Efeu - Die Kulturrundschau

Königinnenschicksal

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.12.2023. Die Feuilletons berichten skeptisch über die von heftigen Kontroversen überschattete Tagung des PEN Berlin. Die vom Verband ausgelobte maximale Toleranz wurde nicht recht sichtbar: Wer im Vorfeld ausgetreten war, bekam hier noch einen Nachtritt, schreibt die NZZ. Die FR sieht Donizettis "Anna Bolena" an der Deutschen Oper Berlin stilsicher leiden. Die FAZ hätte gerne auch ein paar starke Männer im Stück gesehen. Fatal findet die Welt die Entscheidung des RIAS Kammerchors, Händels "Israel in Egypt" aus dem Neujahrsprogramm zu nehmen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.12.2023 finden Sie hier

Bühne

Szene aus "Anna Bolena" an der Deutschen Oper Berlin. Foto: Bettina Stöß. 

Stilsicher findet FR-Kritikerin Judith von Sternburg David Aldens Inszenierung der Donizetti-Oper "Anna Bolena" an der Deutschen Oper Berlin und dazu gehört nicht nur die "elegische schwarze Seide", in der die Königin stirbt: "Geschmackvolle Bilder müssen nicht verstaubt aussehen, Kühle und Intensität widersprechen sich nicht. Alden entscheidet sich für die Öffentlichkeit, in der sich monarchische Liebesgeschichten abspielen, und gegen Intimität und psychologische Tiefenbohrung, die ebenfalls im Angebot wären. Wenn Anna Bolena leidet, und sie leidet ohne Unterlass, so tut sie dies mit großen Gesten. Alden achtet aber darauf, dass es keine konventionellen Operngesten sind, und er parodiert nicht. Er zeigt Menschen, die sich ständig beobachtet wissen. Königinnenschicksal." In der FAZ hätte sich Gerard Felber auch ein paar starke Männer für diese Aufführung gewünscht: "Da gibt es zunächst eine auch für den Frauenstimmen-Anbeter Donizetti ungewöhnliche Verzwergung der Männerrollen, die durch David Aldens Regie (im Wesentlichen ein Remake seiner Züricher Inszenierung von 2021 mit der einfallsschlicht schattenspielenden, aber immerhin akustisch vorteilhaften Ausstattung Gideon Daveys) noch potenziert wird." Ulrich Amling hat im Tagesspiegel einiges an der Inszenierung auszusetzen.

Weitere Artikel: In der Welt stellt Manuel Brug Valery Barkhatovs Inszenierung von Puccinis "Turandot" an der Oper San Carlo in Neapel der von Claus Guth an der Wiener Staatsoper gegenüber. Im Grand-Théatre de Genève hat der Schauspieler Christoph Waltz seine Inszenierung von Strauss' "Rosenkavalier" wiederaufgenommen - NZZ-Kritikerin Eleonore Büning sieht eine "sanft nachpolierte" Fassung von Waltz' Regie-Debüt. Katrin Bettina Müller teilt in der taz Eindrücke vom Eröffnungsprogramm der Sophiensäle unter der neuen Leitung von Andrea Niederbuchner und Jens Hillje.

Elsa-Sophie Jachs Inszenierung von Wolfram Hölls Stück "Niederwald" am Schauspiel Leipzig (nachtkritik), Enis Macis und Mazlum Nergiz' Stück "Karl May" an der Volksbühne Berlin (nachtkritik, BlZ), Christian Breys Inszenierung von "Hannah und ihre Schwestern" eine Tschechov-Adaption nach Woody Allen von Jürgen Fischer am Staatstheater Mainz (nachtkritik, FR), Johan Simons Inszenierung von Georg Büchners "Dantons Tod" am Burgtheater Wien (nachtkritik, Standard), Claudia Bauers Inszenierung der "dadaistischen Sprechoper" "Ursonate (Wir spielen, bis uns der Tod abholt)" nach Kurt Schwitters Lautgedicht am DT Berlin (FAZ), Ulrich Mokruschs Inszenierung von Yael Ronens und Dimitrij Schaads Stück "(R)evolution" am Theater Osnabrück (taz), Ran Chai Bar-zvis Adaption von Kim de l'Horizons Roman "Blutbuch" am Staatstheater Hannover (SZ), Sebastian Ritschels Inszenierung von Joseph Beers Operette "Der Prinz von Schiras" am Theater Regensburg (SZ), Jan-Christoph Gockels Kombi-Inszenierung von Shakespeares "Der Sturm" und Werner Herzogs Roman "Das Dämmern der Welt" an den Münchner Kammerspielen (SZ, nachtkritik).
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Literatur

Die Feuilletons kennen heute nur ein Thema: die Tagung des PEN Berlin am vergangenen Wochenende. Dieser vorausgegangen war ein von diversen Austritten begleiteter Streit um die Haltung des noch jungen Verbands zu Israel im Zuge des Hamas-Terrors. "Der PEN Berlin lehnt den BDS ab", war denn auch das wiederholte Eingangsstatement von Sprecher Deniz Yücel,  Doch "klang dieses Statement in seiner Häufung - fünf Mal flocht Yücel es wie versprochen in seine Rede ein, also gewissermaßen als laufenden Scherz - weniger nach 'Wir stehen im Wort', so wie der PEN-Berlin-Slogan lautet, als nach schleichender Wortentleerung", beobachtet Gerrit Bartels im Tagesspiegel. Die bei der Veranstaltung ausgegebene Losung war denn auch maximale Toleranz, also "nicht jeden Autor oder jede Autorin, nicht jeden Künstler oder Künstlerin wegen der Unterzeichnung einer BDS-Petition an den Pranger zu stellen. Oder auch: Soli-Lesungen wie für Adania Shibli auch für Uwe Tellkamp zu organisieren, falls nötig, wie Yücel es zweimal sagte." Vorausgegangen war dem eine auch intern hitzig ausgefochetene Debatte darüber, ob man A.L. Kennedy absagen sollte: Die BDS-nahe Schriftstellerin war zur (in der Berliner Zeitung dokumentierten) Keynote eingeladen, hielt ihre Rede letzten Endes aber doch nur via Schalte, da ihr am Flughafen in London angeblich ihre Reisedokumente gestohlen worden seien.

Alles tolerant also? Julia Encke bleibt in der FAZ skeptisch: "Mit der großen Toleranz, die die Leitung propagiert, ist es offenbar schneller zu Ende, als sie es selbst wahrhaben will. So war der Schriftsteller Najem Wali ursprünglich für die Veranstaltung 'Nie wieder ist jetzt!', einer Lesung des PEN Berlin gegen Antisemitismus, am 11. November im Deutschen Theater eingeladen, wurde nach Informationen der F.A.S. aber wieder ausgeladen, angeblich weil er zum konkurrierenden PEN Zentrum Deutschland gehört." Überhaupt hat Encke "den Eindruck, dass der Klüngel in der Leitung des PEN Berlin nach kurzer Zeit schon weit fortgeschritten ist. Man scheint nach den letzten Austritten aus dem Board jetzt so ziemlich unter sich zu sein." Paul Jandl teilt in der NZZ ähnliche Eindrücke: "Am Samstag wurde den Ausgetretenen nach allen Regeln der Kunst nachgetreten. Die Eröffnungsrede des Co-Sprechers Deniz Yücel diente auch dazu, die Dissidenten kostengünstig zu verlachen. Es sollte klar sein, wer hier als Sieger vom Platz geht. Souverän geht anders. Wenn man so dünnhäutig auf Widerspruch reagiert wie der PEN Berlin in den letzten Wochen, klingt das Bekenntnis, man sei gegen jede Art von Cancel-Culture, seltsam."

Mitunter etwas einseitig findet auch Iris Radisch von Zeit Online manches Gebaren auf dem Podium: "Es gebe im PEN, sagte Deniz Yücel in seiner Eröffnungsrede mit einem Seitenblick auf den Austritt des Historikers Ernst Piper, der Eva Menasse und die Direktorin des Einstein Forums Susan Neiman stark kritisiert hatte, kein Recht auf 'Widerspruchsfreiheit'. Die Austritte (außer Ernst Piper sind Julia Franck, Ramona Ambs, Richard Chaim Schneider und Michael Wuliger ausgetreten) seien als symbolische 'Übersprungshandlungen' zu werten, weil man im politischen Feld derzeit nicht weiterkomme. Die Kritiker nannte er die 'Zuchtmeister jüdischer Kolleginnen'. Auch die Schriftstellerin Ursula Krechel fand es, offensichtlich auf Piper bezogen, 'unerträglich', dass 'Täterkinder' als 'Zuchtmeister' der PEN-Berlin-Sprecherin aufgetreten seien. Ernsthaft? Liebe unerschrockene Kämpfer und Kämpferinnen für die bedingungslose Meinungsfreiheit, muss man Kritiker der PEN-Berlin-Chefin als unerträgliche Nazi-Erben und 'Zuchtmeister' abkanzeln? Ist das 'Free PEN Berlin from german guilt' oder etwas in der Art?" Die Schriftstellerin Nele Pollatschek freut sich in der SZ hingegegen, wie Deniz Yücel als Gallionsfigur des PEN Berlin diesen selbst dann noch zusammenhalte, wenn große Kräfte daran zerren. Weitere Berichte in taz und Welt.

Weitere Artikel: In der NZZ schreibt Sergei Gerasimow weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Olja Alvir berichtet im Standard von einer Veranstaltung für den literaturkritischen Nachwuchs. Die Literarische Welt hat Richard Kämmerlings Bericht von seiner Begegnung mit dem Schriftsteller Hallgrimur Helgason online nachgereicht. Die Jury des Tagesspiegel verkündet - leider nur verpaywallt - die besten Comics des Jahres: Auf den ersten drei Plätzen sind Kate Beatons "Ducks", Anke Feuchtenbergers "Genossin Kuckuck" und Barbara Yelins "Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung".

Besprochen werden unter anderem Natascha Wodins Erzählband "Der Fluss und das Meer" (Standard), Priya Guns' "Dein Taxi ist da" (Standard), Mirko Bonnés Neuübersetzung von Oscar Wildes "Aus der Tiefe" (online nachgereicht von der FAZ), Barbi Markovićs "Minihorror" (Standard) und neue Hörbücher, darunter Matthias Matschkes Lesung "Weihnachten mit Ringelnatz" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Gert Loschütz über sein Gedicht "Drei Schritt hoch in der Luft":

"Drei Schritt hoch in der Luft bin ich zu Haus
wer da nicht ruhig liegt, soll mir gestohlen bleiben ..."
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Film

Heike Buchter wirft für die Zeit einen Blick auf die aktuelle Weihnachtsfilm-Produktion. Lara Ritter nutzt in der taz den Anlass von Brad Pitts (heute) und Til Schweigers (morgen) 60. Geburtstag, um auf den Wandel von männlichen Schönheitsidealen zu blicken.

Besprochen werden William Oldroyds gleichnamige Verfilmung von Ottessa Moshfeghs Roman "Eileen" (Jungle World), Tobi Baumanns Komödie "791 KM" mit Iris Berben (Welt), die Schweizer Serie "Davos 1917" (TA) und die Netflix-Serie "Sanctuary" (SZ).
Archiv: Film
Stichwörter: Netflix, Schönheitsideale

Kunst

Einen regelrechten Besucheransturm erlebt die Frankfurter Schirn-Kunsthalle seit der Eröffnung der Lyonel Feiniger-Retrospektive in ihren Räumen: Was macht eigentlich die Faszination für diesen Künstler aus, fragt Hans-Joachim Müller in der Welt. Neben der "eminenten Sinnlichkeit" der Werke, sieht Müller auch eine "technische Seite", die ihn zuweilen durch die völlige Abwesenheit starker Emotionen auch ein wenig irritiert: "Soll man es also visionär nennen, wie Feininger den Seheindruck prismatisch zerlegt? Alles gewinnt so den Charakter von Erscheinungen. Kleine Figurenschemen vor übermächtig aufragenden Gebäudeteilen, aufblitzenden Lichtkeilen und delikat modulierten Farben - das hat auch was von der stillen Anmut, mit der bei Caspar David Friedrich staunende Menschen vor dem Schauspiel der auf- oder untergehenden Sonne stehen. Eine spirituelle Botschaft wird daraus nicht. Feininger ist für den elegischen Ton zuständig, für leise Modulationen, für die lyrischen Abstände zwischen Maler und gesehener Welt."

Weiteres: Die Akademie der Künste hat auf ihrer Website ein Statement mit dem Titel "Zur Verteidigung der Kunstfreiheit" veröffentlicht, das auch von Direktorin Jeanine Meerapfel unterzeichnet wurde, berichtet Susanne Lenz in der Berliner Zeitung. Man sehe durch aktuelle Entwicklung die Unabhängigkeit der Kunst bedroht, es gelte "die Kunst- und Meinungsfreiheit als durch die deutsche Verfassung geschützte höchste Rechtsgüter in der Demokratie zu verteidigen".
Archiv: Kunst

Musik

Die eher krumm begründete Entscheidung des RIAS Kammerchors, das Händel-Oratorium "Israel in Egypt" aus dem Programm des Neujahrskonzerts zu nehmen (unser Resümee), sorgt für Wellen. "Ärgerlich" findet Welt-Kritiker Manuel Brug diese Entscheidung, "weil sie so unüberlegt ist, ja im gegenwärtigen Klima fatal. ... How dare you, möchte man in geübter Aktivistenmanier schreiben. Da wird im aus Bibelzitaten bestehenden Libretto jetzt von einer Musikinstitution selbst der alttestamentarische, die Ägypter strafende Gott verdammt, so wie er durch eines der beliebtesten - früher von bis zu 4000 Chorsängern aufgeführten - Händel-Oratorien spricht. Das ist als Zeichen total falsch. Dabei kann und soll doch Kunst Widersprüche offenbaren, sich ändernde Zeitumstände im Dialog mit einem alten Artefakt als Diskursgrundlage verstehen."

Von einer "einseitigen und alles erobernden Macht" in diesem Oratorium raunt das Vokalensemble in seiner Presserklärung und meint damit wohl den Gott Israels, der sein Volk aus der Sklaverei befreit, schreibt Matthias Loerbroks im Tagesspiegel. In einer "Situation, in der Juden und Jüdinnen nicht nur in Israel, sondern in der ganzen Welt schwer traumatisiert sind, sich bedroht und erneut alleingelassen fühlen, hat der RIAS-Kammerchor entschieden, ein grundlegendes Stück jüdischen Selbstverständnisses und jüdischer Hoffnung durch ein christliches Gebet zu ersetzen. Er setzt damit eine verheerende Tradition fort: jahrhundertelang haben christliche Kirchen gelehrt, das jüdische Volk sei nicht mehr Volk Gottes, sondern in dieser Rolle durch die Kirche ersetzt worden. Dass der Chor sich vermutlich nicht bewusst in diese Tradition stellt, sondern reflexhaft, also unreflektiert, macht die Sache nicht besser, sondern schlimmer. Weil es zeigt, wie ungebrochen wirksam diese Irrlehre ist." Hier das Oratorium in einer von John Eliot Gardiner dirigierten Aufnahme von 1978:



Außerdem: Michael Maier wirft für die Berliner Zeitung auf die us-amerikanischen Kritiken zur Amerikatour der Berliner Staatskapelle. Einmal mehr ist ein angekündigtes Album von Kanye West nicht erschienen, notiert Karl Fluch im Standard. Außerdem gratulieren er (hier im Standard), Willi Winkler (SZ) und Edo Reents (FAZ) Keith Richards zum 80. Geburtstag. Besprochen wird Kim Franks ARD-Doku über seine alte Band Echt (Jungle World),
Archiv: Musik