Magazinrundschau - Archiv

The New Yorker

787 Presseschau-Absätze - Seite 3 von 79

Magazinrundschau vom 24.10.2023 - New Yorker

China befindet sich in einer ziemlichen Krise, stellt Evan Osnos fest: Der Generalsekretär Xi Jinping hat das Land in eine ungute Situation von wirtschaftlicher Stagnation, internationaler Isolation und ideologischen Zwängen geführt: "Im Alter von siebzig hat Xi die Amtszeitbegrenzung für seine Regierung aufgehoben und selbst treue Gegner eliminiert. Er reist weniger als früher und verrät weniger über die Gefühle hinter seinen Entscheidungen; es gibt keine öffentlichen Schimpftiraden oder Prahlereien. Er bewegt sich so gezielt, dass er an einen Schwimmer unter Wasser erinnert. Vor der Pandemie haben ihn die chinesischen Staatsmedien oft vor Menschenmengen gezeigt, die ihm in gestelzter Anbetung applaudierten. Diese Videos zirkulierten im Ausland mit der verächtlichen Bildunterschrift 'Westliches Nordkorea', aber zu Hause in China bewachen die Zensoren Xis Ehre mit Argusaugen; ein Leak aus einem chinesischen sozialen Medium hat letztes Jahr gezeigt, dass nicht weniger als 564 Spitznamen für ihn blockiert werden, darunter 'Cäsar', 'der letzte Kaiser', und einundzwanzig Variationen von Winnie the Pooh." In der Bevölkerung regt sich angesichts der mauen Wirtschaftsdaten dennoch zusehends Unmut, so Osnos: "Nach einem Jahrzehnt von Xis Kampagne für übermächtige Kontrolle hat er in den Chinesen Überzeugungen geweckt, aber nicht so, wie er sich das vorgestellt hat. Ich habe mit einem ehemaligen Banker gesprochen, der mit seiner Familie von Shanghai nach Singapur gezogen ist, nachdem er befürchten musste, sein Wissen über mächtige Menschen und ihre Finanzen könnte für ihn zum Risiko werden. 'Auch wenn ich China liebe, die Nation ist eine Sache und die Regierung eine andere - sie ist eine Gruppe von Personen, die für einen kurzen Moment im großen Wurf der Geschichte Macht über das Land hat', erklärt er mir. 'Ich habe keinerlei Intention, die Regierung zu stürzen, noch hätte ich die Fähigkeit dazu. Aber es gibt Wahrheiten, von denen ich glaube, dass die chinesischen Bürger das Recht haben, sie zu kennen. Wir sind alle darauf gedrillt worden, dass es besser ist, den Mund zu halten. Aber das ist falsch. Wenn die Informationen nicht frei zirkulieren können, wird sich das ganze Land zurückentwickeln.'"

Weitere Artikel: Elizabeth Kolbert macht eine Kostenrechnung für die Plünderung des Planeten auf. Alex Ross hört eine "Madame Butterfly" in Detroit. Jackson Arn besucht die Henry-Taylor-Ausstellung im Whitney Museum. Und Anthony Lane sah im Kino Martin Scorseses "Killers of the Flower Moon".

Magazinrundschau vom 10.10.2023 - New Yorker

Die USA haben mehr Waffen an die Ukraine geliefert als jedes andere Land. Aber sie haben auch immer wieder Lieferungen neuer Waffen hinausgezögert und die Aussicht auf eine Nato-Mitgliedschaft - auch auf Drängen von Olaf Scholz - verweigert. Die Ukraine hockt derweil in eine Art Limbo, weil sie nie weiß, wie weit die Unterstützung tatsächlich reichen wird. Das vorläufige Einfrieren aller Ukrainehilfe aufgrund des Putsches einiger rechtsaußen-Republikaner gegen ihren Sprecher bestätigt das nur. Susan B. Glasser hat sich für den New Yorker mit Jake Sullivan, dem Sicherheitsberater Joe Bidens, über den schlingernden Kurs der US-Regierung unterhalten: "Sullivan macht sich offensichtlich große Sorgen darüber, wie sich die Situation entwickeln wird. ... Selbst ein ukrainischer Sieg würde die amerikanische Außenpolitik vor Herausforderungen stellen, da er 'die Integrität des russischen Staates und des russischen Regimes bedrohen und zu Instabilität in ganz Eurasien führen würde', wie es ein ehemaliger US-Beamten mir gegenüber ausdrückte. Der Wunsch der Ukraine, die besetzte Krim zurückzuerobern, bereitet Sullivan besondere Sorgen. Er hat die Einschätzung der Regierung zur Kenntnis genommen, dass dieses Szenario das höchste Risiko birgt, dass Putin seine nuklearen Drohungen wahr macht. Mit anderen Worten: Es gibt nur wenige gute Optionen. 'Der Grund für die zögerliche Haltung gegenüber einer Eskalation liegt nicht unbedingt darin, dass sie russische Vergeltungsmaßnahmen für ein wahrscheinliches Problem halten', so der ehemalige Beamte. 'Es ist nicht so, dass sie denken: Oh, wir geben ihnen ATACMS und dann wird Russland einen Angriff gegen die NATO starten. Vielmehr erkennen sie, dass es nicht weitergeht, dass sie einen Krieg führen, den sie weder gewinnen noch verlieren können.'"

China hat seine Flotte an Fischereischiffen massiv erweitert - allerdings nicht nur zum Zwecke des Fischens und vor allem zu Lasten der Besatzungen, wie Ian Urbina zeigt. "Der chinesische Staat besitzt einen großen Teil der Industrie - inklusive rund zwanzig Prozent der Tintenfisch-Schiffe - und kontrolliert den Rest mit der Overseas Fisheries Association. Heutzutage konsumiert die Nation mehr als ein Drittel des Fisches auf der Welt. Die chinesische Flotte hat auch den internationalen Einfluss der Regierung erweitert. Das Land hat etliche Häfen im Rahmen seiner Belt and Road-Initiative errichtet, ein globales Infrastruktur-Programm, das dafür gesorgt hat, dass China zeitweise der größte Geldgeber für Entwicklungen in Südamerika, Subsahara-Afrika und Südasien ist. Diese Häfen erlauben dem Staat, Steuern zu umschiffen und regulierenden Behörden aus dem Weg zu gehen. Die Investitionen kaufen der Regierung auch Einfluss. 2007 hat China Sri Lanka mehr als dreihundert Millionen Dollar geliehen, um einen Hafen zu bauen. (Eine Firma im Besitz des chinesischen Staates hat den Auftrag umgesetzt.) 2017 war Sri Lanka, das kurz vor der Rückzahlung des Kredites stand, gezwungen, einen Deal einzugehen, der China Kontrolle über den Hafen und seine Umgebung für die nächsten 99 Jahre zusichert." Die menschenunwürdigen Bedingungen, unter denen gearbeitet wird, stehen dabei selten im Fokus: "Wie die Boote, die sie beliefern, sind auch die chinesischen Verarbeitungsstätten auf Zwangsarbeit angewiesen. Über die letzten dreißig Jahre hat die nordkoreanische Regierung ihre BürgerInnen gezwungen, in Fabriken in Russland und China zu arbeiten und neunzig Prozent ihres Einkommens - Summen, die sich auf hunderte Millionen Dollar belaufen - in Konten einzuzahlen, die der Staat kontrolliert. Die ArbeiterInnen sind oftmals stark überwacht und in ihrer Bewegungsfreiheit streng eingeschränkt. Sanktionen der UN verbieten solche Nutzung nordkoreanischer ArbeiterInnen, aber, chinesischen Regierungsschätzungen zufolge, haben letztes Jahr allein in einer nordöstlichen Stadt Chinas rund 80 000 NordkoreanerInnen gelebt."

Weitere Artikel: Emily Witt erzählt die Geschichte eines Trans-Teenagers auf der Suche nach einer angemessene Behandlung in den USA. Michelle Orange denkt über die Bedeutung von Madonna nach. Gideon Lewis-Kraus liest "Going Infinite", Michael Lewis' Buch über Sam Bankman-Fried, Gründer und ehemaliger CEO der inzwischen insolventen Kryptowährungsbörse FTX. Julian Lucas bespricht Teju Coles Roman "Tremor". Und Anthony Lane sah im Kino Justine Triets "Anatomy of a Fall" mit Sandra Hüller und Samuel Theis.

Magazinrundschau vom 17.10.2023 - New Yorker

CO2-Kompensation eignet sich hervorragend, um mit dem schlechten Gewissen von Firmen einen Haufen Geld zu verdienen, stellt Heidi Blake am Beispiel des Schweizer Unternehmens South Pole fest, das mehr als ein Jahrzehnt lang solche Kohlenstoff-Kredite vermittelt und verkauft hat - mit zweifelhaftem Erfolg. Verfolgt haben die Schweizer "viele große Projekte, darunter ein ausgedehntes Netz von Wasserkraftanlagen in den Bergen des südwestlichen Chinas. Danach hat die Firma rapide expandiert. Ihre Gründer haben sich auf Asien, Afrika und Lateinamerika verteilt und viele hundert Projekte unter Vertrag genommen. Bald hatte South Pole Geschäftstellen in Thailand, Mexiko, Indonesien und Indien eröffnet. Mitarbeiter, die bald als 'Pinguine' bekannt waren, haben neue Angestellte mit dem Schlachtruf 'Willkommen im Eisberg' begrüßt. In den Jahren nach der Implementierung des Kyoto-Protokolls wurde tausende Projekte unter dem Clean Development Mechanisms-Programm der UN registriert und hunderte Millionen Kohlenstoff-Kredite ausgestellt, jeder von ihnen im Wert von einer Tonne Kohlenstoff. Mit dem wachsenden Markt hat sich aber auch die Frage nach der Integrität dieser Projekte gestellt. Wissenschaftler fragen sich, ob die Entwickler den Einfluss ihrer Projekte überschätzen. Gerade Umweltforscher haben Klima-Kompensation als System sinnentleerter Ablassbriefe abgekanzelt. Eine Online-Parodie lädt untreue Ehepartner dazu ein, jemand anderen fürs Treusein zu bezahlen: "Wenn du Cheat Neutral bezahlst, finanzierst du monogamiebestärkende Kompensationsprojekte." Bei einem Klimagipfel reagieren auch die Fridays for Future-Aktivisten auf den von ihnen als unsinnig wahrgenommenen Ablasshandel: Greta "Thunberg und andere Demonstranten wurden beim Singen draußen gefilmt: 'Ihr könnt euch eure Klima-Krise in den Arsch schieben.' Später hat sie ein Addendum getweetet: 'Ich habe beschlossen, Schimpfwort- und Fluch-neutral zu werden. Für den Fall, dass ich etwas Unangemessenes sage, schwöre ich, das zu kompensieren, indem ich etwas Nettes sage.'"

Weiteres: Nathan Heller fragt: Was ist mit San Francisco passiert? Jackson Arn besucht die Manet/Degas-Ausstellung im Metropolitan Museum of Art. Ian Buruma liest Gary J. Bass' "erschöpfendes und faszinierendes" Buch über das Tokio-Tribunal nach dem Zweiten Weltkrieg, "Judgment at Tokyo: World War II on Trial and the Making of Modern Asia". Amanda Petrusich hört Troye Sivans Album "Something to Give Each Other".

Magazinrundschau vom 26.09.2023 - New Yorker

Carnivor zu leben, ist der neuste Ernährungstrend, allerdings mit alten Wurzeln, hält Der Anthropologe Manvir Singh nach der Lektüre etlicher Ernährungstraktate - und einigen Ausflügen auf die TikTok-Accounts der "Fleischfluencer" - fest. Der "Liver King", bei dem der Name Programm ist, hat drei Millionen Follower auf TikTok und durchaus, ähm, interessante Ernährungstipps auf Lager: "Dem Buch 'The Carnivore Code' zufolge sind Pflanzen Gift - sie wollen nicht gegessen werden und haben daraus resultierend chemische Reaktionen entwickelt, die die Verdauung angreifen sollen. Ebenfalls in 'The Carnivor Code' verkündet der Influencer Shawn Baker (319 000 Instagram-Follower), dass die Proto-Menschen am effizientesten an Protein und Kalorien gekommen sind, indem sie 'ein riesiges, fettes, energiegefülltes Tier der Megafauna erlegt haben.' Sie mögen ab und zu an Früchten und Nüssen geknabbert haben, gibt er zu, aber die Zeit und Energie, um dadurch das gleiche Resultat zu bekommen, wäre 'um mindestens eine Größenordnung größer.' Der Liver King selbst hat sich folgenden prägnanten Slogan überlegt: 'Warum Gemüse essen, wenn du auch Hoden essen kannst?'" Ob diese Ernährungsweise so effektiv ist, wie die Fleischfluencer ihren Zuschauern verklickern wollen, davon ist Singh noch nicht so recht überzeugt: "Modediäten eignen sich perfekt für eine schnelle Verbreitung. Sie sprechen die Unzufriedenheit an. Sie liefern primitive Erklärungen dafür, warum alles schief läuft. Und sie bedienen sich einer intuitiven Logik, die bei spirituellen Traditionen im Mittelpunkt steht: Je größer das Opfer, desto größer die Belohnung." Nachhaltig ist am Ende keine, meint Singh.

Weitere Artikel: Ian Johnson liest Ian Johnsons superbes Buch über chinesische Undergroundhistoriker "Sparks: China's Underground Historians and Their Battle for the Future". Missbrauch in österreichischen Kinderheimen nimmt Margaret Talbot unter die Lupe. Jennifer Wilson liest J. M. Coetzees  Roman "Der Pole". Amanda Petrusich trifft sich mit Joan Baez, um über neuen Dokufilm über ihr Leben (unsere Besprechung) zu sprechen - und natürlich über Bob Dylan. Außerdem unterhält sich Petrusich mit dem Elektromusiker Daniel Lopatich.

Magazinrundschau vom 19.09.2023 - New Yorker

Sam Knight stellt im New Yorker den in Dänemark lebenden schwedischen Architekten Pavels Hedström (Instagram) vor. Von den japanischen Metabolisten beeinflusst, gehört er zu einer wachsenden Gruppe jüngerer und älterer Architekten, die der Ansicht sind, dass wir in Zeiten des Klimawandels nicht einfach so weiterbauen können wie bisher, dass kleine Verbesserungen nicht helfen, sondern ein grunsätzliches Umdenken erforderlich ist. Immerhin verursacht die Baubranche ein Drittel der weltweiten Emissionen, so Knight. Viel gebaut hat Hedströn noch nicht, aber es geht ihm auch weniger um Gebäude als um Ideen: "'Es geht darum, unseren Verstand umzuprogrammieren, wie wir uns mit der Natur verbinden', sagt er. 'Ich denke, das ist es, was ich erreichen möchte.' Hedström sieht die meiste Architektur als 'eine Membran, die uns schützen und vom Rest der Natur trennen soll'. Seine Absicht ist das Gegenteil: Er möchte, dass das nicht-menschliche Leben nah ist, unentrinnbar. Eine seiner Erfindungen ist der Inxect-Suit, ein PVC-Anzug mit Kapuze und Gesichtsmaske, der auf der Ausrüstung basiert, die bei der Reinigung von Bohrinseln getragen wird, und den sich eine Person mit einer Kolonie von Mehlwürmern teilt. Die Wärme und Feuchtigkeit im Inneren des Anzugs nähren die Würmer, die bestimmte Formen von Plastik verdauen können und dann ihrerseits als Nahrungsquelle für den Menschen dienen können. 'Wie Krabben-Popcorn', sagt Hedström. 'Wirklich lecker.' Ein weiterer Prototyp von Hedström, der Fog-X, ist eine oberschenkellange Outdoor-Jacke, die in einen Unterschlupf umgewandelt und mit Hilfe von leichten Stangen zu einem segelähnlichen Gerät umfunktioniert werden kann, das Trinkwasser aus der Luft sammelt. Eine App liefert Echtzeitdaten zur Überwachung von Nebel und Wolken. Im Februar gewann der Fog-X den internationalen Lexus Design Award für junge Designer und setzte sich damit gegen mehr als zweitausend Einsendungen durch. 'Pavels ist eine Art sehr romantischer, 'Dune'-ähnlicher Charakter, so wie er sich und seine Arbeit präsentiert', sagte mir Sumayya Vally, eine südafrikanische Architektin, die den Serpentine-Pavillon 2021 entworfen und Hedström als Mentorin begleitet hat. 'Es ist dystopisch, aber auch sehr, sehr real.' Paola Antonelli, leitende Kuratorin in der Abteilung für Architektur und Design des Museum of Modern Art, war Mitglied der Jury für den Lexus Award. Sie ordnete Hedströms Arbeit in eine Tradition spekulativer und radikaler Architektur ein, die in den sechziger Jahren begann. Gruppen wie Archigram in London und Archizoom in Florenz stellten sich wandelnde Städte, Plug-in-Städte und die 'No-Stop City' vor, eine Stadt, die von der Architektur selbst befreit ist. Sie loteten die Zukunft aus, um die Gegenwart zu verwirren. 'Wunderschöne Artefakte - also eine große formale Eleganz -, die das Auge anziehen, um dann den Geist zu fesseln', so Antonelli. 'Pavels, gerade aus der Schule gekommen, ist sozusagen der Sohn all dieser Designer.'"

Weitere Artikel: Rebecca Mead erinnert sich anlässlich einer britischen Ausstellung an die Ästhetik der Bloomsbury Gruppe. Rachel Sym beschreibt die Karriere des amerikanischen Designer Thom Browne, der jetzt erstmals eine Kollektion bei den Haute Couture-Schauen in Paris zeigen darf. Vinson Cunningham porträtiert den Theaterautor Jeremy O. Harris. Und Anthony Lane sah im Kino Kenneth Branaghs neuen Poirot-Film, "A Haunting in Venice".

Magazinrundschau vom 12.09.2023 - New Yorker

Ross Douthat, nicht unumstrittener Kolumnist der New York Times, steht zwischen den zunehmend verhärteten Fronten von Konservatismus und Liberalismus, zeigt Isaac Chotiner in seinem Porträt eines Mannes, der sich selbst zwar eigentlich konservativ nennt, aber immer am Austausch mit und dem Verständnis von anderen Meinungen interessiert ist - auch wenn es sich dabei um Verschwörungstheorien handelt. "'Ich glaube, viele Menschen im Umkreis des New Yorkers oder der New York Times haben während der Trump-Zeit beschlossen, dass sie gar nicht wissen wollen, woher all diese Ideen überhaupt kommen. Es hat ihnen gereicht, dass sie schlecht waren. Ich glaube, man sollte sich schon bemühen herauszufinden, woher diese Theorien kommen.' Douthat wurde immer lebhafter; er lächelte breit und wedelte mit der rechten Hand in der Luft, um seine Aussagen zu unterstreichen. 'Was der Liberalismus - der Eliteliberalismus, wie auch immer Sie ihn nennen - nicht hat, ist eine Theorie der Überzeugungskraft.' Er hielt erneut inne. 'Deshalb bin ich vielleicht doch ein Liberaler, weil ich mich für diese Theorien der Überzeugungskraft interessiere.'" Laut Chotiner diskutiert Douthat lieber, warum eine Idee nicht funktionieren kann, als darüber, ob sie fehlgeleitet ist. "Zuvor hat er mir bereits erzählt, dass es 'ironischerweise die Bedeutung des Glaubens schwächen kann, wenn Kirche und Staat zu sehr miteinander verflochten sind, weil Religion von den Menschen so als korrupt oder zu involviert in die schmutzige Tag-für-Tag-Realität der Welt wahrgenommen wird'. Douthat überträgt diesen Pragmatismus manchmal auf seine Kritik an der Linken. 'Ich denke, es ist wichtig, dass die Leser des New Yorker erkennen, dass es sich hier um eine Aussage über Glaubenssysteme im Allgemeinen handelt, die nicht nur auf das katholische Christentum zutrifft', so Douthat, einen früheren Kommentar weiter ausführend. 'Wenn man an die Ansichten denkt, die mit Antirassismus und Wokeness und so weiter verbunden sind, zeigen sich die Grenzen dessen, was eine elitäre Form der Progressivität in der Breite der Bevölkerung erreichen kann, ohne einen Backlash vom Typus Ron DeSantis zu provozieren. Überzeugungskraft und Konsens sind sehr wichtig für Religion, für Politik, für Ideologie.'"

Weitere Artikel: Julian Lucas liest Mohamed Mbougar Sarrs Roman "Die geheimste Erinnerung der Menschen". Jennifer Egan erzählt von Obdachlosigkeit in New York und wie man ihr entkommt. Judith Thurman stellt die Homer-Übersetzerin Emily Wilson vor. Jill Lepore bespricht Walter Isaacsons Musk-Biografie. Carrie Battan hört Europop von Romy.

Magazinrundschau vom 05.09.2023 - New Yorker

Von den gleichen Motiven wie Michelle Fournet sind auch die Forscher getrieben, die das CETI-Forschungsprojekt betreiben, um mit Hilfe von KI die Klicklaute der Pottwale zu erlernen. Wenn man Elizabeth Colberts Reportage liest, möchte man sofort Meeresbiologe werden - oder wenigstens welche kennenlernen, zum Beispiel den Kanadier Shane Gero, der seit 2005 die Pottwale vor der Antilleninsel Dominica studiert und inzwischen jeden von ihnen mit Namen kennt. Colbert erlebt sogar die Geburt eines von hungrigen Grindwalen umkreisten Pottwalbabys. Steven Spielberg könnte das nicht haarsträubender erzählen. Doch zurück zu dem Projekt, das die Westküste Dominicas "in ein riesiges Aufnahmestudio für Wale verwandeln" will. Wenn wir die Grammatik der Laute verstehen, verstehen wir dann wirklich, was die Wale sagen? Nein, erklärt Shafi Goldwasser, die das Simons Institute for the Theory of Computing an der University of California in Berkeley leitet. "'Heutzutage spricht jeder über diese generativen KI-Modelle wie ChatGPT', fährt sie fort. 'Was tun sie? Man gibt ihnen Fragen oder Aufforderungen, und sie geben dann Antworten, indem sie vorhersagen, wie Sätze zu vervollständigen sind oder welches das nächste Wort sein wird. Man könnte also sagen, dass das ein Ziel von CETI ist - dass man nicht unbedingt versteht, was die Wale sagen, aber dass man es mit gutem Erfolg vorhersagen kann. Man könnte also ein Gespräch erzeugen, das ein Wal verstehen würde, aber vielleicht versteht man selbst es nicht. Das ist also eine Art seltsamer Erfolg.' Vorhersage, so Goldwasser, würde bedeuten, 'dass wir erkannt haben, wie das Muster ihrer Sprache aussieht. Es ist nicht zufriedenstellend, aber es ist etwas.'"

Sehr viel beängstigender liest sich Dana Goodyears Wissenschaftsreportage über die Möglichkeiten der Genmanipulation durch CRISPR. Als der chinesische Wissenschaftler He Jiankui 2018 als erster die internationale Vereinbarung durchbrach, CRISPR nicht bei Embryonen einzusetzen, war das Entsetzen groß. "CRISPR versprach, die Medizin zu verändern, indem es einen Weg zur Heilung einer genetischen Krankheit durch Editieren der DNA des betroffenen Gewebes bietet. Diese Form des Editierens wird als 'somatisch' bezeichnet; die Veränderungen, die dabei vorgenommen werden, sind auf den einzelnen Patienten beschränkt. Beim Editing eines Embryos hingegen wird die DNA der zukünftigen Eizellen oder Spermien des Embryos - seine Keimbahn" - verändert, was zu Veränderungen führt, die an die nachfolgenden Generationen weitergegeben werden", die dem Probanden schaden und künftige Generationen beeinträchtigen könnten. Deshalb setzte sich unter den Wissenschaftlern ein breiter Konsens durch, vorerst keine vererbbaren Veränderungen am menschlichen Genom vorzunehmen. Doch dieses Einverständnis scheint angesichts der Fortschritte bei CRISPR langsam aufzuweichen, stellt Goodyear fest. Es gibt wirklich grauenvolle Erbkrankheiten, die man einfach nur ausgerottet wünscht, wie man am Ende der Reportage lesen kann, in dem Goodyear von einer Familie erzählt, deren Tochter am Batten-Syndrom leidet. Aber es bleiben eben auch die Risiken: "Eine große Sorge ist, dass sich die CRISPR-Schere nicht vorhersehbar verhält: Wie die Besen in 'Der Zauberlehrling' schneidet sie manchmal das Zielgen und schneidet dann immer weiter, was zu 'Off-Target'-Mutationen führt. Selbst die 'zielgerichteten' Schnitte können negative Folgen haben; das Ausschalten eines Gens kann ein Gesundheitsproblem lösen, aber ein anderes verursachen. (...) In einem Positionspapier aus dem Jahr 2015 mit dem unverblümten Titel 'Don't Edit the Human Germline' argumentierte eine Gruppe von Wissenschaftlern, dass die Kontroverse über das Editing menschlicher Embryonen die Aussichten auf somatisches Editing gefährden würde, das das Leben von Millionen von Menschen retten könnte, die bereits leben und leiden. ... Die Autoren fügten hinzu, dass es ein Leichtes sei, vererbbares Editing für 'nicht-therapeutische Veränderungen' zu nutzen. Fyodor Urnov, einer der Autoren, sagte: 'Ich nenne Ihnen jetzt drei Anwendungsszenarien, vor denen wir große Angst haben sollten. Befürchtung Nummer eins: die Bewaffnung des Militärs. Wir wissen, wie man einen Menschen herstellt, der mit vier Stunden Schlaf auskommt - ich kann Ihnen sagen, welche Mutation wir vornehmen müssen. Zweitens: Wir wissen, welches Gen wir verändern müssen, um das Schmerzempfinden zu verringern. Wenn ich ein Schurkenstaat wäre, der eine nächste Generation von quasi schmerzfreien Soldaten der Spezialeinheiten herstellen will, weiß ich genau, was zu tun ist. Es ist alles veröffentlicht. Und drittens: Körperliche Stärke. Man braucht keine große Laboroperation. Man braucht nur den bösen Willen.'"

Weitere Artikel: Jackson Arn stellt anlässlich seiner ersten Retrospektive in Bostons Museum of Fine Arts den Maler Matthew Wong vor. Alex Ross erlebt eine neue Lisztomanie. Und James Wood empfiehlt Clare Carlisles "eloquente und originelle" Eliot-Biografie "The Marriage Question: George Eliot's Double Life".
Stichwörter: ChatGPT

Magazinrundschau vom 22.08.2023 - New Yorker

Das ist mal wieder so ein Artikel, aus dem HBO eine fette Serie wie "Succession" machen könnte, à la "Elon Musk auf dem Weg zur Weltherrschaft". Wenn man Ronan Farrows 60.000 Zeichen durch hat, findet man diesen Titel gar nicht mehr so abwegig und um so unheimlicher, als Farrow gegen Ende seines Artikels vor allem auf Elon Musks depressive Tendenzen, seinen angeblichen Drogengebrauch, sein Querdenkertum und seine immer trolligere und verrücktere Rhetorik zu sprechen kommt. Die entscheidenden Passagen finden sich dennoch eher im ersten Drittel des Artikels, denn sie zeigen, dass ganz Amerika im Grunde längst von diesem Mann abhängig ist, und nicht nur Amerika, denn die komplette Kommunikationsstruktur der ukrainischen Kriegsführung hängt an dem Internetzugang, den Elon Musk ihr über seine Internetsatelliten via Starlink gewährt. Das große Geld hat schon häufiger eine Rolle in Kriegen gespielt, so Farrow. Aber "es gibt kaum einen Präzedenzfall dafür, dass ein Zivilist zum Schiedsrichter eines Krieges zwischen Nationen wird, und auch nicht für den Grad der Abhängigkeit, den die USA jetzt von Musk in einer Vielzahl von Bereichen haben, von der Zukunft der Energie und des Transports bis zur Erforschung des Weltraums. SpaceX sind derzeit die einzigen Raketen, mit denen die NASA Besatzungsmitglieder von amerikanischem Boden in den Weltraum transportieren kann - eine Situation, die noch mindestens ein Jahr andauern wird. Der Plan der Regierung, die Autoindustrie auf Elektroautos umzustellen, erfordert einen besseren Zugang zu Ladestationen entlang der amerikanischen Autobahnen. Dies hängt jedoch von den Maßnahmen eines anderen Musk-Unternehmens, Tesla, ab... Seit zwanzig Jahren sucht Musk angesichts bröckelnder Infrastruktur und eines schwindenden Vertrauens in die Institutionen nach Business-Chancen in wichtigen Bereichen, aus denen sich der Staat zurückgezogen hat." Und "seine Macht wächst weiter. Seine Übernahme von Twitter, das er in 'X' umbenannt hat, bietet ihm ein entscheidendes Forum für den politischen Diskurs im Vorfeld der nächsten Präsidentschaftswahlen."

Außerdem: Sam Knight versenkt sich für eine Reportage tief in die Welt der Bio-Bienenhalter - und fragt sich angesichts neuerer Forschungsergebnisse, wonach wilde Bienen viel resistenter sind als bisher angenommen, ob Bienenhaltung wirklich in Ordnung ist. Und Filmkritiker Richard Brody stellt beim Sichten einer neuen Amazon-Doku über Wayne Shorter fest: Der kürzlich verstorbene Jazz-Saxofonist war ein Nerd und echter Filmfreak. Der Trailer gestattet einen ersten Einblick:

Stichwörter: Musk, Elon, Farrow, Ronan, Tesla

Magazinrundschau vom 15.08.2023 - New Yorker

Über Ukrainer, die in das Land des Aggressors fliehen (müssen) und die vielfältigen Ursachen dafür schreibt Masha Gessen und porträtiert dabei Schicksale wie das der Krankenschwester Olga, die bei Ausbruch des Krieges mit ihrer Familie in dem Mariupoler Krankenhaus, in dem sie arbeitet, Schutz vor russischen Bomben sucht. Russische Truppen evakuieren sie, sie kommt nach St. Petersburg: "Sie hat keinen Kontakt mehr zu einigen ihrer engsten Freunde, die sich in Westeuropa aufhalten. 'Sie sind völlig vom Krieg eingenommen,' erzählt sie mir, 'das ist alles, worüber sie sprechen.' Olga spricht mit ihren Kindern nicht über den Krieg. Sie hat ihnen erzählt, ein 'böser Mann' habe ihren Vater getötet. Während unseres Gesprächs wiederholt sie ständig, 'Ich habe diesen Krieg erlebt.' Ich beginne zu verstehen: Würde Olga nach Westeuropa oder zurück nach Mariupol gehen, hätte sie ständig das Gefühl, sich immer noch mitten im Krieg zu befinden. Sie will nur damit abschließen. Der einzige Ort auf diesem Planeten, auf dem es keinen russisch-ukrainischen Krieg gibt, ist Russland. Was die russische Regierung als humanitäre Hilfe tarnt, nennen Menschenrechtsaktivisten Kriegsverbrechen. Viele Ukrainer, mit denen ich gesprochen habe, haben Situationen beschrieben, in denen es der einzige Ausweg vor dem sicheren Tod schien, in einen der Busse zu steigen, die, von russischen Behörden gestellt, nach Russland oder in russisch besetzte Gebiete fuhren. In einem Bericht von September 2022 hat Human Rights Watch solche Fälle als 'illegale Zwangsumsiedlung' bezeichnet. Nach internationalem Recht sind Zwangsumsiedlungen oder Deportationen - ersteres meint die Bewegung von Menschen innerhalb der Staatsgrenzen, letzteres über Grenzen hinweg - Kriegsverbrechen. (Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien hat mindestens drei Personen der Zwangsumsiedlung bosnischer Muslime für schuldig befunden.) Der Bericht macht deutlich, dass dieses Kriegsverbrechen auch 'Umsiedlungen in Umständen miteinschließt, in denen eine Person nur zustimmt, weil sie Konsequenzen befürchtet wie Gewalt, Nötigung, Inhaftierung, wenn sie bleibt, und die Besatzungsmacht diese zwanghaften Rahmenbedingungen ausnutzt, um sie umzusiedeln. Zivilisten zu vertreiben oder umzusiedeln, kann nicht mit humanitären Gründen gerechtfertigt werden', fährt der Bericht fort, 'wenn die humanitäre Krise, die diese Bewegungen auslöst, selbst das Ergebnis rechtswidriger Handlungen der Besatzungsmacht ist.'"

Nicht nur der Krieg beschäftigt den New Yorker weiterhin, auch die Probleme, die Konsum im Überfluss mit sich bringen - und die Chancen für Unternehmer, die damit einhergehen. "Dale Rogers, Wirtschaftsprofessor an der Arizona State University, hat zusammen mit seinem Sohn Zachary, der an der Colorado State lehrt, einen Vortrag gehalten, in dem es hieß, dass allein die Retouren der Weihnachtszeit sich in den USA mittlerweile auf einen Wert von 300 Milliarden Dollar pro Jahr belaufen. Zachary sagt: 'Also sind eineinhalb Prozent des Bruttoinlandsprodukts der USA - bereits größer als das BIP vieler Länder der Erde - nur Zeug, das Leute zu Weihnachten bekommen und mit 'Hm, gibt's das auch in blau' wieder zurückgegeben haben.' Der jährliche Verkaufswert von retournierten Bestellungen in den USA nähert sich wohl eine Billion Dollar", hat David Owen in seiner Recherche über die Industrie der 'Reverse Logistics', das Geschäft mit Warenrückgaben, herausgefunden. Dahinter stehen ungeheure finanzielle Summen und eine Wegwerfmentalität nicht nur der Verbraucher, sondern auch der Hersteller: "Fast alle modernen Geräte enthalten Elektronik, die nicht nur eine begrenzte Lebensspanne hat, sondern in der Regel auch unmöglich zu reparieren und teuer auszutauschen ist. Unser früherer Handwerker hat meiner Frau und mir erklärt, dass wir immer das 'dämlichste' Gerät kaufen sollten, das wir finden können. Ein guter Rat, der aber mittlerweile fast nutzlos geworden ist, weil sogar Mixer und Kaffeemaschinen Mikrochips enthalten."

Weitere Artikel: Parul Sehgal porträtiert die Autorin Jaqueline Rose. Zech Helfand beschreibt die Faszination von Monster-Truck-Shows. Kathryn Schulz liest Gunnar Brobergs Biografie über Carl Linneus, und Alex Ross hört Monteverdis "Orfeo" open air in Santa Fe.

Magazinrundschau vom 01.08.2023 - New Yorker

The Ones That Shouldn't: The Gift. © Lisa Yuskavage. Courtesy the artist and David Zwirner

So entblößt hat Ariel Levy den männlichen Blick auf weibliche Körper noch nie gesehen, wie auf den Bildern der amerikanischen Malerin Lisa Yuskavage, die er für den New Yorker porträtiert. Sie nimmt beim Malen selbst diesen dezidiert männlichen Blick ein, um dessen objektivierende Sicht zu entlarven. So auch bei einem Gemälde, das von David Lynchs Film "Blue Velvet" inspiriert ist: "'Ich dachte, Warum stelle ich mir nicht einfach vor, dass er es ist, der malt?' Das Resultat ist ein verstörendes Bild mit dem Titel 'The Gifts.' Vor einem algengrünen Hintergrund steht eine nackte weibliche Figur, deren Arme entweder fehlen oder hinter dem Rücken gefesselt sind, sie schwebt über einer Flut wogender Wellen. Es sieht aus, als würde die Frau mit vorgehaltener Waffe dazu gezwungen werden, als Gallionsfigur eines Schiffes zu dienen. 'Dann habe ich ihr diese albernen, billigen Blumen in den Mund gestopft', sagt Yuskavage. 'Und ich konnte nicht mehr aufhören zu lachen.' Die Figur sieht verstört aus, traumatisiert. Sie hat Yuskavage an eine Robbe in einer PETA-Werbung erinnert, die schon weiß, dass sie gleich zu Tode geknüppelt wird. 'Ein Mann würde seiner Figur das niemals in die Augen legen, verraten, dass sie diese Angst hat', sagt sie. 'Aber weil ich eine Frau bin, kann ich das nicht ignorieren.' Diese Arbeit ist anders als die Bilder in ihrer ersten Ausstellung. Die schlammigen Töne wurden ersetzt durch lebhafte, gesättigte Farben; die weibliche Figur ist aggressiv exponiert, anstatt sich zu verstecken. Yuskavage ist begeistert: 'Ich habe mich beim Malen so gut gefühlt - ich dachte mir, das muss richtig sein.' Entweder das, oder sie wäre dabei, den Verstand zu verlieren."