Efeu - Die Kulturrundschau

Das Wunder von Bamako

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10.01.2024. Die taz feiert C. J. Obasis nigerianischen schwarz-weiß-Thriller "Mami Wata" und hört sich begeistert durch die zehn Alben von John Zorns "Masada". Die Welt besucht ein Theaterfestival in Mali, wo Staatsstreiche zu 50 Franc verhökert werden. Die griechischen Götter sind schön, aber sind sie auch tugendhaft? Das fragt man sich in Indien, lernt die FAZ in einer Ausstellung in Mumbai. Die SZ blättert durch neue Kinderbücher, die ihr zeigen, wie man gegen den Klimawandel protestiert.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.01.2024 finden Sie hier

Film

Das Schwarzweiß ist zutiefst politisch: "Mami Wata" von C.J. Obasi

C. J. Obasis nigerianischer Thriller "Mami Wata" gehört für tazler Fabian Tietke zu den "visuell beeindruckendsten Filmen des letzten Jahres". Das hochkontrastive Schwarzweiß des Films ist dabei kein bloßer Selbstzweck, sondern "hat gleich mehrere Funktionen: Erstens entrückt es die Handlung in eine mystische Sphäre und unterstreicht den allegorischen Charakter des Films. Zweitens greift der Film in seiner Bildsprache auch filmische Traditionen von den Anfängen des afrikanischen Kinos nach der Unabhängigkeit auf, zugleich verweist Obasi aber in einem Interview mit dem Branchenblatt Screen Daily auf Bildtraditionen des Weltkinos wie die Filme von Akira Kurosawa. Drittens ist die Wahl des Schwarz-Weiß auch ein Ausweichmanöver: Denn bis heute basieren gängige Farbverfahren im Film auf Standardisierungen aus der Zeit des Analogfilms, die in erster Linie mit Blick darauf entwickelt wurden, weiße Körper leinwandwirksam abzubilden. Das Schwarz-Weiß der Bilder, die Obasi und Soares für ihren Film entwickelt haben, ist also zutiefst politisch."

"Als Massenmedium und kollektive Kunstform des 20. Jahrhunderts ist das Kino vielleicht gestorben", sagt der Filmemacher Nicolas Windig Refn, der in letzter Zeit vor allem Serien und zuletzt einen viertelstündigen Kunstfilm für Prada gedreht hat, im SZ-Gespräch. Aber in "neuen Formaten" sei es doch "wiederauferstanden", gibt er selig zu Protokoll: "Das Kino ist heute sehr lebendig, in einem radioaktiven Sinne. Es ist überall um uns herum und in uns, in unseren Genen, unserem Blut. ... Am Ende des Tages verkörpert Kino etwas, was nie verschwinden wird: das Vergnügen an einer gemeinsamen Erfahrung." Nur "Content ist unser Untergang in einer untergehenden Welt. Dabei können gerade Filme die Grenzen der Netzhaut überwinden, in den Geist eindringen! Aber dazu müssen sie erst einmal verletzen, Spuren hinterlassen, Stillstand und Schweigen können uns verletzen. Wenn wir uns hier zwanzig Minuten anschweigen würden, wäre das hochinteressant."

Außerdem: Die Signa-Pleite hat auch Folgen für den Hedy-Lamarr-Nachlass, berichtet Olga Kronsteiner im Standard. Jan Küveler resümiert für die Welt die Golden-Globes-Verleihung. Besprochen werden Garth Davis' "Enemy" mit Saoirse Ronan (Standard), Chris Kraus' "15 Jahre" mit Hannah Herzsprung (FD), die ARD-Doku "Beckenbauer" (ZeitOnline) und die Marvel-Serie "Echo" (FAZ).
Archiv: Film

Kunst

Ausstellungsansicht


In Mumbai stellt das ambitionierte Museumsprojekt Chhatrapati Shivaji Maharaj Vastu Sangrahalaya (CSMVS) antike Kunst aus Indien und Europa gemeinsam aus. Die unter anderem vom Getty Museum und den Staatlichen Museen Berlins organisierte Schau zeigt, wie Gina Thomas in der FAZ ausführt, unter anderem Arbeiten, die dem Artemis-Tempel in Ephesos entstammen, gemeinsam mit hinduistischen Götterfiguren. Auch die Präsentation wurde von indischen und westlichen Kuratoren gemeinsam erarbeitet. Dabei stoßen sie unter anderem auf konfligierende kulturelle Prägungen, zum Beispiel in Bezug auf Sexualität: "Eine Kultur, die Nacktheit in ihren geschmückten Götterstatuen symbolisch auffasst, tut sich auch mit der expliziten Sexualität der idealschönen griechisch-römischen Plastik schwer, wie sie der Dionysos aus dem Britischen Museum mit dem sein Geschlecht anzüglich streifenden Gewand, die Venus pudica und der muskelprotzende Torso des Apollon aus Berlin in Mumbai vertreten. Auf dem Friesfragment aus Halikarnassos ringen nackte Krieger mit bekleideten Amazonen. Dem indischen Publikum beizubringen, dass körperliche Ertüchtigung bei den zum Kampf ausgebildeten Männern mit moralischer Tugend einherging, sehen die Kuratorinnen als die wohl größte Herausforderung an."
Ilakaka Gem Fields, Madagascar. Foto: Toby Smith

Zwischen Dokumentation und Kunst angesiedelt ist die Ausstellung "Man & Mining" im Hamburger Museum der Arbeit, die Petra Schellen für die taz bespricht. Die Schau "will Asymmetrien im weltweiten Rohstoffabbau aufzeigen und dessen Auswirkungen auf Land und Menschen des globalen Südens mit dem Konsumverhalten im globalen Nordens kontrastieren" und präsentiert eine Reihe beeindruckender Arbeiten. Irritiert ist die Rezensentin allerdings durch die lückenhafte Kontextualisierung einiger Werke. Zum Beispiel betrifft das die Arbeit eines chinesischen Fotografen, der die Umweltschäden im Zuge des Kohleabbaus in den Hulunbuir/Baorixile im Bild festhält: "Was man nicht erfährt: Lu Guang, wegen des Anprangerns gesundheitlicher und ökologischer Folgen der chinesischen Industrialisierung im Visier des Regimes, wurde 2018 in Xinjiang verhaftet. Nach internationalen Protesten soll er seit 2019 wieder zu Hause sein, wohl unter Arrest: Verlässliche Nachrichten gibt es nicht."

Weitere Artikel: Pauline Herrmann unterhält sich für Monopol mit den Londoner Galeristen Angelina Volk und Leopold Thun. Im Guardian stellt Veronica Esposito kommende Höhepunkte des Ausstellungsjahrs 2024 in den USA vor.

Besprochen werden die Ausstellung "Rose, Rose, Rose à mes yeux! James Ensor und das Stillleben in Belgien" im Mu.Zee Ostende (FAZ), Stefan Marx' Schau "16 Hintergleisflächen", die (gratis) im U-Bahnhof Hansaplatz zu sehen ist (Tagesspiegel), die (ebenfalls kostenlose) Pop-Up-Ausstellung "Romanisches Café" im Europa Center (Tagesspiegel), "Die Basler Künstlergruppe Kreis 48" und insbesondere Max Kämpfs Bild "Die Hölle" im Kunstmuseum Basel (NZZ) und Kiki Smiths Ausstellung "From My Heart" in der Münchner Pinakothek der Moderne (Tagesspiegel).
Archiv: Kunst

Architektur

Denkmal, entworfen von Manthey Kula Architects und Bas Smets. Foto: Lise Reng


Wenig zufrieden ist man in Norwegen mit einem Denkmal, das an den Massenmord des Rechtsextremisten Anders Breivik auf der Insel Utøya im Jahr 2011 erinnert, berichtet Ulf Meyer in der FAZ. Nach langen Diskussionen wurde ein Entwurf des Architekturbüros Manthey Kula realisiert. "Herausgekommen ist jedoch ein allzu properes Denkmal. Um es erreichbar zu machen, musste eine lange serpentinenförmige Straße hinab zum Ufer gebaut werden. Der große Busparkplatz vor dem Denkmal, an dessen Entwurf auch Landschaftsarchitekt Bas Smets aus Brüssel beteiligt war, erdrückt selbst im leeren Zustand den Gedenkort. Die Architekten haben eine Art Anleger in den See gebaut, um an den Einsatz jener Bootsbesitzer auf dem Tyrifjorden zu erinnern, die mit ihren Booten Überlebende des Massakers gerettet haben. Vom Anleger ausgehend schlängelt sich eine Treppe aus Granit in drei Kurven am Seeufer entlang. An ihrem Fuß sind 77 Bronzestelen angeordnet; die jeweils drei Meter hohen und an ihren Spitzen durch ein Band miteinander verbundenen Stelen tragen - in alphabetischer Reihenfolge - Angaben zum Namen der Opfer und zu ihrem Alter."

Kein gutes Haar lässt Gerhard Matzig in der SZ an einem Hochhausprojekt in Dubai im Auftrag von Mercedes Benz, das 2026 fertiggestellt werden soll, stolze 341 Meter hoch und mit Luxuswohnungen bestückt ist: "Das Haus von Mercedes-Benz, das mit Blick auf das höchste Bauwerk der Welt errichtet wird, auf den Burj Khalifa, sieht aus, als habe man den sogenannten Diamantgrill einfach in die Vertikale gewuchtet. Das ist ein Kühlergrill, funktional wie ein Schnuller in der oralen Phase juveniler Käuferschichten, der an das Gefunkel von Diamanten erinnert. Insgesamt sieht das Luxuswohnen, wie man es sich in Untertürkheim vorstellt, aus wie eine große Seife, in die ein gelangweilter, aber kunstsinniger Fußballspieler von Paris Saint-Germain ein paar Edelsteine gedrückt hat."
Archiv: Architektur

Literatur

Kathleen Hildebrand ist sich in der SZ uneins, wenn sie sich die Neuerscheinungen im Kinderbuch-Segment ansieht: Früher gab es dort vielleicht Anleitungen zum Müll-Wegschaffen und Recyceln, heute müssen die Kleinen gleich die ganze Klima-Apokalypse abwenden. "Diese neuen Bücher fordern, wenn nicht zur Delinquenz, so doch zum zivilen Ungehorsam auf. Zum friedlichen, aber deutlich spürbaren Aufbegehren. Und sie erklären, sehr professionell, wie das geht: Protest: Doch die Frage bleibt: Ist das nun gut? Von den Kindern zu fordern, was mehrere Elterngenerationen vor ihnen verbockt haben? Die Verantwortung für die Zukunft den schmalsten, an der ganzen Misere unschuldigen Schultern aufzubürden?" Allerdings mache diese "Flut" an Büchern auch "Hoffnung. Denn was dahintersteckt (...) ist letztlich eine Erziehung zur demokratischen Teilhabe in besonderen Zeiten."

Außerdem: Der Lyriker Albert Ostermaier verabschiedet sich in der SZ von Franz Beckenbauer: Sein Spiel "war wie eine Katharsis, alles fiel ab, wenn man ihm zusah. ... Da war atemberaubende Schönheit."

Besprochen werden unter anderem Zeruya Shalevs "Nicht ich" (Welt), Gunnar Deckers Rilke-Biografie (online nachgereicht von der Welt), eine Arte-Doku über Vladimir Nabokovs "Lolita" (Tsp), Gerhard Riecks "Kafka ist nicht rätselhaft" (Standard), César Airas "Weltflucht und andere Essays" (Tsp), Torben Kuhlmanns Kinderbuch "Die graue Stadt" (FR), weitere neue Kinder- und Jugendbücher (Zeit) und eine Neuauflage von Ernst Tollers "Eine Jugend in Deutschland" (SZ).
Archiv: Literatur
Stichwörter: Kinderbücher, Shalev, Zeruya

Bühne

Aufführung des "Projet ados" beim Theaterfestival "Les Practicables" in Mali


Jonathan Fischer besucht für Die Welt das Theaterfestival "Les Practicables" in Mali und ist begeistert, wie es den Organisatoren gelang, in dem krisengeplagten Land eine regelrecht utopische Kunstveranstaltung auf die Beine zu stellen: "Es ist das Wunder von Bamako: Wie dieses Festival mit geringsten Mitteln und unter schwierigsten Bedingungen eine maximale künstlerische Sprengkraft entwickelt. 'Wer will einen Staatsstreich kaufen, heute nur 50 Francs!' Im Publikum platzierte Schauspieler wandern mit verschwörerischen Mienen durch die Ränge. 'Alles ist verkäuflich, alles ist verhandelbar, Visa, Gold, das Leben von 500 Millionen Afrikanern', ruft einer. '30 Francs für einen Terror-Anschlag, 100 Francs für ein bisschen Kolonialismus' raunt ein anderer dem weißen Besucher zu: 'Welchen hätten Sie denn gerne: den französischen, den amerikanischen oder den russischen?' Als der Generator auf einen Schlag ausfällt, verlagern sich die Scherze ins Publikum: 'Was für ein Mist! Die Kolonialisten haben uns den Strom abgestellt.' Gelächter im Dunkeln."

Weitere Artikel: Michael Wolf wagt für die nachtkritik eine humoristische Vorschau aufs Theaterjahr 2024.
Archiv: Bühne

Musik

Die Agenturen melden, dass unter anderem der Sänger Mehdi Jarrahi in Iran zu fast drei Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Auslöser war dieser Song, in dem er sich im letzten August gegen die Kopftuchpflicht aussprach und den er den Frauen der iranischen Protestbewegung gewidmet hat:



Hin und weg ist tazler Benjamin Moldenhauer von einem Boxset, das die zehn Alben von John Zorns Projekt Masada aus den Neunzigerjahren sammelt: Die Musiker "verbinden Melodien, die entlang der Ahava-Rabboh-Skala geschrieben sind. Ein Modus, der struktur- und melodiebildend für einen großen Teil der jüdischen Musiktradition ist, von liturgischen Gesängen bis Klezmer, mit einem am Ornette Coleman Quartet geschulten intuitiven Zusammenspiel." Die Musik zählt "zum Lebendigsten, was im US-amerikanischen Jazz kurz vor der Jahrtausendwende zu hören war. Ihre Vitalität und eine schlichte Schönheit sind das nach wie vor Durchschlagende an Zorns Musik, noch vor aller diskursiver Aufladung." Anders als bei Zorns oft sehr düsteren Avantgarde-Exzessen geht es "bei der vom Bandnamen, aber auch durch die Coverart und die über die Zitate hergestellten Bezüge als dezidiert jüdisch codierten Musik von Masada" darum, "'zu feiern, was wir haben', also die eigene Tradition. Eine Programmatik nicht ohne Sarkasmus: 'We do the best we can under the given circumstances.'" Wir hören rein:



Pop wird im Vergleich zu früheren Jahrzehnten nun auch empirisch nachgewiesen immer trauriger, schreibt NZZ-Kritiker Jean-Martin Büttner. "Neu ist das Traurigsein im Akkord" zwar keineswegs, aber es wird zusehends dominant. Experten meinen: "Die Melancholie in der Musik vertont die Gefühle der sogenannten Generation Z." Dieser "kann kein Akkord zu verschattet, keine Klage zu groß klingen. Diese Grundmelancholie verbindet sich mit narzisstischen Anforderungen an die Umwelt und einem hohen moralischen Selbstverständnis. Traurige Pop-Musik ist dann ihr Gospel ohne Kirche. Das alles mag einem überempfindlich vorkommen, aber zum Traurigsein und Angstbekommen hat diese Generation offenbar allen Anlass. Im Vergleich zu den Sechzigern, die in den USA trotz Vietnamkrieg, politischen Morden und Rassengewalt ein Jahrzehnt der gesellschaftlichen Befreiung waren, lasten die Aussichtslosigkeit der Gegenwart und die Hoffnungslosigkeit der Zukunft schwer auf den Nachgeborenen."

Weitere Artikel: Wolfgang Sandner gratuliert in der FAZ dem Jazzmusiker Gianluigi Trovesi zum 80. Geburtstag. Besprochen wird Sofia Kourtesis' Album "Madres" (FR-Kritiker Stefan Michalzik bescheinigt mitunter "ausgelassene Lockerleichtigkeit").
Archiv: Musik