Efeu - Die Kulturrundschau

Der hohe Ton des Literarischen

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10.11.2023. Der Schauspieler-Streik in Hollywood ist vorüber, der Standard freut sich, FAZ und NZZ machen sich weiter Sorgen um die Filmindustrie. Die FAZ lässt sich mit der Ausstellung zu verbotenen Büchern im Münchner Literaturhaus an die Bedeutung der Meinungsfreiheit erinnern. Wie die Documenta beim nächsten Mal antisemitismusfrei stattfinden soll, fragt sich die SZ: Schon wieder sitzt  ein BDS-Sympathisant im Kuratorium. Die Alte Nationalgalerie hat einen Raubkunstfall. Aber die Stiftung Preußischer Kulturbeseitz will nicht darüber kommunizieren, ärgert sich die FAZ. Die Welt fragt: Ist Cat Power der bessere Bob Dylan?
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.11.2023 finden Sie hier

Literatur

Mit hohem Interesse flaniert FAZ-Kritiker Hannes Hintermeier durch das Münchner Literaturhaus, in dem sich eine Ausstellung verbotenen Büchern widmet. "Aktuell schreiben mehr Autoren denn je rund um den Planeten unter Zensurbedrohung. Besonders eifrige Verbieterstaaten sind in den USA, dem 'land of the free', Florida und Texas. Das dort derzeit am hartnäckigsten verfolgte Buch ist Maja Kobabes 'Gender Queer' von 2019. ... Die Schau kommt zur rechten Zeit, weil sie immer zur rechten Zeit kommen würde - ihr Exerzitium über Meinungsfreiheit erinnert daran, wie fragil dieses Rechtsgut ist. Und wo es an Grenzen stößt, etwa bei den Persönlichkeitsrechten. Wichtig ist den Kuratorinnen die Unterscheidung: Zensur und Cancel Culture seien zwei Paar Schuhe. Da 'bestimmte Darstellungen unserer heutigen Gesellschaft nicht mehr entsprechen', so ein Begleittext, könnte die sprachliche Sensibilisierung 'ein Gewinn für alle sein'."

Weitere Artikel: Der Tagesspiegel fragt bei Experten nach, wie die Bibliothek der Zukunft aussehen könnte. Christa Wolfs Mauerbau-Erzählung "Der geteilte Himmel" war keine "Staatsdichtung", schreibt Michael Pilz in der Welt. Stefan Rebenich versenkt sich für die FAZ in die Geschichte der Gartenratgeber-Literatur, deren Ursprünge bis weit in die Antike reichen.

Besprochen werden unter anderem Olga Martynovas "Gespräch über die Trauer" (Presse), Jurij Devetaks Comicadaption von Boris Pahors Erzählung "Nekropolis" (taz), Tim Staffels "Südstern" (Zeit), Fabcaros neuer Asterix-Band "Die weiße Iris" (taz), Doris Knechts "Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe" (Freitag), Helge Schneiders Krimi "Stepptanz" (online nachgereicht von der FAZ) und Michael Krügers "Verabredung mit Dichtern" (SZ).
Archiv: Literatur

Film

Der Schauspieler-Streik in Hollywood ist nach einer Einigung der Gewerkschaft SAG-AFTRA mit den Studios beigelegt. Die genauen Details werden erst heute bekanntgegeben, doch "sicher ist: Der Streik geht in die Geschichte Hollywoods ein, und er wird von SAG-AFTRA als großer Erfolg verbucht", schreibt Valerie Dirk im Standard. Im Hinblick auf den Einsatz von KI biete der für drei Jahre gültige Vertrag wohl zunächst mal eine Verschnaufpause. "Anzunehmen ist jedenfalls, dass sich Studios nun nicht, wie geplant, die uneingeschränkten Rechte an einem digitalen Scan von Hintergrunddarstellern sichern können - zum geringen Preis von einem Tag Arbeit. ... Neben der KI-Regelung enthält diese auch eine historische Steigerung der Mindestlöhne um sieben Prozent - das entspricht zwei Prozent mehr als die Erhöhung, die die Drehbuchgewerkschaft erhalten hat. Des Weiteren können die Schauspieler und Schauspielerinnen mit einer 'Streaming-Beteiligungsprämie' rechnen, ebenso mit einer Erhöhung der Gesundheits- und Pensionsbeiträge."

Claudius Seidl ist im FAZ-Kommentar nicht zu feiern zumute: "Hollywoods Krise kommt eben erst richtig in Fahrt." Denn schon vor dem Streik zeigte sich die US-Filmbranche nach erheblichen Fehlinvestitionen ins Streaming im freien Fall: "Die Aktienkurse brachen ein, die Investoren zwangen die Studios zum Sparen." Der Streik tat sein übriges: "Noch hat niemand ausgerechnet, wie hoch der Schaden ist, den der Streik angerichtet hat; es wird aber eine furchterregende Summe sein, ein Verlust, von dem sich die Studios und Streamingdienste so schnell nicht erholen werden. Und jetzt kommen die Kosten jener Einigung hinzu. ... Die Studios und Streamer müssen ihre Produktion reduzieren - was zur Folge haben wird, dass die Kunden ihre Abos kündigen und weniger Kinokarten kaufen." Auch Leon Igel sieht in der NZZ Hollywood taumeln: "Die Filmstudios versuchen, an alte Erfolge anzuschließen. An frischen Ideen mangelt es. Dabei braucht Hollywood genau das: ein Modell für die Zukunft." Jan Küveler von der Welt glaubt nicht, dass die US-Filmindustrie einfach zum Tagesgeschäft zurückkehren kann: "Die gegenseitige Verbitterung war zuletzt erheblich, und eine so gigantische Industrie wie Hollywood mit Millionen an Zulieferern wieder zum Laufen zu bringen, dürfte Wochen bis Monate dauern."

Besprochen werden Pia Lenz' Dokumentarfilm "Für immer" über ein alterndes Liebespaar (FR), Hans Steinbichlers Verfilmung von Robert Seethalers Roman "Ein ganzes Leben" (Standard), die Netflix-Dokuserie "Beckham" (Freitag), die ARD-Serie "Wer wir sind" (ZOn), die Serie "Lawmen: Bass Reeves" (Zeit) und Marko Doringers Doku "Dein Leben - mein Leben" über Väter und Kinder (Standard).
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Kunst

Max Slevogt: Bildnis Bruno Cassirer. Bild: Staatliche Museen zu Berlin/Jörg P. Anders.
Die Secessionen-Ausstellung in der Berliner Alten Nationalgalerie war ein großer Erfolg, allerdings mit bisweilen zweifelhafter Basis, wie sich jetzt für Hubertus Butin in der FAZ herausstellt: Bei dem "Bildnis Bruno Cassirer" von Max Slevogt handelt es sich höchstwahrscheinlich um Raubkunst. Das weiß die Alte Nationalgalerie schon lange, hat es aber verschwiegen: "Dass außerdem die Verantwortlichen der Alten Nationalgalerie es abgelehnt haben, im Ausstellungskatalog auf die höchst heikle Herkunft des Slevogt-Gemäldes hinzuweisen, ist völlig inakzeptabel. Selbst auf der Homepage des Museums findet sich unter den Provenienzangaben bei dem Werk nicht die kleinste Andeutung zur Raubkunstproblematik. Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, betont: 'Wir möchten keine Objekte in unseren Sammlungen behalten, die nicht rechtmäßig dorthin gelangt sind.' An diesen Worten wird das weitere Vorgehen der Stiftung zu messen sein. Zumindest will die Institution nun mit den Nachkommen von Bruno Cassirer 'zeitnah Kontakt aufnehmen'. Für Claus Michael Kauffmann, Sprecher der Familie, kommt diese Ankündigung zu spät: Mit 92 Jahren starb er wenige Tage nach Eröffnung der Secessionen-Ausstellung."

Dass mit Ranjit Hoskoté nun ein BDS-Sympathisant in der Findungskommission für die Documenta 16 sitzt, zeigt für Nele Pollatschek in der SZ deutlich, dass es mit den Versicherungen, man wolle den Antisemitismus der letzten Schau aufarbeiten, nicht so weit her ist. Hoskoté hatte eine mit "BDS India" betitelte Petition unterschrieben, die Pollatschek zufolge klar antisemitisch ist, sie rufe zum Israel-Boykott auf und verbreite antizionistische Mythen. Seine Beteuerungen, er sei gegen jeden Boykott Israels, kauft sie ihm nicht ab: "Wie immer ist es schön zu wissen, dass man im Rahmen der Documenta Antisemitismus 'intensiv diskutiert'. Auch schön zu erfahren, dass Hoskoté gerne jüdische Autoren liest. Was genau das mit einer leider deutlich antisemitischen Petition zu tun hat, bleibt unklar. Man darf also gespannt sein, wie die Documenta-Findungskommission, zu deren sechs Köpfen eben auch mindestens ein Kopf gehört, der es für eine gute Idee hielt, diese Petition zu unterschreiben, wohl die antisemitischen Verfehlungen der Vergangenheit aufarbeiten wird. Und wie man wohl diesmal eine antisemitismusfreie Documenta garantiert."

Weiteres: Für 139 Millionen Dollar ist Picassos "Femme à la montre" von Sotheby's versteigert worden, der höchste Preis, der in diesem Jahr für ein Kunstwerk erzielt wurde, melden FR, Standard, Berliner Zeitung und Tagesspiegel.

Besprochen werden: Die frühere FAZ-Fotografin Barbara Klemm und ihre "Frankfurter Bilder" im Historischen Museum Frankfurt (FAZ), John Akomfrahs Austellung "A Space of Empathy" in der Kunsthalle Schirn (FAZ), William Turners Ausstellung "Three Horizons" im Lenbachhaus München, Nicolas Partys "When Tomorrow Comes" im Museum Frieder Burda Baden Baden (NZZ) und die von Tim Plamper kuratierte Gruppenschau "Mental Hot Spot" im Architekturbüro OOW (tsp).
Archiv: Kunst

Bühne

Das Spiel mit den Geschlechtern gehört in der Oper von Beginn an dazu, bemerkt Manuel Brug in der Welt, mittlerweile gibt es auch einige trans Frauen, die in eigentlich männlichen Rollen auftreten. Das passt aber eigentlich ganz gut zu den ewigen Verwirrspielen des Musiktheaters: "Die Geschlechter verschwimmen: Geht der Mann auf der Bühne mit der weiblichen Stimme als Transmann durchs wahre Leben, oder der Bariton, der gerade noch maskuline Rollen gegeben hat, als Transfrau? Noch sind offene Trans-Gesangsstars Ausnahmen, die europäischen Opernbühnen scheinen sie gerade erst für sich zu entdecken. So gibt es mit 'Lili Elbe' und 'Strella' gegenwärtig gleich zwei neue, sehr unterschiedliche Opern über Transgender-Titelfiguren in St. Gallen und Athen." "Lili Elbe" von Tobias Picker hat eine "durchhörbare, sich von Strawinsky bis zur Gegenwart, bei 'Downtown Abbeys' hüpfendem Tanzthema wie bei Cabaret-Musiken polystilistisch gekonnt bedienende, von Modestas Pitrenas fast etwas zu klangprächtig realisierte Partitur", sie "stellt Menschen und Schicksale in den Fokus, die singenden Personen rühren an." Vielleicht auch eine kontinuierliche Entwicklung: "Und irgendwie ist auch Beethovens 'Fidelio', mit dem 1968 das St. Gallener Theater zum ersten Mal eröffnet wurde, mit einer sopransingenden Crossdresser-Titelfigur ein bisschen trans… Oper eben."

Besprochen wird: "Die Rückkehr von Peter Pan" am Theater Regensburg (nmz).
Archiv: Bühne

Musik

Die belarussische Tor Band wird für ihr Engagement bei den Protesten im Land im Jahr 2020 drakonisch bestraft: Neben einer Geldstrafe von hundert Mindestmonatslöhnen landen die drei zwischen siebeneinhalb und neun Jahren hinter Gittern, informiert Ardy Beld im Tagesspiegel. Auch ansonsten gibt sich Lukaschenkos Regime alle Mühe, die Band unsichtbar zu machen: "Während der Untersuchungshaft der Bandmitglieder wurde das über eine Million Mal aufgerufene 'My ne narodets' wie alle anderen Videos aus dem offiziellen YouTube-Kanal der Band entfernt. Für die Justiz in Belarus war es offensichtlich ein Kinderspiel, die Gefangenen dazu zu bringen, die Zugangsdaten zu Mobiltelefon, sozialen Medien und YouTube herauszugeben. Dem Leiter der Pressestelle von YouTube/Google zufolge hat die Plattform selbst nicht eingegriffen. Allerdings wurde Ende März 2023 vom offiziellen Kanal aus ein Antrag auf Entfernung aller Tor Band-Videos von anderen Kanälen gestellt. YouTube kam dem nach und gab als Grund eine Urheberrechtsverletzung an. Jedes neu eingestellte Musikvideo der Band wird seither sofort entfernt."

Cat Power hat Bob Dylans legendäres "Royal Albert Hall Concert" (das 1966 natürlich in der Free Trade Hall in Manchester stattfand und aufgenommen wurde) sowohl in voller Länge (inklusive "Judas"-Ruf aus dem Publikum), als auch tatsächlich in der Royal Albert Hall augeführt und die Aufnahme davon nun veröffentlicht. Die Sängerin war schon immer große Dylan-Verehrerin, doch wenn sie "nun nicht nur Bob Dylans Songs interpretiert, sondern ein ganzes, abendfüllendes Konzert covert, einen modernen Mythos, geht es über das Persönliche hinaus ins Pophistorische und Philosophische", schreibt Michael Pilz in der Welt. "Wurde der Pop durch Dylan damals erwachsen, indem er den hohen Ton des Literarischen in den profanen Sound der Hitparaden einführte, ist Pop im 21. Jahrhundert klassische Musik. Alben werden wie Werke aufgeführt. Cat Power geht noch weiter und stellt ein historisches Konzert nach. Aber nicht als heilige, sondern als heitere Messe."



Weitere Artikel: Stephanie Grimm ist in der taz entsetzt von dem antisemitischen Geraune, mit dem die Rapperin Mykki Blanco ihren Auftritt im Berliner Silent Green "zu einer Echokammer für antiisraelische Verschwörungstheorien gemacht hat". Miloš Vec gratuliert dem Liederschreiber Michael Kunze in der FAZ zum 80. Geburtstag. In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Tobias Lehmkuhl über "Frozen Warnings" von Nico:



Besprochen werden ein Konzert der Queens of the Stone Age (FR), ein neues Album von Andreas Schaerer (TA), das neue Album der Wiener Band Naked Cameo (Standard) und eine Neuausgabe der Single-Zusammenstellung "Leichte Teile, kleiner Rock" von Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs aus dem Jahr 1998 ("Die Band spielt, als hätte sie sich gerade eben versehentlich neu erfunden, Spielfreude, Morgenröte", jubelt Benjamin Moldenhauer in der taz).

Archiv: Musik