9punkt - Die Debattenrundschau

Drei von vier Frauen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.10.2017. In der taz sagt Robert Menasse voraus, dass die EU ohne die Briten so gut wird, dass sie in spätestens fünfzehn Jahren zurück wollen. Im Tages-Anzeiger spricht Philipp Felsch über die RAF, Große Koalitionen und Gewalt in der bürgerlichen Gesellschaft. In Sachen Künstlicher Intelligenz lernt die SZ von Wittgenstein, dass man angesichts eines neuen Wesenszustandes selbst verändert. Und in der Affäre um Harvey Weinstein richten die Zeitungen ihr Augenmerk jetzt auf das Schweigen der Frauen und Weinsteins willige Helfer in Vorzimmer und Vorstand.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.10.2017 finden Sie hier

Europa

Die Feuilletons stürzen sich auf den frischgebackenen Deutschen-Buchpreisträger Robert Menasse, dessen Roman "Die Hauptstadt" als erster EU-Roman gefeiert wird. Im taz-Gespräch plädiert er gegenüber Alem Grabovac für eine neue Vision Europas: "Die politischen Pragmatiker haben doch mit ihren nationalen Interessen die Krisen produziert." Und überdies sei auch der Brexit nicht der Anfang vom Ende, ganz im Gegenteil: "Der Brexit ermöglicht die Chance zu einer Vertiefung der Europäischen Union. Wäre Großbritannien geblieben, hätte es die EU zerrissen. ...  Mit dem Verbleib der Briten wären die Mitgliedstaaten wie Dominosteine umgefallen. Es wäre ein System gewesen, das nur noch aus Ausnahmen für jedes Mitgliedsland bestanden hätte." Und "in 15 Jahren kommen die wieder."

Im Tagesspiegel spricht Menasse mit Alexander Görlach unter anderem über das Wiedererstarken eines aggressiven Nationalismus, der sich in Europa hochschaukle: "Die nationalen Repräsentanten blockieren Lösungen, sobald sie negative Effekte für ihre eigene Nation vermuten. Genau diese Leute fahren dann in ihre Heimatländer zurück und verkünden, dass europäische Lösungen gescheitert sind. Aber die meisten Probleme der Gegenwart sind auf nationaler Ebene nicht lösbar. Dann verkünden Nationalisten, dass mehr Durchschlagkraft nötig ist und stärkere Führer. Das führt dann in eine Spirale der Radikalisierung." Im Essay in der Literarischen Welt erzählt Menasse unterdessen, wie er zum Lesen und zur Literaturwissenschaft gekommen sei, und warum sich auf die Frage, was Literatur sei, kaum abschließend befriedigende Antworten geben lassen.
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Gesellschaft

Wie konnte Harvey Weinstein mehr als 20 Jahre lang mit der sexuellen Belästigung, Nötigung und möglicherweise sogar Vergewaltigung von Frauen durchkommen, fragen sich die Zeitungen angesichts der immer länger werdenden Liste von Schauspielerinnen, die jetzt reden. Es war möglich, weil er so viele Helfer hatte, meint deprimiert Bret Stephens in der New York Times: "Alle Arten von Helfern. Vorstandsmitglieder, die sich weigerten, Hinweisen auf sein sexuelles Verhalten nachzugehen und die jetzt behaupten, das alles sei 'eine totale Überraschung' für sie. Assistenten, die als 'Honigtöpfe' dienten, die potentielle Opfer zu ihren Treffen mit Weinstein begleiteten, um ihnen ein Gefühl der Sicherheit zu geben, und dann dem Raubtier seine Beute überließen." Und wenn Weinstein nicht längst seinen Zenith überschritten hätte, meint Stephens, dann wären ihm die Opportunisten noch weiter gefolgt.

Auch Journalisten und Anwälte gehörten zu Weinsteins Helfern, schreiben Rory Carroll und Sam Levin im Guardian: "Weinstein zog sich Journalisten, die Lobeshymnen auf bevorzugte Schauspieler verfassten und negative über solchen schrieben, die ihn verärgert hatten. Trotzdem verklagten ihn laut New York Times mindestens acht Frauen. Doch nie kam es zu einem öffentlichen Skandal. Die Klägerinnen akzeptierten Schadenersatz und schwiegen dafür - ein tyisches Ergebnis in solchen Fällen, sagt (die Dokumentarfilmerin Lorien) Haynes. 'Anwälte ermuntern Leute zu klagen und sich dann zu vergleichen. Eine ganze Industrie verdient an diesen Klägern.'"

Und sogar die Frauen, die Weinsteins Verhalten nicht öffentlich machten, halfen ihm noch mit ihrem Schweigen, meint Janet Street Porter in der Daily Mail: "All seine Opfer mussten sich entscheiden, ob sie auspacken und andere warnen wollten - die meisten entschieden sich für den feigen Weg, aus Angst, ihre Karriere würde leiden und man würde ihnen nicht glauben. Bullies drangsalieren immer die Schwachen, jene, die keine Stars sind. ... In der Löwengrube von Hollywood ist jede Schauspielerin auf sich selbst angewiesen, egal wie oft die Schwesternschaft beschworen wird. Und oft genug waren es weibliche Angestellte, die Weinsteins auserkorene Opfer in sein Hotelzimmer begleiteten, die zu Beginn dieser Treffen anwesend waren und sich dann in Luft auflösten, wenn es anfing hässlich zu werden."

Es mag Frauen geben, die sich ihre Karriere mit sexuellen Gefälligkeiten erkaufen, doch in der NZZ möchte Andrea Köhler klarstellen, dass davon im Fall Harvey Weinstein keine Rede sein kann: "Weinstein war bekannt dafür, dass er alles daransetzte, diejenigen, die sich wehrten, entweder mit Anwälten oder mit Schmierkampagnen zum Schweigen zu bringen. Und Weinstein ist mit diesem Verhalten wahrlich nicht allein. 'Die große Mehrheit der Frauen kommen auf eine schwarze Liste und haben nie wieder eine Chance, in ihrem Beruf zu arbeiten', schreibt die ehemalige Fox-Moderatorin Gretchen Carlson, die Roger Ailes zu Fall brachte, in der New York Times. Die Folge davon hat die 'Equal Employment Opportunity Commission' ausgerechnet: Drei von vier Frauen, die sexuell belästigt wurden, behalten die Sache für sich.

Auch in der FAZ will Verena Lueken den Frauen nicht vorwerfen, dass sie so lange geschwiegen. "Die Schwächsten sollen die Mutigsten sein?", fragt sie, sieht dann aber Licht: "Der Skandal könnte die Zeit in ein Vorher und ein Nachher spalten, wobei im Nachher sexuelle Belästigungen jedweder Art indiskutabel wären und sofort Konsequenzen hätten: dass Grapscherei und Nötigung, nicht ihre Abwehr das Karriereende bedeutete."

Im Guardian plädiert Naomi Wolf für eine klare Sprache: Wenn es Beweise gibt, müsse man Vergewalitgung und sexuelle Nötigung auch so nennen.
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Medien

Im Atlantic analysiert Alexis C. Madrigal in einer detaillierten Recherche, wie Facebook mit seinen News Feed die amerikanische Öffentlichkeit während des Wahlkampfs gelentk hat. Die New York Times hat sich derweil neue Richtlinien gegeben, die ihre Journalisten zu mehr Neutralität in den Sozialen Medien verpflichten.
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Stichwörter: Soziale Medien, Neutralität

Ideen

Im Interview mit dem Tages-Anzeiger spricht der Historiker Philipp Felsch über den Terrorismus der RAF, die bürgerliche Gesellschaft und die Gewalt, die in der Logik der siebziger Jahre vom Staat ausging. Und zwar in Form einer Großen Koalition: "Für Dutschke und seine Gesinnungsgenossen war die Große Koalition ein Beweis, dass die liberale Demokratie sich in etwas verwandelt hat, was er selbst einen 'integralen Etatismus' nennt, also eine Art autoritären Überwachungsstaat oder Protofaschismus. Dutschke bezieht sich auf Marx, der vorausgesagt hatte, dass der Marktmechanismus allein nicht ausreichen werde, um die Herrschaft der bürgerlichen Klasse aufrechtzuerhalten. Deshalb greife diese auf direktere Formen von Kontrolle und Gewalt zurück - in Gestalt der Großen Koalition. Heute mag man über diese Argumentation lachen. Aber man sollte sich bewusst sein, dass große Koalitionen oft das Entstehen von extremen politischen Bewegungen begünstigt haben, sei es bei den Linken oder den Rechten."

In der SZ berichtet Andrian Kreye vom Marathon "Guest, Ghost, Host: Machine!" des Kurators Hans Ulrich Obrist zum Thema künstliche Intelligenz. Wie viel Wissenschaft und Technik von Kunst und Literatur lernen können, zeigt ihm der Kognitions- und Robotikforscher Murray Shanahan. "Der hatte sich als Berater für den wahrscheinlich besten Film über künstliche Intelligenz der letzten Jahre, Alex Garlands 'Ex Machina', mit den philosophischen Fallstricken der KI-Debatte auseinandergesetzt. Shanahan zeigte ein Diagramm, in dem er das Bewusstsein des Menschen in Relation zu nicht-menschlichen Bewusstseinsformen stellte. Das Bewusstsein der Tiere, der Pflanzen, Gesteine, Planeten. Man müsse Ludwig Wittgenstein zu Rate ziehen, um exotische Formen des Bewusstseins zu erfassen, sagte er. Der habe beschrieben, wie man sich angesichts eines neuen Wesenszustandes selbst verändert. "

Etwas abgegriffen findet Simon Strauss in der FAZ die Pariser Erklärung, mit der konservative Denker wie Robert Spaemann und Roger Scruton das christliche Europa gegen eine konsum- und mediengesteuerte EU ohne ideellen Zusammenhalt verteidigen wollen: "Für eine wirklich überzeugende neokonservative Europa-Ethik reichen die Vorschläge nicht aus. Neben ein paar feinsinnigen Bekenntnissen zum breiten Boulevard und öffentlichen Park als Symbolträger europäischen Bewusstseins läuft das meiste doch auf die Evergreens konservativer Antragsprosa - Familie, Sicherheit, Tradition - hinaus."
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