Literarischer Rettungsschirm für Europa

Träumend an Europas Tür

Von Pedro Rosa Mendes
19.09.2012. Was haben vierzig Jahre Europa Portugal gebracht? Warum haben die reichen Europäer in Portugal, Spanien oder Griechenland totalitäre Zustände geduldet, die sie in ihren eigenen Ländern nie toleriert hätten? Der portugiesische Autor Pedro Rosa Mendes zieht eine bittere Bilanz.
Ende der siebziger Jahre war "Europa" ein Haus mit vorhersehbaren Gewohnheiten beziehungsweise festen Öffnungszeiten. Wenn ich mich recht erinnere, schloss es seine Tore um 10 Uhr abends und öffnete sie erneut um 6 Uhr morgens. Zumindest als Kind hatte ich diesen Eindruck, bestätigt durch die Nächte, die wir im Niemandsland zwischen dem Zoll von Vilar Formoso und Fuentes de Oñoro verbrachten, dem Hauptgrenzübergang zwischen Portugal und Spanien. "Europa" war verbunden mit dieser diffusen Zeit: der Zeit des Wartens. Damals wartete man zugleich auf den Morgen und das Morgen. Das Morgen und die Grenze verschmolzen miteinander, wurden zu einer Art Schwelle, einem Ort, weder innen noch außen, da er genau jenes unsichtbare Gebiet des Hindurchs ist. In diesen unterbewussten Zuständen wohnen die Träume. Ich komme aus einem Land, in dem die Grenze vor noch nicht allzu langer Zeit (der Zeit meiner Eltern) ein existenzielles Thema war: springen oder bleiben, springen oder sterben, springen oder verzichten?

Die Zeit meiner Kindheit und Jugend war ein kurzes Hindurch in einer neunhundertjährigen Geschichte, eine diffuse Passage zwischen zwei Abkürzungen, dem PREC (1) und der EWG. Ich gehöre der Generation an, die in Portugal weder die Mutter noch das Kind der Demokratie ist. 1968, unter der Diktatur, geboren, kam ich 1974, im Jahr der Nelkenrevolution, in die Schule und begann 1986, im Jahr von Portugals Beitritt zur Europäischen Union, mein Universitätsstudium. Historisch gesehen hat meine Generation nichts zuwege gebracht, obgleich sie mit allem gesegnet ist: mit Freiheit, Demokratie und Wohlstand - kurz gesagt, mit "Europa". Mit diesen Segnungen bestens versehen, stellen wir uns selten oder so gut wie nie die Frage, ob Portugal sich nicht vielleicht besser aus der Affäre hätte ziehen können.

Hindurch ist kein Ort und zugleich die Möglichkeit aller Orte: eine Hoffnung, eine Prophezeiung, eine Lüge. Man ist noch nicht dort, aber dort ist schon hier. Es ist ein Schlaf und ein Unterbrechen dieses Schlafes, die Schwelle zwischen Traum und Bewusstsein. Auf den Rücksitz unseres Wagens gekuschelt, fuhr ich manchmal so verwirrt aus dem Schlaf hoch wie jemand, der beim Aufwachen nicht gleich weiß, wo er sich befindet,

- Sind wir schon da?

draußen war es dunkel, bis auf die Neonlichter der Läden, in denen man Karamellbonbons und Sevillapuppen kaufen konnte und aus denen mein Vater mit Chorizo, Serranoschinken, anderen "Tapas" und einer Flasche Orangeade Marke La Casera zurückkam,

- Noch nicht, träum noch ein bisschen,

hinter uns stauten sich die Wagen in einer langen Schlange, irgendwo vor uns befand sich der Zollposten, wo im brenzligsten Moment der Reise, nämlich wenn es zurück nach Hause ging, ein Mann in Uniform, dessen Beruf das Misstrauen war, in jeden Wagen hineinfragte:

- Etwas zu verzollen?

ja, was könnte es denn zu verzollen geben, Herr Zollwachtmeister, eine Flasche Whiskey?, ein tragbares Tonbandgerät?, eine Kaffeemaschine?, unbedeutende Luxusartikel, erstanden auf einem der obligaten Streifzüge durch die Läden von Andorra,

- Wir waren mit dem Jungen in einer Klinik in Barcelona.

ja, was könnte es denn geben im Auto einer Familie der Mittelklasse?, keine Mittelklasse in Europa, sondern in Portugal, mittelmäßig besorgt, mittelmäßig ärztlich versorgt, mittelmäßig ehrfurchtsvoll, was an "Schmuggelware" könnte es geben?

Die Grenze war ein Filter. In welcher Richtung man sie auch passierte, hier fuhr "Europa" durch, auf diesem Asphaltstreifen zwischen Beira-a-Pobre und Castela-a-Velha, wo das Esperanto der Identifikationszeichen TIR an den Lastwagen eine prosaische, aber deutliche Vorstellung von freiem Warenverkehr verwirklichte. Diese Vorstellung von zirkulierender Freiheit war ein "singendes", nahezu ideologisches Morgen in einem ewig armen Land, das noch immer nicht lesen und schreiben konnte und noch immer in der Klemme steckte, ein low-cost Vaterland, das sich eben erst - gezwungenermaßen und hastig - seines Kolonialreiches und seiner Diktatur entledigt hatte. Das portugiesische Kolonialreich besteht erst seit Kurzem nicht mehr. Seit vorgestern. Seit so kurzer Zeit, dass Portugal bisher noch keine Zeit fand, zu begreifen, was es bedeutet, in "Europa" zu sein. Oder besser, dass es sich mit falscher Leichtigkeit in "Europa" integrierte: Seit Gründung der NATO war es bereits im "Atlantik" und musste "Afrika" daher auch nur abstoßen (dieses ewige Laster imaginärer Geografien, vielleicht ein imperialer Reflex, alles ist generisch, nichts ist konkret und nur wenig genau), um erneut "seinen historisch angestammten Platz" auf dem Kontinent einzunehmen (das erzählen sie uns als Kindern und selbst noch als Erwachsenen). "Europa" war eine einfache Reise. Portugal war ein Erfolg, es entwickelte sich zum Musterschüler Brüssels. Oder etwa nicht? Plötzlich ein Scherbenhaufen, aus der Traum. Das Land ist zahlungsunfähig, mit einem Mal ist von einer schwachen Produktionsstruktur die Rede, einer absurd hohen Verschuldung der privaten Haushalte, einem schwerfälligen Beamtenapparat, von wirtschaftlichen Indikatoren und einem sozialen Ungleichgewicht, das die Wirtschaftswissenschaftler als "auf dem Niveau eines Entwicklungslandes" einstufen.

- Etwas zu verzollen?

jetzt wird der IWF gerufen, die Regierung macht, von der Troika legitimiert, die Konterrevolution

- Sind wir schon da?

und die von der "Krise" legitimierte Troika, Staat und Troika im Verbund, antwortet in einem Kreuzzug von Steuer- und Arbeitsterror, besessen von der Notwendigkeit "einzusparen", um jeden Preis "einzusparen".

- Noch nicht, träum noch ein bisschen.

Der Sofortkredite beraubt und mit der Schwäche der Realwirtschaft des "europäischen Musterschülers" konfrontiert, entdecken die Lusitaner, wie mir ein Freund bei der Investmentbank sagte, "dass ein portugiesischer Euro nicht denselben Wert besitzt wie ein deutscher Euro". Und als wäre dies nicht schon genug, fordern unsere Regierenden die Portugiesen auch noch offen zur Emigration auf. All dies ist schockierend für ein Volk, das glaubte, es sei kein Auswandererland mehr, und das, während es seinen Mythos vom Neureichen unter den Armen nährte, letztlich nicht das Notwendige unternahm, damit wir aufhören zu sein, was wir fraglos sind, nämlich der "Altarme" unter den Reichen.

Die öffentliche Debatte forderte, während der goldenen Jahre der Strukturfonds und der "Konvergenz", eine Identifikation mit "Europa"; der Erfolg verbarg die schockierende Tatsache der Abwanderung von Portugiesen aus ihrem Land. Aber die Zahlen der Bank von Portugal waren für den, der lesen wollte, immer einsehbar: Die letzte Generation portugiesischer Auswanderer (insbesondere derer nach "Europa" oder genauer nach Frankreich, Deutschland und in die Schweiz) schickte Beträge in Höhe des jährlichen portugiesischen Inlandsprodukts in ihre Heimat. Jetzt ist der Aderlass der Emigration zumindest sichtbar und dem, der noch daran zweifelt, empfehle ich aus pädagogischen Gründen einen morgendlichen Ausflug in die Pariser Banlieue, damit er all die Kombis von Familienunternehmen zählen kann, die "Fensterrahmen und Aluminiumteile", "Reparaturen am Haus" oder "Maurer- und Putzarbeiten" anbieten, die Kennzeichen - und die Reklameschilder! - noch immer portugiesisch. 2011 haben 120 000 Portugiesen ihr Land verlassen. Die Portugiesen, die über eine qualifizierte Ausbildung verfügen - eine goldene Generation mit dem höchsten Bildungsgrad, den es je in der portugiesischen Geschichte gab -, gehen nach London, Paris oder Genf. Sie versuchen in "Europa" jene kritische Masse zu verkaufen, von der sie in ihrem eigenen Land keinen Gebrauch machen können. Einem Land, in dem heute zum Beispiel 500 Euro ein großzügiges Arbeitsangebot für einen jungen Architekten darstellen.

Portugal ist kein Krisenland, sondern ein Land, in dem einiges nicht stimmt, wo die Zurschaustellung über die Würde siegt und das Strebertum fast immer über den Anspruch. Aus einer kürzlich erstellten Analyse von Stellenanzeigen ging hervor, dass ein Schlosser oder ein Klempner mehr verdienen kann als ein Ingenieur. Man kam sogar zu dem Schluss, dass Stellenbewerber, um ihre Chancen zu verbessern, ihre Kenntnisse und Qualifikationen verbergen. Tragischerweise setzt sich die Überzeugung fest, dass "studieren zu nichts nütze ist" in einem Land, das mit Analphabetentum und einem ausgeprägten Mangel an Bildung zu kämpfen hat.

An der anderen Front der Fluchtbewegung aus diesem geografischen Rechteck, das sich von "Europa" entfernt, zieht eine Schar von Arbeitslosen der geplatzten Baublase und der Billiglohnsektoren nach Süden Richtung Angola. Von Angola, dem ehemaligen "Schmuckstück der portugiesischen Krone", sagt die Propaganda beider Länder, es sei ein Land der "günstigen Gelegenheiten". Das entspricht der Wahrheit für den, der keine Skrupel hat. Was man aber in den Medien von Luanda, Lissabon und "Europa" verschweigt, das oft nicht einmal weiß, wo dieses Land überhaupt liegt, ist die Tatsache, dass es in Angola kein sauberes Geld gibt und dass jede "Investition", die man dort tätigt, eine direkte oder indirekte Geldwäsche ist. Um den mutigen angolanischen Rapper MCK mit seinem wunderbaren Gedicht, das genau diesen Sachverhalt thematisiert, zu zitieren: "Im Land von Papa Banana haben sie aus dem Elend ein einträgliches Geschäft gemacht." Angola ist heute ein Circus Maximus neuer kolonialer Ausbeutung in einem Projekt des Raubtierkapitalismus unter der Ägide eines stalinistisch geprägten Regimes. Die Ausbeutung dieses luso-tropischen Binoms aber hat sich ins Gegenteil verkehrt und dazu geführt, dass die Geschichte sich rächt. Die Söhne und Enkel der portugiesischen Kolonisten sind heute - in Werften, Steinbrüchen und im Baugewerbe - die Halbsklaven der Nachkommen der vormaligen "Eingeborenen" und "Assimilierten" aus der "Überseeprovinz", Salazars ganzer Stolz.

Aber Angola ist nicht nur das Ziel unserer Billigkräfte. Nach einem vierzig Jahre währenden Ausflug nach "Europa" steht das demokratische Portugal heute genau dort, wo sich das Portugal der Perestroika Marcello Caetanos befand, des Thronfolgers Salazars, der das Land in einer längst vergangenen Zeit festzuhalten suchte. Portugal, und dies ist eine schmerzliche Feststellung, ist ohne Angola nicht lebensfähig, was wiederum, wie in den siebziger Jahren, die Frage nach der Souveränität aufwirft, diesmal nicht mehr der Angolas, sondern der unseren. Aus Luanda kommt seit einigen Jahren der Zustrom von Kapital und Investitionen - besagte "günstige Gelegenheiten" -, der Portugal auf "europäischem" Minimalniveau hält, ohne dass Portugal ehrlicherweise Schiffbruch bekennen müsste. Im Gegenzug muss Portugal die zunehmende Kontrolle durch angolanische Interessen akzeptieren, und zwar in so lebenswichtigen Bereichen wie dem Bankenwesen, der Energiewirtschaft und, hélas!, dem Handel und den Medien. Das Versagen von Portugal in Europa sowie umgekehrt das Versagen von Europa in Portugal lässt sich nicht nur und auch nicht vor allem aus dem Fehlen von wirtschaftlich-sozialer Konvergenz ableiten, sondern auch aus dem Fehlen einer moralischen und ethischen Konvergenz in der politischen Praxis und in der Zivilkultur. "Europa" erlaubt an seiner Südflanke ein gewisses Maß an politischer Korruption, schlechter Regierungsführung und täglicher antidemokratischer Praktiken und erachtet für normal, was in den Ländern des Nordens - oder selbst des Ostens - niemals ungeahndet bliebe. Dies ist eine Art schlecht bemäntelter Willfährigkeit von jemandem, der in den achtziger und neunziger Jahren, in Brüssel, Paris oder Bonn, nicht verstand, weil er es nicht wollte, den gebührenden Einfluss auf die aufsteigenden politischen Klassen auszuüben, die ihre Klientel aufbauten und finanzierten, indem sie die "Kohäsionsfonds" verteilten und verschleuderten, und zwar zugunsten eines Entwicklungsmodells, das sich nie von dem entfernte, was in dieser Zeit für die "Großen" des "europäischen Projekts" von Vorteil war.

Dies ist übrigens eine für "Europa" durchaus vorteilhafte Amnesie. It's the history, stupid: Portugal hat nicht zu "Europa" gefunden, als es sollte und konnte, da "Europa" und "Amerika", mit anderen Worten die westlichen Demokratien, nach 1945 der Ansicht waren, dass es sich letztlich nicht lohne, zu viel Druck auf Salazar (und Franco) auszuüben. Die großen Protagonisten des "europäischen Projekts" und der Atlantischen Allianz erachteten es als akzeptabel, dass Portugiesen (sowie Spanier und Griechen) weiterhin unter protofaschistischen Regimen lebten, unter der Zwangsherrschaft von Gewalt und Unwissen, die sie für ihre eigenen Völker nie geduldet hätten. Der Diskurs, den wir heute hören, diffus, aber zunehmend mutiger, der Diskurs eines europäischen Mezzogiorno, geführt von Anrainern eines Mittelmeers, das den Maghreb letztendlich auf beiden Seiten hat, ist nur das jüngste Echo der alten Strategien und eine schräge Vorstellung der ehrenwerten Führer von "Europa". Diese Väter der "europäischen Integration" gehören zu denen, die bewusst Regime wie den portugiesischen Estado Novo haben fortbestehen lassen, für die unser Volk einen unermesslich hohen Preis zahlen musste - historisch als Kollektiv und biologisch als Individuen.

Die demokratische Konsolidierung im Herzen "Europas" - eine Zeit des Friedens und somit eine Zeit der Saat und der Ernte - wurde zum Teil mit dem Zins der Totalisierung mehrerer Länder an der Peripherie bezahlt, einschließlich des Landes, in dem ich geboren wurde. "Europa", das schnell urteilt und brandmarkt, sollte nicht vergessen, dass es, bevor es (wie man uns heute sagt) die "Integration" Portugals bezahlte, dessen Ausgrenzung befördert und davon profitiert hat. Auf unterschiedlichste Art und Weise, einschließlich derer, die niemand zugeben will: Bei einem Streifzug, den ich vor Kurzem durch die sowjetischen Archive in Moskau im Rahmen einer akademischen Arbeit über die Afrikapolitik des ehemaligen Warschauer Paktes unternommen habe, stieß ich wiederholt auf Hinweise für den ruhmreichen Beitrag der BRD zu den Kriegsanstrengungen Portugals in Afrika … Nichts ist umsonst im Leben. Der Kalte Krieg hatte einen zweiten Eisernen Vorhang nach Westen, und zwar in den Pyrenäen: den Eisernen Vorhang der Reaktion, symmetrisch zu dem Eisernen Vorhang der Revolution im Osten. Und wenn sich der Übergang auf der Iberischen Halbinsel nicht, wie auf dem Balkan, in einer sichtbaren Explosion vollzog, ist das in erster Linie auf endogene Faktoren und eine überraschende Reife der beteiligten gesellschaftlichen Kräfte zurückzuführen. Die für jeden Portugiesen unangenehme Wahrheit ist: Wir müssen uns heute von Leuten Lektionen in Haushaltsführung anhören, die es nicht verstanden, uns zu gegebener Zeit Lektionen in Freiheit zu erteilen.

Von der Reise durch Spanien vor dreißig Jahren habe ich zwischen Lérida/Lleida und Ciudad Rodrigo eine trostlose Landschaft von kleinen Städten mit ärmlichen Ziegelbauten und eine triste Hochebene aus dicht aufeinanderfolgenden, verschlafenen pueblos wie in einem Western in Erinnerung. Ein befremdlicher Eindruck: Spanien im Westen von Katalonien eine Wüste. Wer kannte schon Valladolid? Wo lag Zaragoza? … Auf der portugiesischen Seite war das Land trotz der seit Generationen ländlichen Rückständigkeit der Beiras (einer zentralen Region Portugals) besiedelt und produktiv, ein bevölkerungsreicher Gürtel im Grenzbereich, seit Jahrhunderten - von der christlichen Reconquista an - wirtschaftlich genutzt, mit alten Industriezentren wie dem Textilstandort Covilhã, dem "portugiesischen Manchester" (einer meiner Großväter war Lumpensammler, das heißt. er lieferte den großen Wollfabriken Stoffabfälle als Rohmaterial). Ich kann mich nicht erinnern, dass wir jemals Olivenöl, Honig oder Käse gekauft hätten. All das kam von den kleinen Parzellen der Familie. Meine Großeltern haben ihre Minifundien bearbeitet, bis sie starben. Und ich habe gelernt, mit der Hacke umzugehen, noch bevor ich lesen und schreiben lernte. Güter des täglichen Bedarfs wurden zu Hause oder innerhalb des Dorfes hergestellt.

Die von "Europa" finanzierte und vorgezeichnete "Entwicklung", die im Küstengebiet unseres Landes Kristallkugeln produziert, dem Aushängeschild für die portugiesische Modernität, hat diese ländliche Welt Stück um Stück zerstört. Sie hat dies auf eine perverse Art bewerkstelligt, durch Subventionen, Quoten, "Anreize" zum Anbau von was auch immer, jedes Jahr etwas anderes (Tabak, wo Weinreben standen, Kiwis, wo es Olivenhaine gab, und Eukalyptus, wo Pinien wuchsen …), bis schließlich die Kombination von Wirtschaftspolitik und Missmanagement der Behörden vor Ort das Landesinnere entvölkerte und neuen Blutes beraubte. Und das Motiv für all die "Anreize"? Die Bedürfnisse des Räderwerks der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP), die zum Vorteil der industriellen Landwirtschaft von "Europa" nicht nur ein wirtschaftliches, sondern auch ein kulturelles Ökosystem zerstört und ein melancholisch stimmendes Szenarium mit Golfplätzen und Jagdrevieren aus ihm gemacht hat. Ein unersetzlicher Verlust, eine anthropologische Erosion. Um diesen Kontrast zu verdeutlichen: In Deutschland zum Beispiel gibt es Tabuwörter, die Dinge benennen, die niemand vergessen darf, das Wörterbuch der portugiesischen Sprache hingegen ist voller Wörter, die immer weniger Leute kennen. Sie benennen Gegenstände und Tätigkeiten eines entvölkerten (und nicht etwa verödeten) Universums: die ländliche Welt. Was bedeutet das Verb jäten? Was das Substantiv Gewann? Meine Eltern redeten mit mir in einer Sprache, die ich mit meinen Töchtern bereits nicht mehr sprechen kann, da eine ganze auf dem Land geborene Generation auf ihrer europäischen Reise in die Städte an der Küste abgewandert ist.

Ich erinnere ich mich noch daran, in meinem Schlaf, hinter Vilar Formoso, hinter dem Zollposten:

- Etwas zu verzollen?

der letzte Teil der Reise, bis Beira Baixa waren es nur noch wenige Stunden, verlief ausgelassen und heiter, Erleichterung lag in der Luft, und es kam mir vor, als glitte unser Opel Kadett Caravan auf der Gegenspur zu Europa schneller dahin. Eines Tages fragte ich meinen Vater, warum er nicht fortgegangen sei, warum er nicht, wie man sagte, den Sprung gewagt habe, mit anderen Worten, aus dem Land von Salazar geflohen sei,

- Sind wir schon da?

rechtzeitig, um nicht nach Afrika in den Krieg ziehen zu müssen,

- Etwas zu verzollen?

rechtzeitig, um vielleicht zu studieren und nicht nur seine Ausbildung zum Volksschullehrer zu machen, rechtzeitig, um in "Europa" zu leben und nicht in der Mittelmäßigkeit,

- Noch nicht, träum noch ein bisschen.

aber er hat nicht geantwortet und ich habe nie mehr gefragt.
Bis heute habe ich das Gefühl, ich habe ihn verletzt. Oder aber er war es, der mich nicht verletzen wollte.
Mit anderen Worten: Seine Generation muss die letzte in Portugal gewesen sein, die "ins Ausland gehen" nicht von Fahnenflucht unterscheiden konnte. Deshalb blieb mein Vater auf der Schwelle.
Ich hingegen habe es gelernt. Anderes habe ich "Europa" nicht zu verdanken.

Genf, Juli 2012


Übersetzt aus dem Portugiesischen von Inés Koebel

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(1) Processo Revolucionário Em Curso (Laufender Revolutionärer Prozess): Sozialpolitische, kurz nach der Nelkenrevolution ins Leben gerufene Bewegung linker Parteien und Organisationen, die u. a. die Nationalisierung von Banken, Transport- und Kommunikationswesen sowie verschiedener Industriezweige und die Stärkung der Gewerkschaften betrieb. Löste sich im November 1975 auf.

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Pedro Rosa Mendes' Text erschien in der Reihe "Europe now: Ein literarischer Rettungsschirm für Europa", die das Internationale Literaturfestival Berlin organisiert hatte. Wir bringen in Kooperation mit dem Festival 19 Texte von 19 Autoren, jeden Tag einen.