Virtualienmarkt

Das E-Book und die Folgen: größer als Gutenberg

Von Rüdiger Wischenbart
02.03.2009. Das E-Book wird nicht nur kommen, es wird auch den Buchpreis und das Urheberrecht verändern - so sehen es heute auch der Verleger Jason Epstein und andere Akteure im internationalen Buchmarkt
Ein Reality Check tut mitunter gut. Tief eingeschneit in der Märchenkulisse eines barocken Schlosses in Salzburg, inmitten von gut fünfzig Übersetzern aus allen Himmelsrichtungen, von Buenos Aires bis Manila, von New York bis Sofia (mehr hier), erscheinen die neuesten Spielmodelle über die digitale Zukunft des Buches wie weit entfernte Hirngespenste. Übersetzer, wissen wir, ringen um den nächsten Satz, warten geduldig auf die Antwort des Autors über knifflige Fragen, wie dieses Anagramm oder jene obskure Anspielung zu verstehen sei, und kämpfen um die Subsistenz und gegen dürftige Honorare.

Göran Malmquist etwa erzählt launig, wie er den späteren chinesischen Nobelpreisträger Gao Xingjian zu bestimmten Ortnamen und Namen magischer Berge gelöchert habe, in die er sich verbissen hatte. Die habe er einfach erfunden, war Gaos simple Antwort, wie ein grober Strich durch die Rechnung des grüblerischen Übersetzers, der alles perfekt machen wollte.

Esther Allen von der Columbia University (mehr hier) wischt einen anderen Stehsatz vom Tisch: Ein Freund habe ihr eine Liste mit Buchtiteln aufgesagt, für die man ganz sicher keinen Verlag finden würde. Klar an der Spitze lag: "You Are Different, and That Is Bad!" Wir haben uns längst bequem eingerichtet im gemütlichen Konsens über Klischees und Bedeutsamkeiten, etwa: Kulturelle Vielfalt sei wichtig, jedoch bedroht. Es werde zu wenig übersetzt. Wir müssten was tun, die Welt retten, oder die Kultur, oder wenigstens das Buch! Aber stimmt das denn auch?

"Gutenberg muss nicht unbedingt weiterleben!" wirft Geeta Dharmarajan (mehr hier) ein, die in New Delhi ganz erstaunliche Übersetzungsprogramme für Geschichten und Kinder in Indien betreibt. "Vielleicht folgt auf die Epoche der mündlichen Überlieferung, und die darauf folgende Ära des geschriebenen Wortes eine neue Periode des mündlichen Erzählens."

Da flüstert mir die Kollegin aus London auf den knarrenden Treppen, wie wir von der Arbeitsgruppe zum Mittagessen gehen, verschwörerisch zu: "Jetzt haben wir den ganzen Vormittag eigentlich nur über eine Frage debattiert: Können wir noch ein wenig an der bequemen Vergangenheit festhalten? Oder müssen wir schon jetzt alles anders machen?"

Sie hat Recht. Und ich bin schlagartig wieder beim leidigen Thema: Wohin gehen wir? Was kommt? Kommt etwas?

Denn auch durch die anfangs beschauliche Klausur der Übersetzer geht der Riss, der uns zur Zeit alle bewegt, und dies wohl zu Recht: Müssen wir, schon jetzt, alles anders machen um wir selbst zu bleiben? Oder ist die ganze Aufregung eine Fata Morgana, eine Sinnestäuschung, die im nächsten Augenblick sich womöglich als Illusion entpuppt?

"Ich lese", ruft Michael Krüger, Verleger, Autor, Übersetzer und unverdrossener öffentlicher Debatten-Performer, emphatisch in die Runde, setzt kurz, als wirksame Kunstpause, ab, und fügt dann hinzu: "Bücher!" Doch kaum löst sich die Diskussionsrunde auf, räumt Krüger ein, wie deutlich er vor Augen hat, dass wir an einer Schwellen stünden. "Man kann diese Entwicklungen nicht aufhalten", lautet sein Resümee, und dies ohne Selbstmitleid.

Bei der kürzlich zu Ende gegangenen diesjährigen O'Reilly "Tools of Change for Publishing"-Konferenz in den USA hat Jason Epstein in seiner Janus-Rolle aus Grandseigneur des amerikanischen Buchwesens und innovativer Feuerkopf zu einem breiten Panoramareferat über den Wandel ausgeholt, so wie schon einmal vor fast genau zehn Jahren (und schon damals war Epstein rückblickend erstaunlich hellsichtig gewesen). "Like blind men in a room with an elephant, we cannot begin to imagine the eventual consequences as digitization and the Internet ignite a worldwide Cultural Revolution orders of magnitude greater than Gutenberg's inadvertent implementation of western civilization."

Epsteins heutige Vision ist bemerkenswert konservativ, wenn er eindringlich herausschält, wie wichtig es sei, für Autoren auch in digitalen Zukünften die ordentliche Honorierung ihrer Arbeit zu sichern - durch ein Urheberrecht, das in seiner Dauer jedoch auf die Lebenszeit des Autors wieder zu verkürzen sei. Doch wenig später ist er auch erstaunlich konkret in seinen Forderungen an die Gestaltung des Wandels, etwa der Einrichtung von "clearing houses", die, ähnlich den bestehenden Vergütungsgesellschaften wie der Gema, über die Verteilung der Einnahmen wachen sollten. Immer wieder weist Epstein mit dem Finger auf praktische Konsequenzen, wie rasch sich etwa alle Rollenbilder wandelten, und für Autoren schon jetzt im Team mit ihren Lektoren neue Geschäftsmodelle vorstellbar seien, abseits der herkömmlichen Tantiemen, etwa über eine "Aufteilung der Erlöse".

Radikale Herausforderungen auch für die Verlage: "The radically decentralized digital marketplace has already rendered traditional publishing infrastructure - warehouses, inventory, shipping, returns and so on redundant.? Klar sei damit auch die absehbare Konsequenz für den Verkaufspreis der Bücher: "Customers will pay less but pricing must still cover traditional author royalties, residual publishers' overheads and profit."

Epsteins Ausführungen bieten kein buntes Futurama, sondern sind praktische wie hilfreiche Handreichungen, um in den aktuellen Debatten mehr Übersicht und Weitblick zu stiften.

Pflügt man durch die Reaktionen und Kommentare nach der Präsentation von Amazons leicht erneuerter Version seines Kindle e-Readers vor zwei Wochen, erkennt man rasch ein nun schon vertrautes Muster: Auch hier stehen einander die vertrauten Bekenner des "Die Veränderung ist hier!" und die Beharrungskonservativen des "Dürfen wir noch ein Weilchen" gegenüber. (Zur deutschen Diskussion mehr im Ententeich.)

Paradoxerweise zählt gerade Amazon selbst strukturell zur zweiten Gruppe, wenn es mit dem "erstaunlich konservativen Gerät" (so Penguin Verleger John Mackinson im Gespräch mit The Economist) möglichst getreu das gute alte Papierbuch nachzubilden versucht: "It is an additional distribution channel and thus 'good for us'".

Noch beharrlicher sind nur manche Verbandsvertreter von Autoren und Verlagen, wenn diese die Vorlesefunktion des Kindle gleich als Anschlag auf das - honorar- und vertragspflichtige - Hörbuchrecht sehen (die US Author?s Guild) oder einen (möglichst gesetzlich geregelten) Verkaufspreis für e-Books nahe am Preis für eine gebundene Ausgabe einfordern.

Als Leitmedium für das Lager der Veränderung ("Yes, we can - read on a screen") hat sich unterdessen das Mobiltelefon durchgesetzt. "Mobile is everywhere?, formuliert James Long in seinem Blog "The Digitalist" von der O'Reilly Tools of Change?.

Der Economist, ganz im Einklang mit Jason Epstein, formuliert als Faktum, nicht als Prognose, schlicht: "It is now only a matter of time until absolutely all books become available, and properly formatted, for mobile phones.? Damit ist aber auch wenig wahrscheinlich, dass im mobilen Umfeld und seinen Preis-Marken im 1 Euro Bereich ein e-Book im Download 15 oder gar 20 Euro kosten wird. Amazon legt die Latte mit seinem Richtpreis von zumeist 9,99 Dollar schon jetzt deutlich niedriger an.

Es ist, in Summe, vermutlich wenig riskant vorherzusagen, das die Kombination aus Plattform und Preis der ein starker Hebel in der Auseinandersetzung um Durchsetzung oder Blockade von digitalen Büchern sein wird. Die andere Trennlinie ist, ob sich Amazon mit seinem geschlossenen System des Kindle durchsetzen kann, oder ob Tim O'Reilly recht behält, wenn er sagt: "Unless Amazon embraces open e-book standards like epub (mehr hier), which allow readers to read books on a variety of devices, the Kindle will be gone within two or three years."

In den nächsten Wochen werden nun auch in Deutschland die ersten elektronischen Lesegeräte auf den Markt kommen - nicht Amazons Kindle, für den es noch keine konkreten Einführungspläne für Europa zu geben scheint, sondern Sonys E-Reader. Verkäufer werden eingeschult. Die Anbieter unken via Branchenmedien: "Wir sehen langfristig ein großen Potenzial für den Markt" - was wohl im Klartext zu übersetzen ist mit: "Wir wissen das auch nicht so genau, sehen es uns aber mal an." Dass es aber viel weniger ums Kästchen geht, als um eine Reise in völlig unbekanntes Terrain, spricht sich hierzulande erst von den Rändern her rum. Wir sind eben, wie Jason Epstein treffend sagt, wie Blinde. Aber wir ahnen, dass der Elefant neben uns den ganzen Porzellanladen ganz kräftig durcheinander bringen kann.

Rüdiger Wischenbart