9punkt - Die Debattenrundschau

Die Perspektive des Objektes

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.02.2018. Die AfD wird immer unflätiger und fühlt sich dabei immer besser. Die klassischen Parteien haben kaum ein Mittel, diese Blase zu durchstechen, analysiert Richard Volkmann bei den Salonkolumnisten. Politico.eu stellt die italienische Zentrumspolitikerin Beatrice Lorenzin vor, die mit einer neuen Partei gegen die Impfgegner in den populistischen Parteien kämpft. In Frankreich organisieren muslimische Organisationen eine Soli-Kampagne für Tariq Ramadan, berichtet Libération. Und: Herfried Münkler gibt in der NZZ und Welt Auskunft über den aktuellen Stand der Kriegsführung.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.02.2018 finden Sie hier

Europa

Der italienische Wahlkampf nimmt eine leicht unheimliche Wendung, berichten Sarah Wheaton and Giada Zampano  in politico.eu: Das Thema Impfung wird zu einem der Hauptstreitpunkte und wird von Populisten ausgebeutet: "Mainstream-Parteien und aufbegehrende Populisten verkrachen sich über den letztjährigen Regierungserlass, die verpflichtenden Impfungen pro Kind von vier auf zehn zu erhöhen, nachdem 2017 durch einen Masernaubruch 5.000 Menschen erkrankten und vier starben. Dieses 'Lorenzin-Gesetz' wurde von Beatrice Lorenzin vorangetrieben, Gesundheitsministerin in der linksliberalen Regierung  von Paolo Gentiloni, aber ihre Maßnahmen verstören Eltern, die glauben, dass Impfungen Autismus oder andere Nebeneffekte auslösen könnten." Lorinzin hat inzwischen eine eigene zentristische Partei mit dem Slogan "Impfung gegen Inkompetenz" gegründet und tut sich mit Wissenschaftlern zusammen, um  gegen den Obskurantismus zu kämpfen. Beppe Grillos Fünf-Sterne-Bewegung gehörte zu den Impfgegnern, scheint sich jetzt aber zu mäßigen.

Ein AfD-Politiker ist am "politischen Aschermittwoch" durch extrem unflätige ausländerfeindliche Äußerungen hervorgetreten - und es wird der AfD dennoch nicht schaden, kommentiert Richard Volkmann bei den Salonkolumnisten. Und die klassischen Parteien kommen der AfD auch durch Ausgrenzung nicht bei, fürchtt er: "Die AfD hat es schon jetzt geschafft, die Meinung eines bisher politisch weitgehend stummen Milieus ins Parlament zu tragen, dessen Ziele mit Protest weniger gut umschrieben sind als mit Destruktion. Sie hat, gemeinsam mit der Linken, bereits jetzt nahezu alles verunmöglicht, was die Bundesrepublik seit ihrer Gründung an Regierungskonstellationen gewohnt war, und darüber hinaus schickt sie sich nun auch an, die parlamentarische Arbeit an sich zu behindern und zu hintertreiben."

Noch ein Artikel zur AfD: Daniel Hornuff, ehemaliger Kollege des Sloterdijk-Assistenten und heutigen AfD-Abgeordneten Marc Jongen an der Karlsruher Huchschule für Gestaltung, zeichnet in der Zeit (jetzt online) ein Profil Jongens, der jetzt im Kultur-und-Medien-Ausschuss des Bundestags sitzt und ebenfalls durch eine Unflätigkeit hervortritt: "Es wird mir eine Ehre und Freude sein, dieses Amt auszuüben und die Entsiffung des Kulturbetriebs in Angriff zu nehmen." Hornuff dazu: "Der Inhalt bestätigt Muster. Pflichtschuldig werden rassistische Hygienefantasien in altbekannten Sprachregelungen nachgeplappert - um sich hernach als gezielt missverstanden viktimisieren zu können. Ideologisch kennzeichnend ist diese Aussage, weil sie verschweigt, von welcher Position aus Jongen spricht. Denn Jongen steht nach wie vor in einem regulären und entfristeten Arbeitsverhältnis mit der Karlsruher Hochschule."

Brexit-Gegner planen bis zu diesem Sommer zwar einige Aktionen, um die Bürger zu einem zweiten Referendum zu bewegen, aber Charlie Cooper gibt ihnen bei politico.eu nicht allzu viele Chancen: "So zuversichtlich die Remainers sind, es sieht nicht gut aus für sie. Umfrageergebnisse der A-Changing-Europe-Initiative zeigen nach Analysen von John Curtice zwar eine leichte Verschiebung der öffentlichen Meinung in Richtung Remain seit Mitte letzten Jahres, aber es gibt laut Curtice kaum klare Hinweise, das eine zweite Abstimmung gewünscht  wird."
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Gesellschaft

Der prominente muslimische Prediger Tariq Ramadan, gegen den im Kontext der französischen #MeToo-Debatte Vergewaltigungsvorwürfe erhoben wurden, sitzt nach wie vor in Untersuchungshaft. Nun stellt er allerdings aus gesundheitlichen Gründen Antrag auf bedingte Freilassung. Unterdessen organisiert sich von Seiten der muslimischen Verbände und der in Frankreich einflussreichen Muslimbrüder eine Kampagne für den Prediger - unterstützt unter anderem von einem Video-Statement seiner Frau Iman Ramadan, berichtet Bernadette Sauvaget in Libération: "Durch diese Kampagne könnte sich das Meinungsbild unter den Muslimen drehen. Zumindest in den militanteren Kreisen der Kämpfer gegen Islamophobie und der Muslimbrüder. Sie decken zwar nicht alle muslimischen Milieus in Frankreich ab, aber sie sind nun mal die Bestorganisierten und haben Gewicht."

Die Veröffentlichung des vierten Bandes von Michel Foucaults "Sexualität und Wahrheit" ist nicht nur eine Sensation, sondern das Werk trägt auch zum Verständnis der Gegenwart bei, etwa im Blick auf die #MeToo-Debatte, glaubt Martina Meister in der Welt: "Foucaults 'Sexualität und Wahrheit' hat gezeigt, wie der 'Mut zur Wahrheit' immer größere Teile der Intimität eroberte, wie die Scham hinter Strukturen, in Regelwerken, Beichten und wissenschaftlichen Werken zurückgewichen ist. Er hat die Sexualität die meiste Zeit aus der Perspektive des Subjekts des Begehrens analysiert. Jetzt sind wir ganz offensichtlich in das Stadium eingetreten, da wir den Mut haben, uns der Perspektive des Objektes zu stellen, wenn Sexualität aus der Perspektive des Opfers erzählt und erlebt wird."
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Ideen

Ist Geschlecht nur eine Glaubensfrage? In der NZZ resümiert die feministische Journalistin Joanna Williams die Geschlechterdebatte der letzten siebzig Jahre, beginnend bei Simone de Beauvoir über Judith Butler bis hin zu jüngsten neurophysiologischen Untersuchungen: Die "Unterscheidung zwischen Gehirn und Denken ist ein Kernpunkt. Menschen lassen sich ebenso wenig auf ihr Gehirn wie auf ihre Genitalien reduzieren. Unser Bewusstsein, unsere Fähigkeit, im Einklang mit unserer biologischen Prägung oder auch gegen sie zu handeln, statt uns einfach von ihr regieren zu lassen - das ist es, was den Menschen vom Tier unterscheidet."
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Politik

In einem langen Essay in der NZZ diagnostiziert der Politikwissenschaftler Herfried Münkler eine Allgegenwärtigkeit von Kriegen, die allerdings nur noch in seltenen Fällen als solche zu erkennen sind - und gerade deshalb so gefährlich sind. Münkler verweist etwa auf transnationalen Terrorismus, Putins hybride Kriegsführung oder Cyberwars, die Politiker in Eile und bei unvollständiger Informationslage dazu zwingen, jene Akte als Krieg oder kriminelle Akte unterhalb der Kriegsschwelle einzustufen. Die größte Herausforderung stellen dabei "Angriffe auf den Cyberspace und die Steuerungssysteme der Infrastruktur dar, bei denen nicht nur Informationen abgeschöpft werden, sondern die gesamte Infrastruktur eines Landes lahmgelegt werden kann. Im Unterschied zu mit klassischem Militär vorgetragenen Angriffen, bei denen geografische Grenzen überschritten werden und klar ist, wer Angreifer ist, handelt es sich hier um Attacken, bei denen man nicht sogleich sagen kann, wer dafür verantwortlich ist …"

Außerdem: Von Parallelen zwischen Dreißigjährigem Krieg und Gegenwart, etwa im Nahen Osten, erfährt indes Welt-Kritiker Berthold Seewald bei einem Podiumstreffen der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft aus Darmstadt, bei der neben dem Historiker Peter H. Wilson ebenfalls Herfried Münkler sprach.
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