Efeu - Die Kulturrundschau

Ganz im Jetzt

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.11.2023. Die israelische Clubszene ist in Schockstarre, erzählt der Musikmanager Guy Dreifuss der taz: Das Spiel, sich im Ausland für die eigene Existenz entschuldigen zu müssen, will man aber nicht mehr mitspielen. Erforscht die Nazi-Verstrickungen der Spitzenorganisation der deutschen Filmwirtschaft, ruft die Zeit. Die FAZ rast mit Vasily Barkhatovs Inszenierung von "Le grand macabre" auf den Weltuntergang zu. Beim Jazzfest Berlin gab es neben wenigen Glücksmomenten viel zum Gähnen, stellen die Musikkritiker fest.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.11.2023 finden Sie hier

Musik

Die israelische Clubszene ist still geworden, erzählt der Musikmanager Guy Dreifuss im taz-Gespräch: "Seit dem 7. Oktober gibt es keine Clubszene mehr in Israel. Jeglicher Frohsinn ist vorbei, alle sind wie Zombies. Bars, Clubs, Restaurants - sie sind geschlossen. Entweder aus Solidarität oder weil Leute psychisch nicht in der Lage dazu sind, diese zu öffnen. Das vergangene Wochenende war das erste Mal, dass einige wenige Läden überhaupt versucht haben, wieder zu öffnen. Aber es war wenig los." International "haben wir das Spiel lange mitgespielt: Wir haben uns immer dafür entschuldigt, dass wir Israelis sind. Jahrelang fühlte ich mich, als müsste ich mich rechtfertigen für meine bloße Existenz. Aber wir wollen uns nicht mehr dafür schämen. Es ist uns jetzt egal. Es findet auch unter vielen linken Israelis gerade ein Umdenken statt. Wir haben immer an Frieden geglaubt und daran, dass die palästinensische Seite genauso friedlich leben will wie wir. Aber wir waren offensichtlich zu naiv."

Beim Jazzfest Berlin musste sich Tagesspiegel-Kritiker Gregor Dotzauer mitunter schon fragen, ob die experimentellen Nischen des Jazz, denen sich das Festival mit Vorliebe widmet, nicht vielleicht doch so langsam auserforscht und zu abrufbaren Formeln erstarrt sind. Entdeckungen gab es dennoch zu machen, etwa das Projekt I Get Along Without You Very Well der schwedischen Komponistin Ellen Arkbro und des Pianisten Johan Graden. Sie spielten "acht auch als Album veröffentlichte Stücke von betäubender Langsamkeit. Songs, die mit ihrer hingehauchten Stimme wie durch Schlick waten. Musik für die Zeit weit nach Mitternacht, kurz vor Weltende. Man könnte sich an Annette Peacocks schmerzliche Balladen erinnert fühlen oder an Radiohead. Für ein Kammerensemble durcharrangiert, gehört es mit seinen solistischen Einsprengseln und einem Schlagzeug, das hin und wieder gegen das allzu Schleppende aufbegehrt, allein der Konzentration wegen, die das Zuhören erfordert, auf ein solches Festival." Wir hören rein:



Damit braucht man FAZ-Kritiker Tobias Lehmkuhl nicht kommen: Der Auftritt wirkte "scheintot", die Musik ist nichts weiter als "blutarmer Pop", der gut passt zur "Largo-Orgie", die das Jazzfest Berlin in diesem Jahr im Großen und Ganzen seiner Ansicht nach darstellte. Grandios fand er allerdings Henry Threadgills neue Komposition "Simply Existing Surface", die auf dem Papier grotesk komplex wirkt, den Musikern aber Flügel verleiht: Sie "wachsen über sich hinaus, jeder, scheint es, spielt das Solo seines Lebens. Als Schlagzeuger Kay Lübke seines beendet hat, kann selbst sein Schlagzeugkollege von Zooid, Elliot Humberto Kavee, nicht an sich halten und applaudiert gemeinsam mit dem Publikum. Die Musik vollzieht sich ganz im Jetzt. Es gibt keine angestrengten Reverenzen an die Jazzgeschichte, im Gegenteil ist die Musik ganz nach vorne gerichtet. Am Ende, meint man, beginnen die Musiker, wirklich zu fliegen."

Weitere Artikel: Ist das noch echt, fragt sich Konstantin Nowotny in seiner Freitag-Kolumne, wenn die Rolling Stones und die Beatles im Jahr 2023 neue Veröffentlichungen vorlegen. Jan Wiele (FAZ) und Willi Winkler (SZ) gratulieren Joni Mitchell zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden eine Neuausgabe des vor 30 Jahren erschienenem Nirvana-Albums "In Utero" (Standard), ein Auftritt des Pianisten Víkingur Ólafsson in Wien (Standard), ein Bruckner-Abend mit den Wiener Symphonikern unter Manfred Honeck (Standard), ein Schostakowitsch- und Brahms-Konzert des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin mit der Geigerin Vilde Frang (Tsp), Ian Bostridges Essay "Das Lied & das Ich: Betrachtungen eines Sängers über Musik, Performance und Identität" (Zeit) und Loraine James' Album "Gentle Confrontation" (FR).
Archiv: Musik

Bühne

"Le grand macabre" an der Oper Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller.


Eigentlich, meint FAZ-Kritiker Wolfgang Fuhrmann, ist György Ligetis Endzeit-Oper "Le Grand Macabre" für heutige Verhältnisse ein bisschen altbacken. Wie gut, dass sich Vasily Barkhatov an der Oper Frankfurt "keinen Deut um Ligetis Regieanweisungen" schert, sondern den Schwank, in dem ein Sensenmann das Ende der Welt zur Mitternacht voraussagt, auf geniale Weise ins Heute versetzt, freut sich Fuhrmann: "Schon vor Beginn des Stücks werden Fernsehnachrichten über das Herannahen eines Kometen in direktem Kollisionskurs mit der Erde in allen möglichen Sprachen projiziert." Die vielen weiteren schlauen Regieeinfälle will der Kritiker nicht verraten, "nur so viel: Beim Hofastronomen spuken Einhörner und Spinnen als gepixelte Videos (Ruth Stofer, Tabea Rothfuchs) durch den Wohnwagen, und die dröge Hofgesellschaft bei Fürst Go-Go verwandelt sich in eine von Olga Shaishmelashvili mit extravaganter Kostümierung ausgestattete 'Tanz auf dem Vulkan'-Party." In der FR bespricht Judith von Sternburg das Stück.

SZ-Kritiker Ronen Steinke besucht die Puppenspielerin Shlomit Tripp, die mit ihrem Puppentheater "Bubales" Kindern spielerisch jüdische Kultur vermittelt. In Berlin-Kreuzberg war das schon vor den aktuellen Ereignissen in Israel manchmal schwierig, berichtet Steinke (Schulkinder störten die Vorstellung mit "Allahu Akbar"-Rufen, die Lehrer blieben untätig), jetzt habe sich die Situation allerdings noch einmal verschlimmert: "Ein paar Tage sind vergangen seit dem Treffen in Shlomit Tripps Puppenwerkstatt, da schickt sie eine Whatsapp-Nachricht. Sie hat schlechte Nachrichten bekommen. Die türkische Gemeinde in Hamburg, die eigentlich die 'Bubales' eingeladen hatte, hat gerade einen Rückzieher gemacht. Die Show ist abgesagt. Begründung: Man könne aktuell nicht für ihre Sicherheit garantieren."

Weiteres: Michael Bartsch teilt in der taz Eindrücke vom Dresdner Theater-Festival "Fast Forward". Taz-Kritikerin Katja Kollmann hat sich beim Festival "Theater der Dinge" am Theater Strahl in Berlin gut amüsiert.

Besprochen wird Olivia Hyunsin Kims Musiktheater "Turning Turandot" nach Giacomo Puccinis Oper an der Staatsoper Hannover (nmz), Claus Peymanns Inszenierung von Thomas Bernhards Stück "Minetti" im Münchner Residenztheater (Zeit Online), Andreas Homokis Inszenierung von Wagners "Götterdämmerung" am Opernhaus Zürich (NZZ).

Archiv: Bühne

Film

Wir freuen uns und sind stolz: Rajko Burchardt wurde für seine im Perlentaucher veröffentlichte Filmkritik zu Steven Spielbergs "The Fabelmans" vom Verband der deutschen Filmkritik für den Siegfried-Kracauer-Preis für die beste Filmkritik des Jahres nominiert. Der Gewinner wird am 3. Dezember bekanntgegeben. Wir wünschen unserem Autor viel Erfolg!

-----

Der aus über 1.400 Firmen zusammengesetzte und entsprechend einflussreiche Dachverband "Spitzenorganisation der Filmwirtschaft", kurz Spio, feiert 2023 sein hundertjähriges Bestehen. Dass der Verband bei der Gleichschaltung der Filmindustrie in Nazi-Deutschland eine große Rolle spielte, ist zwar bekannt. Die persönlichen Verstrickungen während der NS-Zeit aber seien bislang kaum erforscht, merkt Valentin Herleth online nachgereicht in der Zeit an. Dabei gibt es "mindestens drei Fälle von Spio-Funktionären mit NS-Vergangenheit. Zwei von ihnen stehen auf der Liste der Ehrenmedaillen auf der Website des Verbandes": Der Jurist Horst von Hartlieb und der Produzent Alexander Grüter, der "mitverantwortlich war für einen Teil der vom Rüstungsministerium aufgeführten sieben Millionen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. ... Die seit 1961 verliehene Ehrenmedaille der Spio wurde höchstwahrscheinlich von Ernst Erich Strassl miterfunden", der seit 1933 NSDAP-Mitglied war, als Nazi-Propagandist arbeitete und aktiv an den Novemberpogromen 1938 beteiligt war: "Von 1960 bis 1966 war er zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit des Verbandes - und zuvor in den Fünfzigerjahren langjähriger Redaktionsleiter der Filmbranchenzeitschrift Der neue Film. Später arbeitete er in der Filmabteilung von BASF und war bis in die Achtzigerjahre als Prüfer bei der Freiwilligen Selbstkontrolle tätig."

Weitere Artikel: Der Standard spricht mit Justine Triet über ihren in Cannes ausgezeichneten (und in der Jungle World besprochenen) Film "Anatomie eines Falls" (unsere Kritik). Philipp Krohn folgt dem deutschen Fernsehmacher Gert Müntefering für die FAZ auf dessen Reise nach Tschechien, wo er für seine Verdienste um die deutsch-tschechische Filmzusammenarbeit gewürdigt wurde. Pascal Blum fragt sich im Tages-Anzeiger, ob es in Orndung ist, wenn Naturfilmer immer häufiger in die Geschicke der von ihnen gezeigten Tiere eingreifen. Stefan Brändle wirft für den Standard einen Blick auf die aktuellen Skandale von Gérard Depardieu.

Besprochen werden Mathieu Vadepieds "Mein Sohn, der Soldat" (online nachgereicht von der FAZ), Craig Gillespies "Dumb Money" (online nachgereicht von der FAZ, mehr dazu hier) und die Serie "Parlament", die laut NZZ-Kritiker Andres Herzog "zum Pointiertesten gehört, was die europäische Fernsehförderung in den letzten Jahren hervorgebracht hat".
Archiv: Film

Literatur

Michael Wurmitzer berichtet im Standard von der Verleihung des Österreichischen Buchpreises, der in diesem Jahr an Clemens J. Setz für dessen Roman "Monde vor der Landung" ging. Philipp Böhm erinnert in der Jungle World an Thomas Pynchons Raketenroman "Die Enden der Parabel", der vor 50 Jahren erschienen ist und seitdem sein Publikum fasziniert und verrätselt. Anselm Haverkamp gratuliert in der FAZ dem Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Zadie Smiths "Betrug" (online nachgereicht von der Literarischen Welt), Richard Fords "Valentinstag" (FR), NoViolet Bulawayos "Glory" (online nachgereicht aus der FAZ), Tim Parks' "Hotel Milano" (FAZ) und Peter Simonischeks "Kommen Sie näher" (SZ).
Archiv: Literatur
Stichwörter: Ford, Richard

Kunst

Anna Haifisch, Triptyque de Strasbourg, 2023. Encre noire et couleur numérique, impression sur Dibond © Anna Haifisch

Liebevolle Referenzen an die Geschichte des Comics, eine gute Portion schwarzen Humor und sogar echte tote Mäuse - all das findet FAZ-Kritiker Andreas Platthaus in der ersten Werkschau der Comic-Künstlerin Anna Haifisch im Tomi Ungerer Museum in Straßburg. Überfällig ist diese erste Werkschau in Frankreich, findet er, und schmunzelt über die Selbstironie, mit der Haifisch ihr Lieblingsmotiv präsentiert: "Eine tote Maus ist auch der Blickfang im spartanischsten Raum der Ausstellung, in dem auf fliederfarbenen Wänden einige der winzigen Originalseiten aus Haifischs 2021 publiziertem Comic 'Residenz Fahrenbühl' mit Klebeband angebracht sind, durchmischt mit Vorzeichnungen und arrangiert zu einer Abfolge, die vielmehr eine Rhythmik herstellt als eine Chronologie. Und unter einem Zitat der Mäuseprotagonisten dieser Erzählung ('In Fahrenbühl hoffe ich, zu einer anderen Maus zu werden') wird das aus dem Straßburger Naturkundemuseum entliehene Präparat einer Feldmaus präsentiert."

Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Ecstatic Media. Medienkunst neu betrachtet" im Museum der Moderne in Salzburg (FAZ) und die "Lyonel Feininger"-Ausstellung in der Kunsthalle Schirn in Frankfurt (FAZ).
Archiv: Kunst