Efeu - Die Kulturrundschau

Verzweifeltes Verzaubern der Wirklichkeit

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06.11.2023.  Am Samstag wurde Lutz Seiler mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet. Die Feuilletons berichten von einer trauten Atmosphäre und Reden, die wie selten miteinander korrespondierten. Wie Seiler von Büchners "Woyzeck" über die eigene Biografie bis zu den Schrecken des Atomzeitalters fand, beeindruckte alle Kritiker im Saal. Die taz kann kaum fassen, wie wenig sich die Kulturszene bei ihren Kooperationen mit Saudi-Arabien für die Menschenrechte interessiert. Und die SZ ist erschüttert von Marta Górnickas Chor der Geflüchteten am Gorki Theater.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.11.2023 finden Sie hier

Literatur

Am Samstag wurde der Büchnerpreis an den Schriftsteller Lutz Seiler vergeben. Judith von Sternburg fasst in der FR Seilers Dankesrede detailliert zusammen. "Es gab schon manche Büchnerpreisreden, die triftig und fruchtbar eine Verbindung zwischen dem Werk des Preisträgers und dem Namensgeber des Preises hergestellt haben", schreibt Jan Wiele in der FAZ, "aber so erschütternd wie bei Lutz Seiler ist es vielleicht noch nicht gelungen." Vom Menschenexperiment bei "Woyzeck" gelangte Seiler über Woyzecks Ausruf "Alles hohl da unten" und das wegsackende Wasser aus dem Tümpel vor dem Haus Seilers Eltern nach dem Uranabbau für die Sowjetunion bis hin zur Atombombe: "'Diabolische Welt, in der die innerste Substanz meiner strahlenden Heimat sowohl das poetische Ohr als auch die Sprengköpfe jener Atomwaffen verstärkt, die im Ernstfall auf uns gerichtet sein werden.' Und doch gehört es zu Seilers Poetik, selbst in dieser verdorbenen Welt (...) noch Ersatz-Halt zu suchen, ausgerechnet am Ort der Zerstörung. Dieses verzweifelte Verzaubern der Wirklichkeit ist wiederum symptomatisch für sein Werk, in dem die Heimatlosen sich noch die schäbigste Umgebung heimelig machen."

Seiler skizzierte eine "Geschichte der Geringsten", wie Mara Delius Seiler in der Welt zitiert, und "das Woyzeck-Prinzip, das heißt: zur Geschichte der wissentlichen Zerstörung der Körper tritt die Geschichte der Demütigungen, die der Schriftsteller in Bezug auf seine Familie nachzeichnet bis zum Großvater, der Teil der 'Strahlenbrigade' war. Es ist eine Gepflogenheit, dass die Büchnerpreisträger die Büchnersche Metaphorik in ihren Dankesreden weiterdichten. Lutz Seiler holte sie, wortwörtlich, wieder auf den Boden zurück - wissend, welche Tiefen sich unter ihm auftun. Der Akademie sind für die Zukunft ähnlich essenzialistische Gesten zu wünschen."

Die Reden zur Verleihung korrespondierten miteinander, "wie man es in der Geschichte der Preisverleihung noch nie erlebt" habe, stellte Ernst Osterkamp, scheidender Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, fest - und Alexander Menden von der SZ kann dem nur zustimmen: "Die Reden verband ein gesteigertes Bewusstsein für biografische Querverbindungen über die Jahrhunderte hinweg." Dlf Kultur würdigt Seiler mit einem Porträt-Feature von Helmut Böttiger. Außerdem hat der Dlf ein Feature über Seilers Roman "Kruso" von 2015 wieder online gestellt.

Außerdem: Im online aus der Literarischen Welt nachgereichten Gespräch spricht die Verlegerin Nora Pester über den Fokus auf jüdische Literatur des Hentrich & Hentrich Verlags. In einem Standard-Essay verneigt sich der Schriftsteller Thomas Sautner vor den Durchgeknallten der Literaturgeschichte.

Besprochen werden unter anderem Julya Rabinowichs "Der Geruch von Ruß und Rosen" (Standard), Luca Kiesers "Weil da war etwas im Wasser" (Standard), Karoline Therese Marths Debütroman "Dotterland" (Standard), Solvej Balles "Berechnung des Rauminhalts" (Tsp), Bettina Balàkas "Der Zauberer vom Cobenzl (Standard), Anna Neatas Debütroman "Packerl" (Standard), Astrid Sys "Nenn keine Namen" (Zeit), Hans-Christian Oesers Neuübersetzung von William M. Thackerays "Jahrmarkt der Eitelkeit" (FAZ) und neue Krimis, darunter Zoë Becks "Memoria" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Mathias Weichelt über Anja Kampmanns "Versuch über das Meer":

"Es soll um den Horizont gehen den
Farbauftrag der Ferne das helle Knistern ..."
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Architektur

Nach einer Biennale bleibt oft eine Menge Müll übrig, erinnert FAZ-Kritikerin Nalna Bahlmann. Das Team des deutschen Pavillons hat sich dieses mal dafür eingesetzt, dass dieser eine neue Verwendung findet: "Unter dem Leitsatz 'Open for Maintenance' - 'Wegen Umbau geöffnet' hat das diesjährige Kuratorenteam, das aus Mitarbeitern der Zeitschrift 'Arch+' und den beiden Architekturbüros Juliane Greb und Summacumfemmer besteht, den deutschen Pavillon für die gesamte Laufzeit der Biennale in ein Materiallager, eine Werk- und Lehrstatt verwandelt, wo die Bauabfälle der letzten Kunstbiennale recycelt, repariert und dann an verschiedenen Orten der Stadt umgenutzt oder neu aufgebaut werden. Der deutsche Pavillon führt damit vor, wie eine nachhaltige Baukultur aussehen kann, die sich zugleich als 'soziale Praxis' versteht.
Archiv: Architektur

Musik

Für Zeit Online spricht Tobi Müller mit Fab Morvan, der einst gemeinsam mit Rob Pilatus das Duo Milli Vanilli bildete. Die Geschichte seines tiefen Falls erzählt nun ein neuer Dokumentarfilm. Seinerzeit galten Morvan und Pilatus als die großen Buhmänner, nachdem herauskam, dass sie lediglich tanzten, aber nicht selber sangen - eine Idee der Plattenfirma. "Wir waren austauschbar. Und doch galten wir als jene, die logen. Frank Farian und die Plattenfirma logen gegenüber vielen und kamen davon. ... Wir standen wohl am Beginn einer neuen Ära, als Pop neu verpackt wurde. Erst später habe ich rausgefunden, dass einige nicht selbst auf ihren Alben gesungen haben, zum Beispiel, weil ihr Englisch nicht gut genug war.  ... Als wir den Film in Probeaufführungen jüngeren Leuten gezeigt haben, begriffen die es erst gar nicht richtig. Was war das massive Problem, warum der Hass? Auf TikTok ist Lipsynching ein Riesentrend. Soll man uns deshalb Pioniere nennen? Nein, das wäre auch wieder ein Witz."

Außerdem: In ihrer Popkolumne für die Jungle World empfehlen Gabriele und Maurice Summen Ken Burns' Arte-Dokuserie "Country Music", nach der "endlich jeder begriffen haben sollte, dass es Country ohne Blues nicht gäbe und was das Jodeln aus den europäischen Alpen mit alldem zu tun hat". Karl Fluch porträtiert im Standard die Volksmusik- und Schlagersängerin Melissa Naschenweng. Besprochen wird Samara Joys Auftritt beim Festival Jazznojazz in Zürich (NZZ).
Archiv: Musik

Kunst

Wo bleibt die moralische Verantwortung der Kunst-und Kulturszene, wenn es um ethische Fragen geht, fragt Ingo Arend in der taz und bezieht sich auf die immer intensiver werdende Zusammenarbeit zwischen Künstlern und Institutionen mit Saudi-Arabien. Natürlich sind Kollaborationen für den Kulturaustausch wichtig, so Arend, aber wenn die Menschenrechte derart mit Füßen getreten werden, sind sie unethisch. Arend kann kaum fassen, wer sich da unter anderem vom "blood money" locken lässt: "Das Pariser Centre Pompidou will den Saudis in der Wüste beim Bau eines Museums behilflich sein... Die Federführung bei dem Aufbau der Pompidou-Sammlung übernimmt mit Iwona Blazwick die ehemalige Direktorin der Londoner Whitechapel Gallery... Das Andy Warhol Museum in Pittsburgh zeigte in diesem Februar eine auf jede sexuelle Anspielung verzichtende Schau des schwulen Pop-Künstlers in der Kunsthalle Maraya mitten in der Wüste bei Al-'Ula." Das alles wird allerdings übertroffen vom gigantischen Projekt "Neom", einer "Kunststadt" in der Wüste: "Sie soll 500 Milliarden US-Dollar kosten, fast so groß wie Belgien werden, 9 Millionen Menschen beherbergen, im Jahr 2030 öffnen und bis 2045 angeblich klimaneutral sein. Einheimische Kritiker dieser von Kronprinz bin Salman euphorisch 'Revolution der Zivilisation' genannten Einheit wurden allerdings rabiat vom Feld geräumt. Einer von rund 20.000 Beduin:innen, deren Unterkünfte zwangsgeräumt wurden, wurde von Regierungskräften getötet. 2022 wurden drei protestierende Bewohner zum Tode und weitere zu langjährigen Haftstrafen von bis zu 50 Jahren verurteilt."

Weiteres: Ihrem Anspruch, der "Opfer des NS-Terrors zu gedenken" wird die neue Präsentation der Bührle-Sammlung im Kunsthaus Zürich, die sich kritisch mit der Vergangenheit des Waffenherstellers Emil Bührle auseinandersetzen will (unsere Resümees) nicht gerecht, finden Guilia Bernardi und Daniel Riniker in der taz: "Sie präsentiert zwar eine weniger euphemistische Nacherzählung der Sammlungsgeschichte, huldigt Bührle nicht mehr als Sammler und Mäzen, verengt sich aber zu sehr auf die Person Emil Bührle. Die Rolle der Schweiz hingegen, wie auch sie durch Bührles Kapital zur Profiteurin und Kollaborateurin des NS-Regimes wurde, bleibt unerwähnt."

Besprochen werden Ausstellung "Reise nach Italien XXI - Der Blick auf den Anderen" im Italienischen Kulturinstitut Berlin (tsp) und die Ausstellung "im Atelier Liebermann: Monika Bartholomé - unter einem Dach" im Max Liebermann Haus Berlin (tsp).
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Bühne

Szenenbild aus "Mothers-A song for Wartime." Foto: Bartek Warzecha

Marta Górnickas Chorstück
"Mothers" am Berliner Maxim-Gorki-Theater lässt SZ-Kritiker Peter Laudenbach auch eine Weile nach Vorstellungsende nicht los. Die polnische Regisseurin und Sängerin hat zusammen mit aus der Ukraine und Belarus geflüchteten Frauen über Monate dieses Stück erarbeitet, so Laudenbach, indem es darum geht, "was Frauen im Krieg erleiden, um ihren Stolz und um die Lieder, die Trost spenden, Zusammenhalt schaffen, oder wie in einer letzten Erinnerung die zerstörte Heimat bewahren". Laudenbach geht das durch Mark und Bein: "eine Zeile aus einem lustigen ukrainischen Kinderlied, 'Lass uns küssen', wird so brachial, düster und immer lauter wiederholt, bis es wie eine Drohung klingt. Die Stimmen flüstern, brüllen, sprechen und singen. Die Körper stampfen oder verharren still, sie rücken wie zum gegenseitigen Schutz und wie in einer Front zusammen oder verteilen sich als lauter Einzelne, oft auch Verlorene auf der großen, leeren Bühne. Der Form des Chors ist dabei von archaischer Wucht und Härte und gleichzeitig vollkommen gegenwärtig, weil er Erfahrungen formuliert, die gleichzeitig extrem persönlich und die Erfahrungen ganzer Gesellschaften sind." Auch tagesspiegel-Kritiker Rüdiger Schaper hat einen "starken Theaterabend" erlebt: "Und wenn die Vorstellung auch nur eine Stunde dauert: Eine Ewigkeit wird durchmessen, ein Grauen, das anhält."

Weiteres: Die amerikanischen Opern stecken in der Krise. Die Metropolitan Opera versucht es nun mit modernen Themen, weiß FAZ-Kritikerin Frauke Steffens und bringt eine Oper über das Leben von Malcolm X auf die Bühne.

Besprochen werden Paul Spittlers Inszenierung von Shakespears "Was ihr wollt" am Theater Dortmund (nachtkritik), Herbert Fritschs Inszenierung der musikalischen Komödie "Pferd frisst Hut" mit Musik von Herbert Grönemeyer am Theater Basel (nachtkritik, SZ, FAZ, taz), Rebekka Davids Inszenierung "Leonce und Lena, nowhere to run" nach Georg Büchner am Schauspielhaus Graz (nachtkritik), Caner Akdenizs Inszenierung von "(Making) Woyzeck" nach Georg Büchner am Schauspiel Essen (nachtkritik), Wen Huis Performance "New Report on Giving Birth" beim Tanzfestival Rhein-Main (FR), Sarah Kortmanns Theaterversion von Goethes "Werther" an der Volksbühne im Großen Hirschgarten in Frankfurt (FR), Gil Mehmerts Inszenierung des Musicals "Jekyll & Hyde" am Staatstheater Darmstadt (FR), Claudia Bossards Inszenierung von "Bunbury. Ernst sein is everything!" nach Oscar Wilde am Deutschen Theater Berlin (tsp) und Laurent Pellys Inszenierung von Léo Delibes Oper "Lakmé" (nmz).
Archiv: Bühne