Literarischer Rettungsschirm für Europa

Aufsätze für Brüssel

Von Beqë Cufaj
17.09.2012. Inspiriert vom Aufsatz eines 18-jährigen Kosovaren denkt Beqë Cufaj über die Rolle des Balkan in Europa nach.
Kreshnik ist ein Achtzehnjähriger und lebt in Prishtina, der Hauptstadt des Kosovo. Ich kenne ihn nicht persönlich, erhalte aber hin und wieder Post von ihm. Als treuer Leser der kosovarischen Tageszeitung, für die ich eine wöchentliche Kolumne verfasse, hat er sich angewöhnt, mir seine Meinung zu meinen Texten zu sagen.

Vor einigen Monaten, genauer gesagt im Mai, habe ich von Kreshnik einen elektronischen Brief bekommen, in dem es nicht um Zeitungsthemen ging. Vielmehr bat er mich um meinen Kommentar zu einem eigenen Text, den er beigelegt hatte. Es handelte sich um einen Aufsatz: seinen Beitrag zu einem Wettbewerb, der vom kosovarischen Bildungsministerium für Schüler in den Abschlussklassen der kosovarischen Oberschulen ausgeschrieben worden ist.

Das Aufsatzthema lautet: "Der Balkan in der Europäischen Union". Den fünf Siegern des Wettbewerbs winkt als Preis eine einwöchige Reise nach Brüssel. Die Gastgeber aus der europäischen Hauptstadt sorgen für das Visum, die Unterbringung und Verpflegung der Preisträger und geben ihnen die Möglichkeit zu Besuchen in wichtigen europäischen Einrichtungen.

Kreshniks Aufsatz hat mich beeindruckt. Nicht nur, weil der Verfasser sich erstaunlich gut informiert zeigt, sondern auch, weil er klare Vorstellungen entwickelt, was den Zeitpunkt und die Bedingungen einer Integration des Kosovo in die Europäische Union anbelangt. Kreshnik meint, dass die Völker und Länder der Region zunächst ihre regionale Zusammenarbeit verstärken und Brücken untereinander schlagen müssen, wenn sie die Forderungen, die Brüssel stellt, erfüllen wollen. Und er scheut sich auch nicht, ein Problem anzusprechen, das man auf dem Balkan gerne von sich herschiebt: die allumfassende Herrschaft von Korruption und organisierter Kriminalität.

Ich las den Aufsatz ein zweites Mal und fand meinen ersten Eindruck bestätigt: dass nämlich dieser Achtzehnjährige offenbar eine weit klarere Vorstellung von den Erfordernissen der europäischen Integration hat als die erdrückende Mehrheit derer, die sich als politische Klasse des Kosovo verstehen. Bleibt die Frage, wie viele Altersgenossen Kreshniks es geben mag, die ähnlich gut wie er über die EU informiert sind und die Notwendigkeit von Integrationsschritten in der Region als Vorbedingung für die Annäherung an Europa so klar sehen wie er.

Darauf ging ich in meiner Antwort an Kreshnik aber nicht ein. Ich beschränkte mich darauf, ihm zu seinem Aufsatz zu gratulieren und ihm viel Glück für den Wettbewerb zu wünschen.

Er bedankte sich für das Lob, war aber nicht sehr optimistisch, was eine Auszeichnung anbetraf: "die dort oben", also die Bürokraten im Kulturministerium und in der Auswahlkommission, würden schon dafür sorgen, dass die Preise an Bekannte gingen.

Ich zog es vor, keinen weiteren Kommentar dazu abzugeben.

Was hätte ich ihm auch sagen sollen? Dass es nun einmal nicht einfach ist, wenn man in der ärmsten und korruptesten Region Europas lebt? Dass seine Generationsgenossen aus Polen, Tschechien, Ungarn oder der Slowakei, aber auch Rumänien und Bulgarien - also fast Balkan - in einem Europa leben, in das er, den Sieg im Aufsatzwettbewerb vorausgesetzt, für eine Woche hineinschnuppern dürfte?

Kreshniks Geschichte erinnert mich an meine eigene. Ich war ungefähr in seinem Alter, als die Bürger Ex-Jugoslawiens Anfang der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts neue Urlaubsländer für sich zu entdecken begannen. Titos Staat war sozusagen das Paradies unter den sozialistischen Ländern. Der Alte, wie ihn ein paar unverbesserliche Nostalgiker noch immer zu nennen pflegen, hatte feste Beziehungen zum Westen hergestellt, was den Bürgern seines Staates unter anderem auch Visumsfreiheit bei Reisen in westliche Staaten einbrachte. Zugleich wurden aber auch die nach dem Bruch mit der Sowjetunion eingeschlafenen Kontakte zu einigen Ostblockländern wiederbelebt: der (damaligen) Tschechoslowakei, Polen und Ungarn.

Ich werde nie vergessen, wie ein paar meiner Lehrer nach der Rückkehr von einem Besuch in Polen von diesem "billigen" (nicht "armen") Land schwärmten, denn sie hatten dort gewissermaßen als reiche Touristen auftreten und in den Geschäften Dinge einkaufen können, die für ihre einheimischen Kollegen absolut unerschwinglich waren.

Zwanzig Jahre später haben sich die Verhältnisse umgekehrt. Polen wurde untrennbarer Bestandteil Europas, während es den Menschen in den Staaten, die aus dem ehemaligen Jugoslawien hervorgegangen sind, in der Regel schlechter geht als den Polen damals in den achtziger Jahren.

Die Aufhebung der Autonomie des Kosovo im Jahr 1989 verbot nicht nur das eigenständige politische Leben wie nirgendwo sonst in Europa, sondern bezeichnete auch den Beginn des blutigsten Krieges in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Und während die militärisch-polizeiliche Maschinerie von Slobodan Miloševi? die Kosovaren unter Kontrolle brachte, liefen die Provokationen weiter und lösten anschließend Kriege in allen Gebieten des ehemaligen Jugoslawien aus. Im Jahr 1991 schickte er die Armee für einige Stunden gegen die Slowenen, die er dann aber "ziehen ließ". Es folgte ein blutiger Krieg in Kroatien, wo Orte wie Vukovar und Knin in der Krajina zum Synonym für Massentötungen, systematische Vertreibung und unüberschaubare Flüchtlingskolonnen werden sollten. Dann beschloss er, in Bosnien-Herzegowina weiterzumachen, wo das junge Europa von 1992 bis 1995 seinen bis dahin grausamsten Krieg nach dem Ende des Kalten Krieges erleben sollte. Dort wurde die Hauptstadt Sarajevo zum Synonym für die längste Umzingelung und Belagerung einer Stadt seit Jahrzehnten. Und die Stadt Srebrenica im Osten der einstigen jugoslawischen Teilrepublik wurde zum Synonym für das schlimmste Massaker in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges: Binnen 48 Stunden nach dem Fall der einstigen muslimischen Enklave im Juli 1995 ließen dort Radovan Karadži?, der politische Kommissar von Miloševi?, und General Mladi?, der militärische Vollstrecker, auf Befehl Belgrads 8000 unschuldige Männer und Jungen massakrieren.

Während all dieser blutigen Jahre, während welcher Miloševi? in Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina kämpfen ließ und sich erst im allerletzten Augenblick dem militärischen Gegendruck beugte, blieb das Kosovo unter der Knute Belgrads.

Die Verluste in Kroatien und Bosnien-Herzegowina, wo die Nato nach Srebrenica doch mit ihren Bomben eingegriffen hatte, hatten Miloševi? stark geschwächt. Zumal die Wirtschaft Serbiens so schwer getroffen war, dass er einen neuen Krieg brauchte. Im Kosovo dagegen sah die albanische Jugend ihre Hoffnungen auf Ibrahim Rugova und den Westen enttäuscht.

Die Situation im Kosovo Anfang 1997 war identisch mit jener in Bosnien-Herzegowina Anfang 1992, nur hatte es Miloševi? in diesem Fall noch eiliger, die Sache rasch fertig zu bringen, solange die kosovo-albanische UÇK den serbischen Soldaten und Paramilitärs nicht standhalten konnte. Der Kosovo-Krieg begann schon im Frühling 1997, eskalierte 1998 und endete in der Nacht zum 10. Juni 1999, als in Kumanovo in Mazedonien die Serben ihre Kapitulation nach dem monatelangen Nato-Bombardement unterschrieben.

Dann kam die Nachkriegszeit.

Das Miloševi?-Regime in Belgrad wurde gebrochen. Im Kosovo war und ist die massive Präsenz der internationalen Zivilmissionen der UN, der EU, der OSZE sowie die Militärmission der Nato dazu da, den Behörden und Institutionen dieser jungen und zerbrechlichen Republik beim Wiederaufbau zu helfen und sie zugleich zu überwachen.

Auch zwölf Jahre nach dem Krieg sind die Probleme mannigfaltig - von der beängstigenden Armut über die Korruption bis zum immens schwierigen Wiederaufbau der Kommunikationsbrücken zwischen der albanischen Mehrheit und der serbischen Minderheit, die weiter in der serbischen Hauptstadt Belgrad die Rettung und in der kosovarischen Hauptstadt Prishtina die Bedrohung ihrer Existenz sieht.

Wir alle südlich von Kroatien, ob es nun in Serbien, Montenegro, Mazedonien oder Kosovo ist, haben schwer nicht nur an der Ausgrenzung aus Europa zu tragen, sondern auch an der regionalen Zerrissenheit. Am bittersten ist, dass für die untereinander zerstrittenen, unfähigen politischen Eliten in den betreffenden Ländern der Anschluss an Europa nicht mehr als ein Objekt der Spekulation ist, während es die Mafia-Organisationen dort längst gelernt haben, sich im Interesse ihres eigenen Wohlergehens über nationalistische Beschränkungen hinwegzusetzen. In ihrem Business, dem Menschen-, Zigaretten- und Rauschgiftschmuggel, funktioniert die grenzüberschreitende Zusammenarbeit.

Wir auf dem Balkan sind noch weit entfernt von einer wirklichen Annäherung an Europa. Vermutlich werden wir noch Jahrzehnte brauchen. Nicht nur die wirtschaftlichen Vorteile, die diese Region hatte, sind in den zehn Jahre mörderischer Kriege zerstört worden, sondern auch die Hoffnung, dass sich in den postkommunistischen, postnationalistischen Gesellschaften rasch eine starke und wirksame proeuropäische Bewegung entwickeln könnte.

Trägt Europa eine Mitschuld an der Situation, unter der wir immer noch zu leiden haben? Ja und nein. Ja, weil es absurd ist, dass sich die Diplomaten Europas gewissermaßen um den Balkan herumbewegen, wenn sie in die Türkei reisen, um Bedingungen für eine Mitgliedschaft in der EU auszuhandeln. Nein, weil den Völkern auf dem Balkan, besonders aber ihren politischen und intellektuellen Eliten niemand die Entscheidung für eine Zukunft in Europa abnehmen kann.

Der Aufsatzwettbewerb, an dem Kreshnik aus Prishtina, Hauptstadt des Kosovo, teilnimmt, in allen Ehren, aber eigentlich müssten aus Brüssel mehr und effektivere Initiativen kommen, was die Heranführung des Balkans an Europa betrifft. Vielleicht ist man in der europäischen Hauptstadt aber auch der Meinung, dass erst auf Kreshnik und seine Generation gesetzt werden kann?


-------------

Beqë Cufajs Text erschien in der Reihe "Europe now: Ein literarischer Rettungsschirm für Europa", die das Internationale Literaturfestival Berlin organisiert hatte. Wir bringen in Kooperation mit dem Festival 19 Texte von 19 Autoren, jeden Tag einen.