Literarischer Rettungsschirm für Europa

Europa - Immer das Bessere als wir

Eine Reflexion. Von Lindita Arapi
16.09.2012. Auch heute ist beim Internationalen Literaturfestival in Berlin noch "Europe now" angesagt: Europäische Autoren spannen einen literarischen Rettungsschirm auf. Wir bringen in Kooperation mit dem Festival 19 Texte von 19 Autoren, jeden Tag einen. Heute träumt die albanisch-deutsche Autorin Lindita Arapi vom Ideal des Europäers.
Juni 2012

Es gab eine Zeit, in der Europa wie ein weit entfernter Planet war, vom Schleier des Unerreichbaren umhüllt, bekannt einfach als eine geografische Angabe auf der Weltkarte. Es war der andere, mit Menschen bevölkerte Planet, die womöglich wie wir aussahen, sicherlich aber schönere Gestalten, klügere, vollkommener nach Parfüm riechende Kreaturen und ohne Zweifel bessere Menschen. Das Wir lebte in einem Open-Air-Gefängnis mit einer Fläche vom 28.748 Quadratmetern. Die Mauer rundum hoch, den Rest der Welt sahen wir nur als Himmel. Wir starrten keine Löcher, wir malten in den Himmel unseren Traum von Europa. Harmlos, wie ein menschlicher Traum im Grunde ist, würdig, solange er keine Träumerei wurde.

Das Wir waren die Albaner, die mit dem Rest des Kontinents etwas gemeinsam hatten, die Vorstellung des anderen Planeten voneinander. Nachdem die Mauern um uns gefallen waren, wurde dieser Traum in einem Satz laut ausgerufen: "Wir wollen Albanien wie Europa."

Wie ein Europäer aussah, konnten wir nicht wissen. Auch heute noch weiß man nicht, wie er aussieht. Wir erträumten ihn nur, tun es heute noch, das Ideal des Europäers und des Europa, das immer noch nicht eine Realität ist: Ein freier Mensch, der nicht nur frei reist, sondern von den Schranken der Unmündigkeit befreit ist, selbstverständlich ein Demokrat, zivilisiert, willensfrei und urteilsfähig. Ein kritisch hinterfragender Bürger. Er ist ein Optimist, weil sein Europa ihm Chancengleichheit sichert. Der erträumte Europäer ist tolerant - und das ist nicht eine Überlegenheitsgeste gegenüber Flüchtlingen und Schwächeren, sondern seine Überzeugung. Weil er selbst viele Möglichkeiten hat, schließt er sie nicht für andere aus. Der Europäer ist nicht ausländerfeindlich, weil seine Wurzeln vielfältig und breit sind. Er ist Christ, aber warum soll er auch nicht Muslim sein? Ihm schmeckt das Leben wie einem Franzosen und er kann ernsthaft wie ein Deutscher arbeiten, aber warum soll er nicht wie ein Italiener fühlen und wie ein Grieche feiern? Er kann viele Sprachen sprechen, dennoch haben sie alle einen Klang, europäisch. Er kann in Amsterdam, Stockholm, Lissabon, München, Warschau und überall leben, weil seine Heimat Europa ist und nicht die Europäische Union. Wenn es in seinem Europa turbulent zugeht, dann geht es ihm nicht gut. So viel zum Traum!

Als der Moment kam und der Planet Europa erreichbar wurde, wollten wir, die Albaner, es sehen, seine mächtigen Länder, die über unser Schicksal entschieden haben, besuchen. Wir wollten seine berühmten Städte berühren, seine Menschen kennenlernen, egal wie, ohne zu merken, dass man nicht sehr willkommen war. Der Drang war so stark, dass manche Schiffe Richtung Europa enterten, manche überquerten das Meer mit Booten, andere durch falsche Pässe und wiederum andere bezahlten den Traum mit ihrem Leben. Nur wenige waren die Glücklichen, die ganz normal an den Toren Europas klopften, von einem Polizisten gemustert wurden, bevor man mit einem Nicken die Tore öffnete. Danach wurden die Tore wieder geschlossen. Europa war und blieb ein Traum für zwanzig Jahre.

Die europäische Luft wollten wir einatmen, als wäre sie die bessere Luft, die die Gesichter verändern und uns zu anderen Menschen machen konnte, mit mehr Wohlwollen von Europa akzeptiert zu werden. Ein Albaner mit europäischem Gesicht hieß, eine Stufe höher auf dem Weg der Zivilisierung zu kommen, verglichen mit einem, dessen Gesicht Furchen der fast fünfzig Jahre Armut und Minderwertigkeit trug. Ja, wir wollten angenommen werden. Wir wollten dazugehören und nicht mehr die Aussätzigen am letzten Winkel sein.

Europa war und ist eine nationale Sehnsucht! Geografisch lagen wir unmissverständlich im gelobten Land, umgeben waren wir auch von europäischen Nachbarn, dennoch fragten und fragen wir uns selbst ständig wie kein anderes Nachbarvolk: Sind wir Europäer oder Halbeuropäer und Halborientalen? Sind wir vielleicht Orientalen? Sind wir genug europäisch? Sollten wir uns noch mehr europäische Eigenschaften aneignen?

Die Unsicherheit resultiert in zwei Arten von Antworten: Die eine ist eine mythische, gern übersteigert, um das Selbstwertgefühl zu stärken. Diese Antwort erlaubt nicht gern kritische Hinterfragungen nach dem albanischen Selbstverständnis, weil die Fragen sich gar nicht stellen. Weil wir ja Europa waren, als es Europa noch nicht gab. Wir sind ein altes, zivilisiertes Volk, Pelasger, Illyrer, wir verkehrten mit den Römern und haben Europa im Mittelalter den christlichen Kämpfer Skanderbeg gegeben, der die osmanische Invasion Richtung Europa aufgehalten hat. Somit sind wir Märtyrer Europas. Zwar haben wir muslimisches Erbe in unserer Kultur, unsere Identität ist dennoch europäisch geprägt. Das Erbe der Diktatur schütteln wir schnell ab von uns, damit wir ungehindert zu reinen Demokraten wachsen. Europa hat sogar eine Mitschuld an unserem Zustand. Es hat uns 500 Jahre lang vergessen, dazu rechnet man die fünfzig Jahre kommunistische Herrschaft. Nun hat es das Tor für drei Monate ohne Visum geöffnet, danach müssen wir wieder draußen warten. Wie lange dauert es noch, bis Europa uns, die ältesten europäisch Verwurzelten, annimmt?

Die andere Begegnung mit dem Europäischen wird nicht so oft gehört, und mehr als eine Antwort sind es kritische Fragen, oft als eine Haltung derer kritisiert, die das Land schlechtmachen wollen: Wir sind zwar ein altes, zivilisiertes Volk, aber was hat das bei den heutigen EU-Integrationsanforderungen zu sagen? Wir sind zwar in Europa, haben aber die europäischen Entwicklungen der drei letzten Jahrhunderte nicht mitverfolgen können. Die Aufklärung konnte in unserer Kultur nicht wirken. All das, was im fernen Europa geschah, war nur bruchstückhaft angekommen. Wir waren lange von Europa getrennt durch die Zugehörigkeit zum Osmanischen Reich und haben uns viel mehr die Bakschischkultur angewöhnt, als uns lieb ist.

Wir haben uns noch einmal, wegen der kommunistischen Diktatur, von Europa getrennt und haben viel zu lange geübt, den Andersdenkenden zu beseitigen. Wir kannten die Diktatur des Proletariats und die Demokratie existierte nur als Wort im Wörterbuch, deshalb haben wir es nicht leicht, den Dialog zu finden und den politischen Gegner zu respektieren. Wir haben zwar die Diktatur hinter uns gelassen, aber sie nicht aufgearbeitet. Schließlich müssen wir das Lehrbuch "Europa für Albaner" weiter studieren und dann die Prüfungen bestehen. So lange dauert es noch, bis Europa uns annimmt.