Literarischer Rettungsschirm für Europa

Süden und Glück

Von Flavio Soriga
20.09.2012. Flavio Soriga, eine Rothaut aus der Campidano-Ebene bei Cagliari, ist Argentinier, Grieche, Lusitanier und vor allem - Sarde. Was hat Europa mit ihm zu tun? "Eine ganze Menge, denn Europa ist, glaube ich, was wir sein wollen".
Um diesen Artikel oder Tagebucheintrag oder Erzähl- oder Bekenntnistext zu schreiben, habe ich eine Tango-CD in die Stereoanlage geschoben. Weil ich aus Buenos Aires bin, auch wenn ich noch nie einen Fuß in die Stadt gesetzt habe: trotzdem ist sie meine, so, als wäre sie's. Vor allem nämlich bin ich aus dem Süden und kenne mich aus mit den Nachmittagen im Viertel Palermo, den Spaziergängen am Hafen, der wunderbaren Hitze im Hochsommer, wenn du keine Luft mehr kriegst und nur noch schwitzen und träumen und dich mit einer kalten Wassermelone zum Ausruhen still auf eine Bank setzen und dir die Zukunft ausmalen kannst, weit weg von hier, woanders, du weißt nicht wo, aber es gibt sie, noch heißer als hier und schöner denn je.

Letztes Jahr bin ich zum ersten Mal in Sevilla gewesen und fühlte mich gleich zu Hause: die Kellner ruppig, die Leute nörgelig, alte Frauen mit dem Rosenkranz in der Hand, die Cafés voll von properen, melancholischen alten Männern, die Orangen, das Brot, die Tomaten. Ich bin Südländer und ich bin Europäer und Italiener und Sarde. Jede dieser Zugehörigkeiten ist zugleich wahr und erfunden, wirklich und erträumt, zufällig und gewollt. Vor allem bin ich Sarde: geboren und aufgewachsen auf einer großen Insel, zu der ich immer gehören werde, weit weg vom übrigen Italien und von Europa, einer Insel, von der jahrhundertelang niemand erzählt hat, und als man damit anfing, hieß es, sie sei das Patagonien Italiens, unermesslich weites, unendlich stilles Land, voll wilder Natur und träger, kränklicher, wo nicht durch und durch bösartiger Bewohner.

Ich komme von Sardinien und heute, wo die Regierungen vom Norden des Kontinents den Staaten des Südens alle naselang mit dem Ausschluss aus Europa drohen, merke ich, dass mich diese Drohungen im Grunde vollkommen kaltlassen: Denn ich bin außerhalb von Europa aufgewachsen. Ich bin wirklich sehr weit weg von euch aufgewachsen, weiter weg, als ihr euch vorstellen könnt, wie ein Grieche auf einer der allerkleinsten und gottverlassensten Inseln, wie ein Aborigine, wie eine Rothaut. Tatsächlich bin ich, auch wenn ich euch jetzt nicht erklären kann warum und weshalb und das bisher noch niemand geschafft hat, auch wenn ihr diese Idee vielleicht lachhaft findet und vielleicht denkt, ich übertreibe aus lauter Übermut, tatsächlich bin ich, wie alle Sarden aus den Dörfern Sardiniens, eine Rothaut. Ein Indianer, aufgewachsen in einem Dorf, das mir vorkam wie ein Gefängnis und natürlich keines war, sondern ein verwunschenes Gehege, Traum und Wunder, wie in Wahrheit alle, fast alle Orte, an denen wir aufgewachsen sind, jedenfalls wenn wir uns als Erwachsene, oder noch mehr im Alter, nur daran erinnern. Ich bin in Uta aufgewachsen, das, vielleicht sagt es schon der Name, wie ein Sioux-Reservat war, mit den sardischen Rothäuten aus der Campidano-Ebene bei Cagliari, von Berlin, Rom oder Barcelona Hunderttausende von Kilometern entfernt.

Ich lebe zwar in Rom, bin aber Argentinier, Grieche, Lusitanier und vor allem Sarde, und immer noch schaue ich auf das Leben als ein Sarde, der in die Welt gezogen ist, mit dieser dunklen, ledrigen Haut eines stolzen und ein bisschen großspurigen Indianers, mit allen Schwächen und Unsicherheiten aller Rothäute der Welt. Was also hat Europa mit mir zu tun?

Eine ganze Menge, denn Europa ist, glaube ich, was wir sein wollen, wir alle, die wir in den letzten vierzig Jahren geboren wurden und aufgewachsen sind mit Erasmus, den Billigflügen, dem Basic English, das wir allesamt so einigermaßen beherrschen, Inselindianer und Frankfurter Bürger, die sich die gleiche Musik anhören, im Kino die gleichen Filme anschauen und zum Arbeiten die gleichen Computer benutzen. Es ist etwas sehr Schönes, dass dieses Festival Schriftsteller dazu aufgefordert hat, über ihre Idee von Europa zu schreiben. Denn Völker werden zwar, das stimmt, durch Währungen geprägt, aber auch durch Geschichten, in denen sie einen Teil von sich wiedererkennen, Geschichten, die sie dazu bringen, sich als Teil einer Gruppe - beispielsweise eben eines Volkes - zu sehen und zu fühlen. Für gewöhnlich sind es von den Regierungen bezahlte Schriftsteller, die einige - Tausende und Abertausende von Menschen - dazu bringen, eine Uniform anzuziehen, ein Gewehr in die Hand zu nehmen und für Volk und Vaterland (in jeder Sprache großgeschrieben) zu sterben. "Hoch lebe Italien, Tod den Österreichern!" (Oder den Spaniern, den Russen oder den Deutschen oder wem auch immer, irgendeinen gibt es immer, den man fürs bedrohte Volk und zum Ruhm des Vaterlandes töten soll.)

Unser heutiges Europa ruft zum Glück niemanden dazu auf, zum Gewehr zu greifen. Aber trotzdem gibt es unfähige Regierende, bequeme Journalisten und andere Übelwollende, die Slogans brüllen wie im Krieg, die den vermeintlichen Feinden Vorwürfe entgegenschleudern, verstaubte Begriffe aus Schlacht und Schützengraben hervorkramen und im Fernsehen reden, als würden sie von einem fatalen Balkon herab eine Ansprache an die Massen halten. Und wir Indianer aus der Provinz, wir Schriftsteller mit mehr oder weniger lauter Stimme, wir können in unseren Erzählungen und auf den Festivals, wo wir zu Gast sind, nur immer wieder unsere kleinen, unsicheren Wahrheiten vorbringen. Wäre ich also in der Nachkriegszeit Schriftsteller gewesen und hätte etwas über die Lage Europas schreiben sollen, dann hätte ich gesagt, dass niemand die Deutschen anrühren soll. Dass nur ja niemand denken soll, das unendliche Leid, das eine Gruppe psychotischer Regierender der Welt angetan hat, müsse vergolten werden, müsse dem Schneider aus Frankfurt, dem Landwirt aus München oder seiner Frau, die zwei Söhne verloren hat, heimgezahlt werden, all den einfachen Leuten, die den Krieg durchgemacht haben. Dass niemand die in Deutschland lebenden Menschen mit dem deutschen Volk verwechseln darf. Und wenn ich heute etwas über Europa sagen soll, dann ist es mehr oder minder dasselbe: dass es kein Volk von Südländern gibt, das in Saus und Braus lebte, während die fleißigen Völker des Nordens eifrig gearbeitet haben.

Mein Onkel, der sein ganzes Leben in der Fabrik malocht hat, genauso wie ein Arbeiter in Stuttgart, nur mit weniger Lohn als ein Arbeiter in Stuttgart, mein Onkel hat nicht, wie einige Leute bei der EZB denken, über seine Verhältnisse gelebt. Er hat nie eine Boutique betreten, nie einen Mercedes gekauft, sein Haus hat er nach seinen Möglichkeiten gebaut. Mein Vater, der sein ganzes Leben lang italienischer Staatsangestellter war, ohne je eine Krankheit vorzuschützen, ohne je einen Tag blauzumachen, mein Vater ist kein reicher italienischer Prasser, der die Ersparnisse der Holländer aufgezehrt hat, Italiens Bevölkerung ist kein Volk von Nichtstuern, das italienische Volk gibt es nicht: Es gibt Italiener, die arbeiten und Steuern zahlen, und hartgesottene Steuerhinterzieher, Italiener, die ihre Schulden zurückzahlen, und ausgekochte Betrüger, nicht anders als in Deutschland, in Portugal und in London. Es gibt kein tüchtiges deutsches Volk, das sich gegen ein griechisches Volk wehren muss, welches wiederum für seine Fehler und Mogeleien bezahlen muss, genauso wenig, wie es je ein Volk gegeben hat, das als Ganzes für die Kriegsverbrechen seiner Regierenden einzustehen hätte: Jeder hat seine eigenen, persönlichen Fehler und nur für die muss er bezahlen.

Und wenn man ein großes, freundliches, friedliches Vaterland bauen will, ein besseres als die Länder, an deren Stelle es treten könnte, wenn man so etwas wie ein europäisches Vaterland bauen will, dann müsste man vor allem eins tun: die Kriegsphrasen, ihre Rhetorik - das Gerede von Griechen gegen Deutsche, Den-Gürtel-enger-Schnallen, verstärkten Sparanstrengungen, Revanche -, müsste all diese Kampfblattphrasen ad acta legen. Andernfalls, wenn es Europa nicht geben wird, kehre ich eben in die Camps in meinem Reservat zurück. Irgendwie werde ich mich mit meinem kleinen Volk auf der großen Insel schon durchschlagen. Wenigstens werden wir im Sommer ans Meer gehen und in Richtung Afrika schauen. Wie wir es im Grunde immer gemacht haben.

Uta, 1. August 2012

Übersetzt aus dem Italienischen von Martina Kempter


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Flavio Sorigas Text erschien in der Reihe "Europe now: Ein literarischer Rettungsschirm für Europa", die das Internationale Literaturfestival Berlin organisiert hatte. Wir bringen in Kooperation mit dem Festival 19 Texte von 19 Autoren, jeden Tag einen.