Vom Nachttisch geräumt

Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann
18.12.2002. Uwe Wesels "Die verspielte Revolution", Ein Band von Claudio Magris über Utopie und Entzauberung, Geschichten zum Hören von 1952, Geständnisse des Küchenchefs Anthony Bourdain und die Wahrheit über griechische Mythen.
Verspielt

"Die verspielte Revolution" ist der Titel von Uwe Wesels Buch über 1968 und die Folgen. Ein hübsches Wortspiel. Denn verspielt war 1968 und verspielt wurde es wahrscheinlich auch. Aber lange nicht so widerstandslos wie Uwe Wesel sein Buch verspielt hat. Wer ihn als klugen, ebenso sehr zur Selbststilisierung wie zur Selbstironisierung neigenden Zeitgenossen kennt und bewundert, der sollte diesem Buch aus dem Wege gehen. Es verplaudert sein Thema. Wesel zitiert zum Beispiel Jürgen Habermas' Vorwurf vom "linken Faschismus" und geht dann so auf das Thema ein: "Ein Wort, das zu heftigem Streit führt, von Habermas später zurückgenommen wurde, aber nicht ganz unrichtig war, wenn man bedenkt, dass ein Teil der APO später zum Terror der Rote Armee Fraktion übergegangen ist, den Rudi Dutschke allerdings entschieden bekämpft hat - bis auf eine spontane Entgleisung beim Begräbnis von Holger Meins in Hamburg 1974: 'Holger, der Kampf geht weiter!' mit erhobener rechter Faust über dem Grab. Danach eine einigermaßen vernünftige Distanzierung in einem Leserbrief an den Spiegel bald darauf."

Das ist alles zum Thema "linker Faschismus". So wie hier reitet Wesel im ganzen Buch über Stock und Stein. Er hat es eilig. Kein Wunder, dass er nichts wahrnimmt. Faschismus ist nicht gleich Terrorismus. Warum an Habermas' Kritik etwas dran sein soll, weil Jahre später sich die RAF gebildet hat, ist völlig unverständlich. Wenn Habermas Recht hatte, so hatte er Recht, weil die Aktionen der außerparlamentarischen Linken, ihre Politik der gezielten Regelverstöße, die keineswegs immer so zielgenau waren wie behauptet wurde, in ihrer offenen Brutalität an die Aktionen faschistischer Schlägertrupps erinnerten. Das Ziel der 68er war keine faschistische Diktatur. Zu keinem Zeitpunkt. Aber es gab einen totalitären Zug, der seine Vorbilder in den Diktaturen Kubas und Chinas suchte.

Man darf auch nicht unterschätzen, wie sehr es einen Menschen prägt, wenn er Tag und Nacht darüber nachdenkt, was in der jeweiligen Situation zu tun und wer dabei sein Freund und wer sein Feind ist. Es bildet sich eine Lagermentalität, eine die Beweglichkeit des Denkens und dann auch das Leben selbst einschränkende Haltung heraus. So betreibt der Einzelne seine Zerstörung gerade in dem Wahn, sich im Kampf gegen eine feindliche, immer feindlicher werdende Umwelt, konstituieren zu müssen. Darüber bei Wesel kein Wort an keiner Stelle. Stattdessen Anekdoten, Geplauder.

Uwe Wesel, "Die verspielte Revolution - 1968 und die Folgen", Karl Blessing Verlag, 350 Seiten, 22,90 Euro.


Texte

Claudio Magris
ist Literaturprofessor. Vor allem aber ist er Erzähler. Einer der schönsten Romane der letzten Jahrzehnte stammt von ihm. "Donau" heißt er und er erzählt die Geschichte des Flusses von der Quelle, von den Quellen und der Suche nach ihnen bis zur Mündung. Es ist eine große Geschichte mit einem großen Helden, aber sie besteht aus hunderten kleiner Geschichten, die Magris nicht erfunden, sondern gefunden und so aufgeschrieben hat, dass sie in seinen Erzählfluss passen. Er hat es in der Kunst, andere durch sich und sich durch andere klingen zu lassen zu großer Meisterschaft gebracht. Das ist auch einer der Reize seiner Essays. Sie sind keine Leitartikel, in denen der Autor sagt, was Sache ist. Vielmehr erzählt Magris, was andere zum Thema sagten oder verschwiegen. Er liebt das Zitat. Nicht um sich hinter ihm zu verstecken, sondern um die Welt und so - aber eben so - auch sich zu offenbaren. Magris zitiert zum Beispiel in einem Aufsatz aus dem Jahre 1996 mit dem zur Leitartikel-Diktion verführenden Thema "Soll man die Dichter aus dem Staat verbannen?" Jesus, den Helden eines Romans von Stefano Jacomuzzi: "... wie schwierig ist Dein Gesetz, Vater, dass nichts verloren sein soll! Ach, diese unsere armen irdischen Worte, Erinnerungen, Erwartungen, kleinen Leiden und kleinen Freunden, auch sie sollen nicht verlorengehen... Nimm sie alle zu Dir, Vater, rette sie für ewig!" und dann schließt Magris an mit dem Satz: "Nur die Literatur kann diese kleinen Geschichten bewahren..." Der wahre alles bewahrende Gott ist also der Schriftsteller. Seine Bücher sind Kapitel im ewigen Buch des Herrn. Niemals hätte Magris diesen Satz aufschreiben können. Aber er rückt die Überlieferung so lange zurecht, bis im Kopf des Lesers dieser Satz entsteht. Er erschrickt und denkt "Größenwahn", aber wessen? Claudio Magris hat ihn nicht. Er hat ihn nur vorgeführt. Durchs Arrangement.

Claudio Magris, "Utopie und Entzauberung - Geschichten, Hoffnungen und Illusionen der Moderne", Carl Hanser Verlag, 368 Seiten, 24,90 Euro.


O-Töne

Ein Walzer, dann ein Bariton: "Wie leuchtet so herrlich die Straße, die mächtige Stalinallee. Noch schneller als Pläne und Maße so bauten wir sie in die Höh'." Dann kommt Walter Ulbricht und spricht vom "Ensemble", das den Werten des Sozialismus Ausdruck verleiht. Der Marmor zur Stalinallee kam, so erklärt ein Sprecher, kam zum Teil aus Görings Karinhall. "So etwas wie hier habe ich in meinem Leben noch nie gesehen. Wir werden uns verpflichten, noch größere, noch stolzere Werke zu errichten", erklärte 1952 ein DDR-Bürger ins Mikrophon des Berliner Rundfunks. Man braucht die Erklärungen, aber wirklich erhellend sind einzig die O-Töne. Am 17. März setzt sich der bayerische Rundfunk mit der Personalpolitik des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland auseinander. Die Sendung macht klar, dass die meisten der Beamten schon unter Hitler ihre Arbeit gemacht hatten. Sämtliche Referatsleiter waren bei Ribbentrop im Dienst gewesen. Sie waren NSDAP-Mitglieder, SS-Führer. Ein Untersuchungsausschuss wird - die oppositionelle SPD macht Druck - eingerichtet. Der Beitrag endet mit einem Goethe-Zitat: "Geschichte schreiben ist auch eine Art, sich das Vergangene vom Halse zu schaffen."

Man glaubt zu spüren, wie keck sich die Journalisten vorkommen und wie froh sie sind, sich auf den unangreifbaren Goethe stützen zu können. Deutschlandfunk und DeutschlandRadio haben in einer mehr als dreieinhalbstündigen Dokumentation auf drei CDs zusammengetragen, was ihnen am Jahre 1952 interessant erschien oder wovon sie interessante Beiträge hatten. Da ist neben dem Boxkampf, in dem Peter Müller einen Ringrichter k.o. schlug, die Krönung Elisabeth II. von England, die Stalinnote, das erste Dokumentarfilmfestival in Mannheim, die erste LPG in der DDR, die erste Bild-Zeitung, das Ende der Länder in der DDR, die Gründung der Gesellschaft für Sport und Technik, das Verbot der Sozialistischen Reichspartei und ganz am Ende: die erste Tagesschau.

Das war Weihnachten. Sie kam damals nur Montag, Mittwoch und Freitag. "Wir versprechen ihnen, uns zu bemühen, dass wir auf das neue geheimnisvolle Fenster in ihrer Wohnung, ihren Fernsehempfänger alles das bringen, was sie erfreut, sie interessiert und ihr Leben schöner macht", erklärte der Intendant. Themen waren neben Schiffsuntergängen die deutschen Schachmeisterschaften und die Eröffnung des ersten Automatenwaschsalons. Die erste politische Nachricht kam 1955 in die Tagesschau.

"Geschichte zum Hören. 1952", Audio Verlag, 3 CDs, 24,95 Euro.


Küchenlatein

Anthony Bourdain
ist Amerikaner französischer Herkunft und führt, wenn man dem Klappentext seines Buches glauben darf, seit acht Jahren die Brasserie Les Halles in New York. "Geständnisse eines Küchenchefs" ist sicher die drastischste Einführung in die Geheimnisse der feinen Küche. Bourdain hat sein Handwerk gelernt. Wichtiger noch: Er kann schreiben. Ein Restaurant, in dem man sich nicht die Mühe macht, schreibt er, die Toiletten zu reinigen, das wird auch in der Küche nicht unentwegt wischen und Angefaultes beseitigen. Bekommt man in einem leeren Restaurant, in dem vier, fünf Kellner gelangweilt in den Ecken stehen und mit einander tratschen, eine umfangreiche Speisekarte in die Hand gedrückt, sollte man die auf der Karte so wunderbar aussehenden Gerichte, dort stehen lassen, schnell aufstehen und die Flucht ergreifen. Die angebotenen Köstlichkeiten können nicht frisch sein. Sie stehen seit Tagen im Kühlschrank. Man kann von Glück reden, wenn sie während ihrer Zeit dort nichts verloren haben als ihren Geschmack. Wahrscheinlich ist, dass alles mögliche Winzgetier, von dem kein Kochbuch spricht, über das einzig Fachbücher für Epidemologie aufklären, sich im finsteren, niemals geöffneten Kühlschrank hemmungslosen Orgien, millionenfachen Geburten hingibt.

Bourdain versteht es, diese Lustbarkeiten so beredt zu schildern, dass man fast neidisch wird, nicht mitmachen zu können. "Geständnisse eines Küchenchefs" ist ein Buch, das nicht nur Küchenfreaks, Gourmets und Gourmants gerne lesen werden. Es ist ein Buch über die menschliche Sehnsucht nach Schönheit und Lust und wie sie zusammenhängen mit der nach Gewalt und Macht. Das Buch eines verwundeten Verwunders. Ein gemeines, ein kluges Buch.

Anthony Bourdain, "Geständnisse eines Küchenchefs - Was Sie über Restaurants nie wissen wollten", übersetzt von Dinka Mrkowatschki, Karl Blessing Verlag, 2001, 351 Seiten, 23 Euro. Bestellen.


Kentauren

Wer die Entmythologisierung noch immer für eine Erfindung der europäischen Aufklärung hält, den wird ein kleines Reclam-Bändchen eines Besseren belehren. Es handelt sich um eine antike Textsammlung, die kein anderes Ziel hatte als die überlieferten Mythen rational umzudeuten. Zum Beispiel die Kentauren: Sie waren nichts anderes als junge Männer auf Pferden. Zu ihrem Namen kamen sie, so erklärt der antike Autor, weil sie Stiere (tauroi) niederstachen (kata-kentein). Wenn die jungen Männer davonritten, "waren für diejenigen, die sie aus der Ferne sahen, von den Pferden nur der Rücken - nicht aber der Kopf - und von den Menschen nur der Oberkörper ohne die Beine sichtbar. Alle, die diesen fremdartigen Anblick sahen, sagten: 'Die Kentauren aus Nephele (Wolke) sind zu uns herabgekommen.' Aus dieser sichtbaren Gestalt", so endet der antike Entmythologisierer, "und aus dieser Sage wurde unglaublicherweise der Mythos geformt, dass aus einer Wolke ein Pferdemann auf dem Berg geboren worden sei."

So werden mehr als 50 Geschichten analysiert. Am Anfang steht immer eine kurze Zusammenfassung des Mythos, dann ein Absatz und eine Wendung wie: "Es geschah viel mehr etwas von folgender Art" oder "Was wahr ist, verhält sich vielmehr wie folgt". Darauf der Versuch, die Märchen und Legenden auf einen rationalen Kern zu reduzieren und klarzumachen, wie es zu den phantastischen Ausgestaltungen kam. Sprachspiele sind häufig dabei beteiligt. Der Einleitung von Kai Brodersen, der den Text auch übersetzt hat, ist zu entnehmen, dass wir nichts Näheres wissen über den Autor. Im Altertum wurde gemunkelt, es handele sich um einen gelehrten Geliebten des Aristoteles. Aber sein Name "Palaiphatos" ("der Altes erzählt") ist ein Spitzname, mit dem gleich drei Autoren belegt wurden. Wir wissen, dass es im vierten vorchristlichen Jahrhundert schon eine Anthologie dieser Art gegeben hatte. Sie umfasste fünf Bücher. Erhalten ist sie nicht. Erhalten ist ein Auszug in einem einzigen Buch. Der war jahrhundertelang - auch während des Mittelalters - eine beliebte Schullektüre. Woran man sehen kann, wie wenig selbst die klarsten Bücher vermögen. Der Sachverstand, mit dem die heidnische Überlieferung genüsslich zersägt wurde, zog sich in den meisten Fällen sofort diskret zurück, wenn es um die nicht weniger unglaublichen christlichen Geschichten ging.

"Die Wahrheit über die griechischen Mythen - Palaiphatos' Unglaubliche Geschichten", griechisch-deutsch, übersetzt und herausgegeben von Kai Brodersen, Philipp Reclam jun.,2002, 149 Seiten, 4,10 Euro.