9punkt - Die Debattenrundschau

Da ist kein Plan

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.06.2016. Chaos nach dem Brexit-Votum. Warum triumphierte nach der Entscheidung eigentlich nur Nigel Farage?, fragt Nick Cohen im Guardian. Und warum zogen sämtliche Tories die Köpfe ein? Aber Boris Johnson streckt jetzt im Telegraph den Kopf heraus und verspricht: Die Briten werden vom Brexit ausschließlich Vorteile haben. Krise auch bei Labour. BBC präsentiert Dokumente, die zeigen, dass Jeremy Corbyns Büro die Remain-Kampagne nach Kräften bremste. "He must resign", sagt der Guardian dazu. In der NZZ malt Colm Toibin die Folgen für Irland aus. Für Bernard-Henri Lévy ist es der Sieg der Populisten aller Couleur und aller Länder.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.06.2016 finden Sie hier

Europa

Schwerpunkt Brexit:

Seltsam, nach der Entscheidung für den Brexit gab es nur Jubelbilder von Nigel Farage, dem Anführer der rechtspopulistischen Ukip-Partei. Die Tory-Anführer der Brexit-Kampagne, Boris Johnson und Michael Gove, sahen dagegen total bedröpst aus, denn jetzt werden ihre Lügen auffliegen, schreibt Nick Cohen in einem bitterbösen Kommentar im Guardian: "Die wirkliche Spaltung in Britannien besteht nicht zwischen London und dem Norden, Schottland und Wales oder den Jungen und den Alten, sondern zwischen Johnson, Gove, Farage und den Wählern, die sie betrogen haben. Welche Geschichte wollen sie ihnen jetzt servieren? Am Donnerstag gewannen sie mit dem Versprechen, die Einwanderung zu begrenzen. Am Freitag erklärten Johnson und der euroskeptische Ideologe Dan Hannan, dass die Zahl der einreisenden Ausländer wahrscheinlich nicht fallen werde. Am Donnerstag versprachen sie, die Wirtschaft werde boomen, am Freitag war das Pfund so tief gefallen wie seit 30 Jahren nicht mehr. Am Donnerstag versprachen sie 350 Millionen Pfund zusätzlich die Woche für den Nationalen Gesundheitsdienst. Am Freitag stellte sich heraus, dass es 'keine Garantien' gibt."

Im Telegraph hat Boris Johnson sich derweil zu Wort gemeldet und versichert seinen Landsleuten: Die Briten werden nur Vorteile haben. Sie werden weiterhin Zugang zum EU-Markt haben, freizügig in Europa reisen und studieren können und Britannien werde mit seinen "top-table opinions" und seinem "leadership on everything from foreign policy to defence to counter-terrorism and intelligence-sharing" weiter seine gewohnte Rolle als "große europäische Macht" spielen. "Der einzige Unterschied - und er wird nicht in großer Eile kommen - wird sein, dass Britannien sich aus dem außergewöhnlichen und opaken System der EU-Gesetzgebung herauszieht: den großen und wachsenden Gesetzen, die vom Europäischen Gerichtshof erlassen wurden. Das bedeutet keine Bedrohung, sondern goldene Gelegenheiten für dieses Land - Gesetze zu erlassen und Steuern festzulegen, die den Bedürfnissen Britanniens entsprechen."

Sehr entschieden nimmt Volker Zastrow in der FAS die Argumente der EU-Kritik auseinander: "Die angeblichen demokratischen Defizite der Union sind im Wesentlichen nur darin begründet, dass die Souveränität unverändert bei ihren Mitgliedern, also den Staaten, liegt und dass die Bürger kleinerer Länder begünstigt werden - also für das EU-Parlament nicht das Prinzip 'one man, one vote' gilt. Beide Entscheidungen stehen gegen einen Brüsseler Zentralismus, man kann sie kritisieren, aber ganz sicher sind sie demokratisch begründet. Und der erste Punkt war nun gerade eine Konzession an die Skeptiker. Auch das ist eines ihrer propagandistischen Kampfmittel: die Folgen jener Zugeständnisse zu Lasten der Integration, die sie in den Verhandlungsphasen selbst erwirkt haben, wenig später als Systemfehler zu brandmarken." In diesem Zusammenhang immer wieder nützlich: Die "EU-Mythen im Check", die die Zeit bereits 2014 brachte.

Das Cover des New Yorker:



Der Economist erzählt eine Szene nach, die Faisal Islam, der politische Chefredakteur von SkyNews, in einem Interview mit einem Tory-Abgeordneten erlebte: "Ich fragte ihn: 'Wo ist der Plan? Der MP erwiderte: 'Da ist kein Plan. Die Leave-Kampagne hat keinen Plan für nach dem Brexit.... Number 10 hätte einen Plan haben müssen.' Die Kamera schnitt zu Anna Botting, der Anchor-Frau. Schrecken in ihrem Gesicht. Ein paar Sekunden schwiegen beide, während die Wahrheit langsam eintröpfelte. 'Ich weiß nicht recht, was ich sagen soll', sagte sie dann. Und lenkte zu einer Werbepause über."

In der NZZ denkt der irische Autor Colm Toibin über die Folgen des Brexit für das politische Klima in Nordirland und sein Verhältnis zur Republik Irland nach sowie über das "befremdliche Gebilde", das die innerirische Grenze schon war bevor sie zur Grenze zwischen EU und dem Vereinigten Königreich wurde. "Es ist wichtig, die Tatsache im Auge zu behalten, dass die Unruhe und die Gewalt im nordirischen Konflikt vor allem von den ärmsten Bevölkerungsschichten ausgingen. Die Mittelklasse versuchte sich draussen zu halten. Falls Nordirland durch den Brexit spürbar ärmer wird und sich zudem nach einem erfolgreichen schottischen Unabhängigkeitsreferendum isoliert fühlt; falls es den Eindruck bekommt, von London - wo man vorerst anderes zu tun haben wird, als sich mit einer Neuauflage des nordirischen Konflikts zu befassen - vernachlässigt zu werden: Dann könnte das heikle Unterfangen, in Nordirland Ruhe und politische Stabilität zu schaffen, in Gefahr geraten."

Schwere Krise auch bei Labour. Laura Kuenssberg, politische Redakteurin bei der BBC, zitiert aus E-Mails, die zeigen, dass Jeremy Corbyn, offenbar auf strategischen Ratschlag seines wichtigsten Beraters Seumas Milne (Porträt), die Remain-Kampagne aktiv verwässerte: "Die Dokumente zeigen, wie groß die Sorgen im Labour-Hauptquartier und in der Remain-Kampagne über Corbyns Engagement für die Sache waren. Eine E-Mail sagt: 'Was ist los hier?' Eine andere E-Mail aus Remain-Kreisen an das Führungsbüro von Labour klagt: 'Ihr habt keine EU-Inhalte, wir hatten doch vereinbart, dass ihr über die EU sprecht.' Quellen sagen, dass das Führungsbüro zögerte, der EU-Kampagne volle Unterstützung zu geben und wie schwierig es war, Corbyn zu einer prominenten Rolle zu drängen." Auch der Guardian wird zu diesem Thema recht deutlich: "Corbyn sabotaged Labour's remain campaign. He must resign."

In La Règle du Jeu holt Bernard-Henri Lévy das ganz große rhetorische Besteck heraus und wendet seinen Blick auf die anderen Länder in Europa: "In Frankreich ist Schwerpunkt Brexit: der Sieg der Le Pens und Mélenchons, die von einer französischen Version des Brexit träumen... In Spanien ist es der Sieg von Podemos und seiner Pappmaché-Demonstranten. In Italien der fünf Sterne und ihrer Clowns. In Mitteleuropa all jener, die Europa auflösen wollen, nachdem sie seine Dividenden eingestrichen haben."

Eins muss man klar benennen: "Der Abscheu der Briten vor der EU ist so groß, dass sie sogar bereit sind, die von fast allen Ökonomen vorausgesagten erheblichen wirtschaftlichen Kosten des Austritts auf sich zu nehmen. Wie soll Europa, das sich so gerne als Nabel der zivilisierten Welt sieht, auf diese einzigartige Demütigung reagieren?", fragt in der NZZ Peter Rásonyi. Auf keinen Fall mit Aggressivität, meint er. Die EU brauche einen neuen Gesellschaftsvertrag: "Der Euro, die vermeintliche Krönung der europäischen Integration, steht heute im Zentrum von Europas Krise. Es erscheint fraglich, ob die Fehlkonstruktion langfristig zu retten ist."

Virgin-Gründer Richard Branson ruft auf seiner Website das britische Parlament auf, das Referendum für ungültig zu erklären: "Die große Mehrheit der demokratisch gewählten Abgeordneten wollen, dass das Vereinigte Königreich Teil Europas bleibt. Im Licht der Falschdarstellungen der Leave-Kampagne sollte das Parlament die Resultate dieses nicht bindenden Referendums zurückweisen, so wie es Nicaol Sturgeon für Schottland getan hat."

Außerdem: In der SZ macht sich Johan Schloemann Sorgen über die Auswirkungen des Brexit für die Universitäten: "Es geht also beim Brexit auch um Wissenschaftspolitik, Chancen für die nächste Generation und um Institute, die europäischen Geist atmen sollten."

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Jochen Bittner hat für die Zeit das Nato-Manöver in Polen beobachtet. Für die Polen war es eine Reaktion auf die Übungen der russischen Armee, die letztes Jahr "mit 95.000 Soldaten Angriffsszenarios an der Grenze zur Nato durchgespielt" habe. Für Putin, so Bittner, war es wohl eher eine Bestätigung, dass von der Nato im Ernstfall wenig zu befürchten ist. Keine abhörsicheren Leitungen, unendlicher Papierkram und unterschiedliche Tankstutzen: "US-Tanklaster können zwar polnische, kanadische und litauische Fahrzeuge befüllen, nicht aber deutsche, französische, britische, italienische oder ungarische. Also müssen Adapter-Sets her. Die US-Armee besitze 36 dieser Sets, meldet eine Logistikerin Hodges zurück, die übrigen Länder hätten - außer Frankreich - keine eigenen."
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Medien

2005 gründete der Perlentaucher mit Hilfe von Geldern der Bundeskulturstiftung signandsight.com, eine englischsprachige Webseite, die Debattenartikel von europäischem Interesse ins Englische übersetzte und so zur Schaffung einer europäischen Öffentlichkeit beitrug. International erregte das Projekt Aufsehen. In deutschen Medien wurde es beschwiegen, außer von der FAZ, die es denunzierte. Anschlussfinanzierung konnten wir nach dem Ende der Förderung nicht finden. Heute fragt Caroline Fetscher im Tagesspiegel verzweifelt: "Wo existieren transnationale EU-Medien? Nicht einmal für das Web-TV der Europäischen Union, personell und finanziell minimal ausgestattet, wird ansatzweise gut gesorgt. Wo bleiben EU-Radiosender, EU-Zeitungen? Was ist mit Englisch, der Lingua Franca der Union? Yes, ausgerechnet die Sprache derer, die jetzt die Scheidung einreichen. Aber sie bleibt und ist im EU-Raum nirgends offiziell die zweite Landessprache."
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Gesellschaft

Gabriele Goettle porträtiert in ihrer monatlichen Reportage die freiwillige Flüchtlingshelferin Karin Grafe, die erzählt, wie es war, einen Flüchtling zu den Ämtern zu begleiten und ihnen ein wichtiges Schreiben zu entlocken: "wie bei Kafka". Und dann doch nicht ganz: "Ich versuchte (dem Beamten) die Lage zu erklären, sagte, es kam kein Schreiben mit der Post. Er wollte uns wegschicken, wir sollten eben abwarten, bis es kommt. Da wurde ich dann - ganz gegen meine Art - doch etwas ungehalten und bin zum ersten Mal in meinem Leben wirklich richtig standhaft geblieben vor diesem Menschen. Ich sagte: 'Ich gehe hier nicht weg ohne dieses Schreiben! Wenn es abgeschickt wurde, dann gibt es ja eine Kopie und ich möchte jetzt eine Kopie dieser Kopie, sonst ist die Wohnung weg!' Und tatsächlich, ein Wunder geschah, der Mann erhob sich, verschwand im langen Flur und kam nach einer Weile zurück mit dem kopierten ­Schreiben. Und das Witzige war, er gab mir sogar die Hand."
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