Efeu - Die Kulturrundschau

Wer Erlösung erwartet, ist falsch

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27.10.2023. In der Welt fordert Mirna Funk - nachdem der Münchner Kunstverein auch nach unsäglichen Tweets an der Künstlerin Noor Abuarafeh festhält - eine Ent-Hamasifizierung des Kunstbetriebs. In der nachtkritik steht der linke israelische Theatermacher Gad Kaynar Kissinger ratlos vor dem Schweigen seiner palästinensischen Kollegen. Der iranische Regisseur Ali Samadi Ahadi erinnert in der Welt an den iranischen Filmemacher Dariush Mehrjui, der vor wenigen Tagen in seinem Haus ermordet aufgefunden wurde. Van resümiert die Donaueschinger Musiktage. FAZ und FR feiern die große Lyonel-Feininger-Ausstellung in der Frankfurter Schirn.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.10.2023 finden Sie hier

Kunst

In der Welt ist Mirna Funk fassungslos von der Begründung, mit der der Kunstverein München an der Künstlerin Noor Abuarafeh festhält, deren Solo-Ausstellung dort gerade zu sehen ist. Und das, obwohl Abuarafeh "in ihren Instagram-Storys nicht nur die Vergewaltigungen an jüdischen Frauen und Kindern öffentlich bestritt, sondern auch Posts der antisemitischen Vereinigungen Samidoun und BDS teilte". Dem Kunstverein war das ein bisschen peinlich, aber das war's auch, staunt Funk: "'Im Zusammenhang mit der Zuspitzung im Nahen Osten', heißt es dort verharmlosend, als sei das Massaker an 1.500 Israelis nur die bedauernswerte 'Zuspitzung' eines Konflikts, 'teilte Abuarafeh über Instagram Stories in den letzten Tagen die Posts anderer, die sich teilweise nicht von der Gewalt der Hamas abgrenzen.' Im Ernst? 'Teilweise nicht abgrenzen'? Das ist eine geradezu groteske Untertreibung, ja sogar eine Verschleierung der Tatsachen". Für Funk symptomatisch für einen zutiefst antisemitisch geprägten Kunstbetrieb, so fordert sie: "Wir werden in den nächsten Jahren eine echte Ent-Hamasifizierung brauchen - so ähnlich, wie die Institutionen nach 1945 in Deutschland ent-nazifiziert werden mussten. Wer sich heute schützend vor Massaker-Befürworter und Vergewaltigungs-Leugner schmeißt, dem kann man für die Zukunft nur viel Glück wünschen. Das gilt für die Kunstwelt und jeden Einzelnen."

Wieviel Äußerung kann man von den Institutionen jetzt erwarten, fragt Rüdiger Schaper im Tagesspiegel: "Soll sich jede Bühne, jedes Museum jetzt öffentlich äußern, und ohne 'Aber' und 'Wenn'? Von Menschen, die sich sonst immer zu Wort melden und moralische Instanz sein wollen, darf man jetzt schon etwas erwarten", meint er und verweist auf das Gorki, dessen Statement er vorbildlich findet.

Lyonel Feininger: Gelmeroda XIII, 1936. Bild: Kunsthalle Schirn.


War der Bauhauskünstler Lyonel Feininger mindestens so sehr Romantiker, ein Bruder im Geiste Caspar David Friedrichs, wie Avantgardist, fragt sich Stefan Trinks in der FAZ angesichts einer monumentalen Feiniger-Ausstellung in der Frankfurter Schirn Kunsthalle. Der Kritiker sieht jedenfalls manche unvermuteten Gemeinsamkeiten: "Überragend in dieser Sektion sind die 'Dünen am Abend' von 1918, in denen wie bei Friedrichs 'Mönch am Meer' eine winzige Figur in Rot, Grün und Lila der unendlichen Weite der Sandberge, des Himmels und des Wassers rechts gegenübersteht. Alle Bewegung scheint eingefroren, wie bei Friedrich ist das Querformat in Schichten gegliedert, wobei sich bei Feininger die Sphären überlagern. Wer von dieser ungeheuren Größe und Leere der Natur nicht überwältigt wird, muss schon sehr abgebrüht sein."

Auch Lisa Berins feiert in der FR diese Ausstellung, die ein klares Zentrum aufweist: "Gelmeroda, ein Herzstück im Werk Feiningers, ist in der Ausstellung auch physisch als solches inszeniert: Man betritt es als eigenes kleines Abteil in der Mitte des ersten Raums. Gleich fünf bedeutende Gemälde aus der Gelmeroda-Serie hängen dort nebeneinander, sie wurden unter anderem aus New York - aus dem Whitney Museum und dem Guggenheim Museum - eingeflogen. Im Vergleich miteinander sieht man, wie individuell jedes dieser Werke ist: in der Bildkomposition, der Farbigkeit. Die Dorfkirche ist in diesen Werken zur Kathedrale überhöht."

Giovanni Bellini: Malinconia. Bild: Gallerie dell'Academia di Venezia.

"Schönheit ist immer auch das, was man nicht hat. Die Venezianer kurz nach 1500 lebten in der vielleicht prächtigsten Stadt des Abendlandes, einem einzigen Kunstwerk, auf Holzpfählen über der Lagune schwebend", schreibt Kia Vahland in der SZ nach dem Besuch der Ausstellung "Venezia 500" in der Alten Pinakothek, die sie zum Träumen und Flanieren einlädt. "Alles viel zu friedlich, zu freundlich, gesprenkelt höchstens mit ein paar Seufzern Melancholie? Ja, warum denn nicht? Venedig war damals keine heile Welt; die Republik befand sich in einem Krieg mit den Großmächten; die Nahrungszufuhr aus dem Hinterland war zwischenzeitlich unterbrochen, die Pest kam. Das wussten auch die Strumpfhosenträger. Wegen all des Unheils aber aufgeben oder verhärten? Bloß nicht. Da lieber Giorgiones Jungs, Bellinis Heiligen, Tizians Frauen und den anderen venezianischen Träumern einen Besuch abstatten zum Krafttanken. In dieser Zusammenstellung sieht man die alte Freundestruppe selten."

Schon wieder Aufruhr im Kunsthaus Zürich, ärgert sich die NZZ. Eigentlich sollte in einer neuen Ausstellung die schwierige Provenienz der Kunstwerke näher beleuchtet werden und dabei der Schwerpunkt auf die jüdischen Sammler gelegt werden. Das scheint nicht geklappt zu haben, der wissenschaftliche Beirat ist geschlossen zurückgetreten. "Laut dem Bericht des Deutschlandfunks und Quellen der NZZ soll ein erneut falsch gelegter Fokus Grund für den Rücktritt des wissenschaftlichen Gremiums sein. Wieder blicke die Ausstellung vor allem auf Bührle statt auf die Opfer des NS-Regimes. Die Begleittexte zur Ausstellung sollen dem wissenschaftlichen Gremium erst in der zweiten Oktoberwoche zur Beurteilung vorgelegt worden sein. Die Kritik des Beirats, dass die Präsentation wieder an den verfolgten, enteigneten und ermordeten Sammlern vorbeischaue, scheint nun nicht mehr Eingang in die Ausstellung finden zu können."

Weiteres: Alexander Diehl gratuliert in der taz dem Kunsthaus Hamburg zum Sechzigsten. Besprochen werden die Damien-Hirst-Schau im Münchner MUCA (FAZ), die Ausstellungen "Ari-Arirang" mit koreanischer Kunst im Berliner Humboldt Forum (Tsp), "Kindheit im Wandel" im Romantik-Museum in Frankfurt (FR), "Bruno Pélassy and the Order of the Starfish" im Berliner Haus am Waldsee (BlZ) und die "Goldrausch"-Herbstausstellung in der Berliner Galerie Weißer Elefant (BlZ).
Archiv: Kunst

Musik

Eleonore Büning resümiert für VAN die Donaueschinger Musiktage. Es war der erste Jahrgang unter der neuen Leiterin Lydia Rilling, die - wie unter manchen Besuchern wohl auch etwas unkend angemerkt wurde - für 18 der 23 Uraufführungen Frauen beauftragt hat. Darunter auch Olga Neuwirths Stück "Black Dwarf - Images from dark spaces", gegeben vom New Yorker Ensemble Yarn/Wire: "Der kalte Kosmos wimmert, es geht um das Ende der Welt und die physikalische Spätphase untergegangener Sterne, in etwa 100 Billionen Jahren. Eine atemraubend kontrapunktische Raum-Musik tut sich auf, eine kunstvoll polyrhythmisch übereinander kopierte Pseudo-Unordnung fliegt im Nu vorbei. ... Dieses präzis agierende, improvisations-inspirierte, klangwandlerische Quartett von elaborierten Schlaginstrumenten - auch ein Klavier hat schließlich Hämmer, auch Vibraphone können singen - kennt sich ebenso aus mit der unterhaltungsmusikalischen Pointe wie mit dem theatralischen Effekt. Es ist in der komponierten zeitgenössischen Musik ebenso daheim wie im improvisierten Jazz. Und steht repräsentativ für eine weitere Neuerung der Rilling-Ära: für die Öffnung und Weiterung des traditionellen Donaueschinger Narrativs. Rilling will die grenzgängerischen Musikszenen jenseits der akademischen Avantgarde einbeziehen, sie sucht nach Impulsen aus Pop, Jazz, Elektronik und Improvisation." Das Konzert gibt es hier zum Nachhören.

Weitere Artikel: Die Dirigentin Katharina Wincor und die Komponistin Flora Geißelbrecht sprechen in der Presse über die sich allmählich bessernde Lage von Frauen im Klassikbetrieb. Für VAN spricht Merle Krefeld mit der Sängerin Norma Widmer und der Sportwissenschaftlerin Kirsten Legerlotz über die Auswirkungen hormoneller Veränderungen auf die Stimmen klassischer Sängerinnen und wie sie damit umgehen können. Wolfram Goertz berichtet in der Zeit von der Musikbiennale in Venedig. Volker Hagedorn entdeckt im VAN-Magazin seine jugendliche Begeisterung für Tschaikowsky wieder. Nadine Lange verneigt sich im Tagesspiegel vor dem Berliner Indie-Label Staatsakt, das dieser Tage sein 20-jähriges Bestehen feiert.

Besprochen werden ein Schumann-Konzert der Geigerin Vilde Frang (NZZ) und das neue Album von Priya Ragu (NZZ).

Archiv: Musik

Literatur

Sieglinde Geisel nimmt sich im Page-99-Test für Tell Daniel Kehlmanns "Lichtspiel" zur Brust und findet: "Das ist stilistisch alles ein wenig zu glatt, ein wenig zu kalkuliert. Und auch ein wenig zu penetrant." Tobias Siebert erzählt auf 54books davon, wie er beinahe mal Stadtschreiber von Gelsenkirchen geworden wäre. In der FAZ erinnert sich Jan Wiele an eine Begegnung mit dem kürzlich verstorbenen Literaturwissenschaftler Franz Karl Stanzel. Nicole Seifert liest für das Blog Nacht und Tag nochmals Enid Blytons "Dolly". Und Thomas Hummitzsch stürzt sich für sein Intellectures-Blog in die aktuellen "Bücherfluten" und birgt Perlen aus unabhängigen Verlagen.

Besprochen werden unter anderem Naomi Kleins "Doppelgänger" (54books), Barbi Markovićs Erzählband "Minihorror" (Zeit), Fabcaros neuer Asterix-Band "Die weiße Iris" (Presse), Robert Schindels "Flussgang" (FR), Daniel Wissers "O 1 2" (Tsp), Juli Zehs Kinderbuch "Der war's" (SZ), Ilko-Sascha Kowalczuks Biografie über Walter Ulbricht (FAZ) und Florian Illies' "Zauber der Stille" über Caspar David Friedrich (NZZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Esther Slevogt unterhält sich für die nachtkritik mit dem israelischen Theatermacher und -lehrer Gad Kaynar Kissinger: "Als allererstes ist es Müdigkeit - Müdigkeit und Resignation darüber, dass das ganze kritische Theater, das es ja einmal gab, nicht geholfen hat, die Situation zu verändern", schreibt er. Palästinensische Theatermacher würden sich nur selten zu den aktuellen Ereignissen äußern: "Ein Doktorant von mir, ein sehr bedeutender palästinensischer Wissenschaftler, Schauspieler und Regisseur, sagt: 'Es ist sehr schwierig, was in diesen Tagen vorgeht. Ich verurteile - wie viele in der palästinensischen Gesellschaft - die barbarischen Taten der Hamas. Andererseits fühle ich mich durch den Hass, der sich jetzt in Israel auch gegen arabische Zivilisten entlädt, in eine Zwickmühle gebracht.' Es gibt auch einige palästinensische Theaterleute, die sich solidarisch zeigen mit ihren jüdischen Kolleginnen und Kollegen, weil sie zusammenarbeiten. Die meisten schweigen. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie ich mich als Linker zu diesem Schweigen verhalten soll."

Szene aus "Keine Sorge (Religion) von Bonn Park. Foto: Thomas Rabsch


Bonn Parks Stück "Keine Sorge (Religion)" am Düsseldorfer Schauspielhaus löst in SZ-Kritiker Alexander Menden wenig aus. Schon das Konzept, den Theaterbesuch "irgendwie liturgisch zu fassen" überzeugt ihn nicht, zumal, wenn er wie in Düsseldorf "zwischen Feierlichkeit und Albernheit" schwankt. "Hauptthemen der anderthalbstündigen para-religiösen Riten sind Beruhigung und Ahnungslosigkeit. Die Botschaft ist: 'Du weißt sehr wenig', das Mantra lautet: 'Keine Sorge. Sorg dich nicht. Sei unbesorgt. Wehe, du sorgst dich!' ... Das 'Wehe, du sorgst dich' und die Aufforderung an die Gemeinde, 'recht fest' das Maul zu halten, sind die einzigen etwas bedrohlichen Elemente, die ja die Würze wahrer Religion sind. Dabei fehlt es nicht an Apokalyptik, aber dieser die echte Dringlichkeit. Wenn der Chor singt 'Wahrscheinlich geht die Welt noch diese Woche unter', klingt das wie eine Rentnerbeschwerde am Kiosk als eine Warnung zur Umkehr. Wer sich im Düsseldorfer Schauspielhaus zum Kichern einfindet, wird auf seine Kosten kommen. Wer Erlösung erwartet, ist falsch."

Weiteres: John von Düffel wird Intendant am E.T.A. Hoffmann-Theater in Bamberg, meldet die SZ. Besprochen werden Romeo Castelluccis Inszenierung des "Rheingolds" an der Oper Brüssel (FAZ) und "(Broken) Bridges" des transnationalen Hamburger Kollektivs Hajusom auf Kampnagel Hamburg (nachtkritik).
Archiv: Bühne

Film

Der iranische Regisseur Ali Samadi Ahadi erinnert in der Welt an den iranischen Filmemacher Dariush Mehrjui, der vor wenigen Tagen in seinem Haus ermordet aufgefunden wurde (unser Resümee). Zuvor hatte Mehrjui, ein Pionier der iranischen Neuen Welle der Siebziger, in einem Video auf Social Media energisch gegen die Zensur seines neuen Films "La Minor" protestiert und dabei unter anderem "Kommt und schlagt mich tot" gerufen. Mehrjui und seine ebenfalls ermordete Ehefrau hatten sich im vergangenen Jahr der iranischen Protestbewegung "Frau, Leben, Freiheit" angeschlossen. Auch "La Minor" erzählt "von einer jungen Frau, die aus den Fängen der Regulierung und Einengung des Staates, der Familie und der Gesellschaft entkommen und ganz einfach ein 'normales' Leben einer jungen Erwachsenen führen möchte. Hier spiegelt sich in einem Familiendrama im Kleinen das wider, wofür die Gesellschaft seit einem Jahr kämpft. ... Ob nun der Mord an Mehrjui und seiner Ehefrau vom Regime befohlen wurde oder nicht, ist für die Menschen im Moment zweitrangig. Denn eines ist klar: Der islamische Willkürstaat würde sich nicht davor scheuen, solche Verbrechen zu begehen. Die Geschichte hat es uns gezeigt."

Weitere Artikel: "Vielleicht wird man einmal sagen: Wir hätten doch mehr 'Fauda' schauen sollen", mutmaßt Claudia Schwarz in der NZZ in der Überzeugung, dass die israelische Netflix-Serie "tatsächlich das filmische Werk ist, wenn es darum geht, deutlich zu machen, in welche Ausweglosigkeit und Desillusionierung der israelisch-palästinensische Konflikt im vergangenen Jahrzehnt führte". Zur Viennale blickt Valerie Dirk auf das Filmschaffen von Agnieszka Holland, deren aktuellen Film "Grüne Grenze" das Festival zeigt. Stefan Eichardt gibt auf Artechock Einblick in seine Arbeit als Kinomacher in Celle.

Besprochen werden Jean-Pierre und Luc Dardennes Migrationsdrama "Tori & Lokita" (Tsp, critic.de, Artechock), Timm Krögers "Die Theorie von Allem" (Artechock, critic.de), die dritte Staffel von Lars von Triers Serie "Geister" (Artechock), David Finchers "The Killer" (ZeitOnline, FAZ, Artechock), Mike Flanagans Netflix-Adaption von Edgar Allan Poes "Der Untergang des Hauses Usher" (Freitag, TA), neue, auf der Viennale gezeigte Filme von Hong Sangsoo (Standard, Perlentaucher), Chai Vasarhelyis und Jimmy Chins Dokumentarfilm "Nyad" über die Schwimmerin Diana Nyad, die mit 64 von Kuba nach Florida schwamm (Welt), Markus Gollers "One for the Road" (Artechock), Alice Troughtons "The Lesson" (Artechock) und Marcus H. Rosenmüllers "Neue Geschichten vom Pumuckl" (Artechock, Welt). Außerdem bietet der Filmdienst hier seinen Überblick zu allen seinen Filmkritiken zur aktuellen Kinowoche.
Archiv: Film