mathias Ungers aus dem Jahr 1999 umgebaut, fragt Nikolaus Bernau verzweifelt im Tagesspiegel. Ungers habe sich "nie wirklich für den neuklassizistischen Monumentalbau seiner Vorgänger Alfred Messel und Ludwig Hoffmann interessiert". Was mit der Umsetzung seiner Pläne droht, kann man doch jetzt schon sehen, meint Bernau: "Bereits weitgehend fertig ist der neue Eingangsbau zum Ostflügel. Er zeigt uns, was mit diesem Vierten Flügel droht: Eine doktrinäre Architektur, die unbedingt mit den zweifellos gewaltigen Fassaden Messels und Hoffmanns konkurrieren will, statt sich ihnen einzufügen, gar unterzuordnen. Um 1999 mag das als ehrende Abrundung des Lebenswerks von Ungers noch akzeptabel gewesen sein, sogar noch um 2010 - aber 2040 wird sie schlichtweg unverständlich und vertrocknet erscheinen."
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Geschichte

Die Historikerin Kristina Milz erinnert in der FAZ an die Gründung der türkischen Republik durch Atatürk vor hundert Jahren, ein durchaus zwiespältiges Ereignis, meint sie, dessen Dimensionen hierzulande kaum bekannt sind. "Der zweifellos tiefste Eingriff in die Gesellschaft kam 1928: Die komplexe osmanische Hochsprache sollte der Vergangenheit angehören, als einzige Amtssprache künftig das Türkische gelten. Mit der Reform, die die Sprache einerseits europäisierte, andererseits türkisierte, durfte nur noch die lateinische Schrift verwendet werden; 'fremder', insbesondere kurdischer Wortschatz wurde verbannt. Die Entscheidung richtete sich nicht nur gegen Minderheiten, sondern war auch als Vorgehen gegen religiöse Traditionen zu deuten, denn die alten Zeichen wurden als Schrift des heiligen Korans interpretiert."
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