9punkt - Die Debattenrundschau

Kleine Seelen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.08.2023. Zeit online bringt nun nach intensivem Schweigen über den Fall Fabian Wolff einen Faktencheck zu seinem Monster-Artikel. Man habe ihm alles glauben können, heißt es darin, wenn auch nur "mit gutem Willen". Im Tagesspiegel äußert sich Wolff selbst, aber nicht zu den aggressiven Positionen, die er unter seinem identitätspolitischen Schutzschirm so genussvoll vertreten hatte. Mirna Funk wehrt sich auf Instagram gegen den Vorwurf, sie haben Wolff Helen R.'s Tod in die Schuhe schieben wollen. Außerdem: Die FAZ bringt ein Dossier über bröckelnde "Brandmauern" in Westeuropa.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.08.2023 finden Sie hier

Gesellschaft

Gestern gab es im Netz und auch sonst Verwirrung über die Frage, ob Fabian Wolffs Ex-Freundin Helen R. tot ist - Mirna Funk hatte diese Information im Schlusssatz ihres FAZ-Artikels (unser Resümee) in eine leicht missverständliche doppelte Verneinung verpackt - "Ich wüsste nicht, dass sie nicht mehr lebt". Doch inzwischen bestätigt auch Zeit online in einem "Faktencheck": "Die Ex-Freundin ist vor einigen Monaten verstorben." Das ist allerdings auch der einzige klare Punkt, den dieser Faktencheck macht. Ansonsten ist das Fazit: Erst wusste Fabian Wolff nichts, und dann wusste die Redaktion nichts - ausgenommen ein einzelner Redakteur, dem Helen R. "privat" ihre Zweifel an der behaupteten Identität Wolffs mitgeteilt hatte: "Im Zuge unserer Recherchen sind wir, wie erwähnt, auf einen privaten Kontakt der Ex-Freundin in der Redaktion der Zeit gestoßen. Diesem privaten Bekannten gegenüber hatte sie bereits einmal 2017 im Vertrauen geäußert, dass sie Zweifel an der jüdischen Identität Fabian Wolffs hege. Auch deutlich später, im Jahr 2022, hatte sie noch einmal Kontakt aufgenommen, um von ihren Zweifeln zu berichten. Diese Information hat Zeit online erst jetzt im Rahmen dieses Faktenchecks erreicht. ... Vorwerfen müssen wir uns, dass wir die seit Herbst 2021 kursierende E-Mail vor Veröffentlichung des Textes 'Mein Leben als Sohn' nicht kannten. Dies wiegt umso schwerer, als die Autorin der E-Mail in privatem Kontakt mit einer Person in unserem Haus stand, und über die Jahre mindestens zwei Mal von ihren Zweifeln berichtet hat. Der Frage, warum uns diese Information nicht erreicht hat, gehen wir in einer internen Prüfung weiter nach."

Etwas widersprüchlich konstatiert die Zeit aber, nachdem sie ausführlich darlegt, warum sie alle Behauptungen in Wolffs Text glaubhaft fand: "Wir können Fabian Wolff bisher nicht nachweisen, an anderer Stelle bewusst die Unwahrheit gesagt zu haben. Unsere Recherchen zeigen allerdings, wie er die spärlichen, von seiner Mutter erfundenen Informationen zu seinem vermeintlichen Jüdischsein durch weitere 'fundierte Spekulationen', wie er sie selbst bezeichnete, ergänzt hat. Diese 'fundierten Spekulationen' sind von bewussten Täuschungen teilweise nur mit gutem Willen zu unterscheiden."

Viele Medien haben über den Fall Fabian Wolff noch überhaupt nicht berichtet. Nach Mirna Funks Intervention gestern meldet sich nun aber auch der Tagesspiegel, der wie Zeit online dem Hause Holtzbrinck angehört. In Andreas Busches Artikel äußert sich auch Wolff zum ersten Mal seit der Publikation seines Monsterartikels. Auch Busche ist Funks Schlusssatz aufgefallen: "In dem lakonischen Schlusssatz steckt bereits ein unausgesprochenes Urteil, das weit über den Vorwurf der 'Scharlatanerie' oder des 'Kostümjuden' hinausgeht." Aber, so Busche, "Helen R. hatte eine lange Krankengeschichte." Das von Funk erwähnte Schreiben des Anwalts Nicolas Becker an Helen R. habe nicht der Einschüchterung gedient, sondern eine Kontaktsperre erwirken sollen. Busche stellt auch die Frage, weshalb Wolff den Text überhaupt veröffentlichte, wollte er jemandem zuvorkommen? Wolff sagt, es sei ihm "im Sinne der intellektuellen und moralischen Redlichkeit wichtig, diesen Irrtum selbst aufzuklären". Grundsätzliche Fragen zu seinen Israel-kritischen Positionen, die er immer mit dem falschen Verweis auf sein Jüdischsein unterlegte, geht Wolff aus dem Weg. "Darauf antwortet Wolff nur, dass er es für keine gute Idee halte, seinen eigenen Text einzuordnen."

Politische Weggefährten Wolffs attackieren Funks Text in den sozialen Medien nun vor allem mit dem Vorwurf, sie habe Wolff Helen R.s Suizid in die Schuhe schieben wollen. Max Czollek schreibt: "Leute, Fabian Wolff hat richtig Scheiße gebaut, keine Frage. Aber was die FAZ dazu gebracht hat ist verantwortungslos - jenseits journalistischer Regeln & mit Spekulation zu den Gründen eines Suizids. Bei der Autorin überrascht es mich nicht. Aber wer hat das durchgewunken?" Gegen die Vorwürfe wehrt sich Funk mit einer Instagram-Story: "Wenn der Kaffeesatz von Twitter insinuiert, ich habe insinuiert, dann insinuiere ich jetzt mal, dass man sich offensichtlich nicht mit den Kernthemen des Textes auseinandersetzen möchte. Ginge es im Text um die Frage, 'wer Helen auf dem Gewissen hat', dann würde der Titel 'Wolff im Schafspelz' lauten, nicht 'Der Beste aller Juden'."
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Europa

In der FAZ erstellen die Europakorrespondenten einen interessanten Überblick zur Frage, ob und wie in westeuropäischen Ländern "Brandmauern" gegen Rechtspopulisten errichtet worden sind. Für Spanien gilt: "Eine Brandmauer hat die konservative Volkspartei PP gegen die Rechtspopulisten von Vox nie errichtet." Auch in Italien war der Bann schon unter Berlusconi gebrochen. In den Niederlanden sei das Problem für Rechtspopulisten wie Geert Wilders eher "immer neue Konkurrenz am rechten Rand". In Schweden und anderen skandinavischen Ländern wurden die Rechtspopulisten bis -extremen in der einen oder anderen Weise eingebunden oder "entschärft".

Eine klare Brandmauer hat im Grunde (außer Deutschland) nur Belgien errichtet. Dabei hätten die Politiker "mächtige Verbündete: die Medien. Der öffentliche Rundfunk verpflichtete sich, extremistische Politiker nie in Live-Sendungen einzuladen oder etwa in großen Porträts zu würdigen, sondern allenfalls Neuigkeiten aus den Parteien zu vermelden und umgehend 'einzuordnen'. Privatsender und die wichtigsten Qualitätszeitungen schlossen sich an. Das 'Medien-Kartell', das Rechtspopulisten in Deutschland herbeifantasieren, gibt es in Wallonien also tatsächlich. Es werde dort mit 'heiligem Ernst' verteidigt, erklärt die Politologin Léonie de Jonge."
 
Für Frankreich konstatiert die Tour d'horizon eine unklare Abgrenzung der bürgerlichen Rechten: "Nicolas Sarkozy eignete sich im Wahlkampf die Themen Le Pens wie Überfremdung, Angst vor Masseneinwanderung und Ausländerkriminalität an. Mit der Aufwertung der Themen ebnete er den Weg zu einer Normalisierung der Partei Le Pens. Diese ist inzwischen weit fortgeschritten. Die Strategie Le Pens, ihre Partei salonfähig zu machen, ist aufgegangen."

In der SZ möchte die schottische Schriftstellerin A.L. Kennedy eigentlich ein Loblied auf Deutschland, das "Land des Lächelns", schreiben, das sie für Lesungen in den vergangenen Monaten bereiste. Dann bricht sich aber doch wieder der Groll auf ihre Heimat Bahn - vor allem auf die Politik, die die Menschen "hungern" lässt und eine "toxische" Presse, der sie "Gleichschaltung" vorwirft: "Selbst die erpresserischen Verbündeten unserer Regierung in der Presse schaffen es nicht, eine Politik zu feiern, die ungefilterte Abwässer in unsere Flüsse und an unsere Strände leitet. Man könnte sagen, dass alle derzeitigen politischen Projekte denselben Effekt haben, dass unsere Führer mit ihren kleinen Geistern, ihren kleinen Seelen gerne auf uns scheißen. Wenn man den Populisten nachgibt, wenn man ihnen erlaubt, die Moral zu verzerren, die Realität zu untergraben und zu tun, als gäbe es zu jedem Argument ein ebenso legitimes Gegenargument, dann bekommt man Scheiße. Wenn man einer hypnotisierten Presse erlaubt Faschisten Sauerstoff zu geben; wenn man diese Faschisten Macht sammeln lässt an schäbigen Orten, wo sich Spionage, Mafiamentalität und Narzissmus treffen, dann bekommt man Scheiße. Endlos viel Scheiße."
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Medien

Dass Erdogan die Gewaltenteilung fast vollständig ausgehöhlt hat, zeigte sich bei einer absurden Veranstaltung in Ankara vergangene Woche, bei der Erdogan unter tosendem Beifall der anwesenden Staatsanwälte und Richter den Vorsitzenden der größten Oppositionspartei CHP Kemal Kilicdaroglu scharf angriff, schreibt der türkische Journalist Yavuz Baydar in der SZ. Gleichzeitig zeichnet sich "eine neue Phase im Kampf gegen eine freie Presse ab, in der die Justiz die Anti-Terror-Gesetze noch breiter auslegen wird, um Berichterstattung noch stärker zu blockieren", fährt Baydar fort, der davon berichtet, wie kürzlich verschiedene Journalisten verhaftet wurden, weil sie über Twitter die Beziehung zwischen einer Richterin und einem Staatsanwalt publik machten, die beide an einem laufenden Massenprozess gegen Journalisten in der Stadt Diyarbakir beteiligt sind: "'Was hier geschieht, ist eine absolute Unterstützung der Medienstrategie der Regierung durch die Judikative: Alle möglichen Schlupflöcher für Berichterstattung werden geschlossen, indem die Gesetzesartikel verkehrt und Regeln für Ermittlungen auf den Kopf gestellt werden', kommentierte Ali Topuz, Herausgeber der Nachrichtenseite Artı Gerçek. 'Auf diese Weise wird der Informationsfluss komplett zerstört.'"
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Geschichte

Yuval Noah Harari schrieb kürzlich in Haaretz, der Fanatismus der aktuellen Regierung sei schon im Zionismus angelegt, überhaupt findet man in Haaretz derzeit Überschriften wie "Zionismus ist Rassismus", berichtet Zelda Biller, die in der NZZ den jüdischen Antizionismus analysiert: "Der interessanteste und wichtigste jüdisch-antizionistische Fehlschluss beruht auf einem Bedeutungswandel des Wortes 'Zionismus'. Warum ist dieser Begriff nach der Gründung des Staates Israel 1948, also nachdem die historische zionistische Bewegung ihr Ziel erreicht hatte, nicht einfach in den Ruhestand gegangen? Weil er, spätestens seit dem Sechstagekrieg, also seit Israel das Westjordanland besetzt und besiedelt, von den sogenannten religiösen Zionisten, den Wortführern der Siedlerbewegung, vereinnahmt und zu ihrem Kampfbegriff gemacht wurde. In der Logik dieser ideologischen Strömung, die das Zuhause von Faschisten wie Meir Kahane und Itamar Ben-Gvir und mittlerweile eine dominierende politische Kraft in Israel ist, ist das zionistische Projekt nämlich noch lange nicht abgeschlossen. (…) Seit dem Sechstagekrieg von 1967 gehört zu diesem messianischen Prozess für sie auch die Eroberung des Westjordanlandes, die sie durch ihren egoistischen und am Ende für das ganze Land zerstörerischen Siedlungsbau unermüdlich vorantreiben und damit den Palästinensern die letzte Hoffnung auf einen eigenen Staat nehmen." Biller rät, Theodor Herzls "Altneuland" zu lesen, um "sich wieder an Herzls universalistische Vision zu erinnern".
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