Efeu - Die Kulturrundschau

In Schweiß gebadet von der Jubel-Permanenz

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.10.2023. Permanente Polizeibewachung und angespannte Stimmung auf der Buchmesse: Der Hamas-Terror und der Fall Shibli sind die bestimmenden Themen, auch bei ZeitOnline. Die SZ ist genervt von Verlagen, die sich in den sozialen Medien als infantil jubelnde Marktschreier betätigen. Mit dem Opernmonstrum "Die Frau ohne Schatten" von Richard Strauss hat die Lyoner Oper einiges gewagt - und gewonnen, schreibt die mitgerissene nmz. Dass Schriftsteller ihr Leben gerne wie eine ihrer Geschichte inszenieren, lernt die FAZ in einem Doku-Film über John Le Carré. Der Standard empfiehlt außerdem die Einnahme von Halluzinogenen für den vollen Krautrock-Hörgenuss.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.10.2023 finden Sie hier

Film

Wer war John le Carré? "The Pigeon Tunnel" gibt (keinen) Aufschluss.

Für seinen neuen, für Apple+ produzierten Film "The Pigeon Tunnel" hat sich Errol Morris 2019 vier Tage mit dem 2020 verstorbenen Thrillerautor John le Carré getroffen. Entstanden ist dabei "ein Film über einen begnadeten Geschichtenerzähler, der versucht, sich selbst zu ergründen", schreibt Nina Rehfeld in der FAZ. "Oder so will er es uns zumindest weismachen." Denn zu sehen "ist eine Spurensuche unter der Führung des Erzählers le Carré, der kein Hehl daraus macht, dass er Versionen von Szenen seines Lebens entwirft, von deren 'Wahrheit' er mitunter selbst nicht überzeugt ist. ... Immer wieder im Verlauf dieser eloquent erzählten Geschichte steht der menschliche Hang im Vordergrund, aus Versatzstücken eine sinnstiftende Geschichte zusammenzufügen. Morris sagt, er teile Cornwalls Irritation über das Wesen der Wahrheit: 'Sie wird einem nicht gereicht. Sie ist eine Art Gralssuche, getrieben von dem Gefühl, dass da etwas im Verborgenen liegt' - und von der Furcht, dass es eine tiefere Erkenntnis gar nicht gebe."

Außerdem: Axel Timo Purr empfiehlt auf Artechock Filme der 13. Afrikanischen Filmtage in München. Valerie Dirk spricht im Standard mit Festivalleiterin Eva Sangiorgi über deren Viennale-Programm. Susanne Gottlieb führt im Standard durch das Kurzfilmprogramm der Viennale. Andreas Scheiner beleuchtet für die NZZ die Karriere von Leonardo DiCaprio.

Besprochen werden Martin Scorseses "Killers of the Flower Moon" (Standard, Artechock, Zeit, SZ, unsere Kritik), Margarethe von Trottas "Ingeborg Bachmann - Reise in die Wüste" (Artechock), Richard Hubers "Ein Fest fürs Leben" (Artechock), Fiona Tans auf der Viennale gezeigter Essayfilm "Dearest Fiona" (Standard), Franzis Kabischs beim Festival DOK.Leipzig gezeigter, experimenteller Dokumentarfilm "getty abortions" (Perlentaucher), Pablo Bergers bei der Viennale gezeigter Animationsfilm "Robot Dreams" (Standard), Bjarne Mädels TV-Krimi "Sörensen fängt Feuer" (FAZ), das Comeback der Comedyserie "Frasier" (FAZ), die Netflixserie "Bodies" (FAZ), die ZDF-Serie "Aufgestaut" über Klimaaktivisten (FAZ) und Hape Kerkelings Serienfortsetzung seiner Komödie "Club Las Piranjas" (ZeitOnline).
Archiv: Film

Literatur

Auf der Frankfurter Buchmesse steht "Polizei, bewaffnet, in allen Hallen, zu jeder Zeit", berichtet Maja Beckers auf ZeitOnline. "Die Atmosphäre ist angespannt, mal mehr, mal weniger subtil. Der Terror der Hamas am 7. Oktober, der Krieg im Nahen Osten und die weltweiten Reaktionen darauf sind das bestimmende Thema.  ... Man sieht den geografisch weit von Frankfurt am Main entfernten Konflikt aber auch an den leeren Ständen. Das Institut für Hebräische Literatur ist nicht gekommen. Stattdessen hängt, wo dessen Stand hätte sein sollen, ein Gedicht des deutsch-israelischen Lyrikers Jehuda Amichai: 'The Diameter of the Bomb' steht dort, auf Deutsch 'Der Durchmesser der Bombe'. Andere Länder wie Indonesien und Malaysia sagten auch ihre Teilnahme ab. ... Der Fall Shibli zieht sich sichtbar auch durch andere Hallen der Messe. Im Bereich der internationalen Verlage sieht man hier und da Zettel in den Regalen hängen. 'In Solidarity with Adania Shibli' steht in schwarzen Lettern darauf."

Ziemlich genervt sind Johanna Adorján und Stefan Dimitrov von der SZ davon, wie selbst für ihre kulturelle und intellektuelle Autorität angesehene Verlage auf Social Media ihr Tafelsilber für ein paar Klicks verscherbeln und ihr Publikum marktschreierisch anblödeln, Emoji-Herzchen verteilen und sich fortschreitend infantilisieren. "Hat eine Marktforschung ergeben, dass dies ankommt? Dass alles andere als elitär oder einschüchternd empfunden würde? Nur gibt es eben auch Menschen, die eigentlich nichts dagegen hätten, dass Institutionen wenigstens wirken, als wüssten sie mehr als man selbst. Gerade im Bereich Bücher. ... Der Verlag S. Fischer duzt die Kundschaft und übt sich sonst im Hochseilakt, ausnahmslos alles mit Euphorie zuzuschütten. ... Scrollt man durch den Facebook-Auftritt, ist man in Schweiß gebadet von der Jubel-Permanenz. ... Dabei geht etwas Wunderschönes verloren: dieses Gefühl leichter Überforderung, das uns anspornt, mehr lesen, sehen, lernen zu wollen, um eines Tages auch einmal so viel zu wissen wie die großen und herrlichen Kulturinstitutionen. Kürzer: Es geht unsere Kultur verloren."

Weitere Artikel: Cornelia Geißler spricht für die FR mit Daniel Kehlmann über dessen neuen Roman "Lichtspiel". In der FAZ stellt Fridtjof Küchemann die slowenische Autorin Erica Johnson Debeljak vor. Stefan Brändle spricht im Standard mit den Töchtern der Asterix-Schöpfer Uderzo & Goscinny darüber, wie sie die Comicwelt ihrer Väter pflegen. Gregor Dotzauer war für den Tagesspiegel bei Didier Eribons Frankfurter Vorstellung seines neuen Buches. Judith von Sternburg resümiert in der FR die Abende "Literatur im Römer". Lisa Berins macht sich in der FR Gedanken über KI und Literatur. Aron Bocks schreibt weiter taz-Tagebuch von der Frankfurter Buchmesse. Stefan Michalzik berichtet in der FR von Helge Schneiders Frankfurter Lesung aus seinem neuen Roman. Vor 100 Jahren wurde Otfried Preußler geboren: Joachim Käppner wirft in der SZ ein Schlaglicht auf Preußlers jugendliche Begeisterung für den Nationalsozialismus, die der Autor zwar nie richtig aufgearbeitet hat, aber dafür hinterfragen seine Bücher Autoritäten und Diktaturen. Die SZ spricht mit Mehrdad Zaeri, der die neue Ausgabe von Preußlers "Krabat" illustriert hat. Der Freitag stellt eine Übersicht mit Wissenswertem über Preußler zusammen.

Besprochen werden unter anderem Peter Sloterdijks "Zeilen und Tage III" (Welt) und Tilman Spreckelsens Biografie über Otfried Preußler (Welt, SZ). Außerdem kürt die SZ die besten Comics für den Herbst, darunter Hayao Miayzakis "Shunas Reise".
Archiv: Literatur

Kunst

Sarah Alberti (monopol) trifft sich mit der Fotografin Margret Hoppe, um mit ihr über ihre im Entstehen begriffene Serie von Porträts von Alleinerziehenden zu sprechen. Als selbst alleinerziehende Mutter ist es ihr ein Anliegen, das Thema auch künstlerisch dem Schweigen zu entziehen: "In meinem persönlichen Umfeld gibt es viele alleinerziehende Eltern. Auch über den Kindergarten meines Sohnes und andere Eltern habe ich Kontakt zu Alleinerziehenden bekommen, die sich meiner Anfrage gegenüber fast immer sehr offen gezeigt haben. Über das Netzwerk 'Mehr Mütter für die Kunst' habe ich einen Aufruf gestartet. Daraufhin haben sich binnen kürzester Zeit etwa 15 Familien gemeldet. Auch andere haben offensichtlich das Bedürfnis, das Thema öffentlich zu machen und ins gesellschaftliche Bewusstsein zu rücken. Immerhin 18 Prozent der Familien in Deutschland sind alleinerziehend, sprich das Kind oder die Kinder leben nur mit einem Elternteil zusammen. Gemeint sind explizit Familien, bei denen die Kinder von nur einem Elternteil betreut werden und der andere Elternteil - anders als etwa beim Wechselmodell - abwesend ist. Der Titel der Serie ist daher auch 'Mono-Eltern'. Im Griechischen bedeutet 'mono' so viel wie 'allein' oder 'einzig'. Im Französischen sagt man 'monoparental' zu Alleinerziehenden. Und es erinnert an den Klang einer Musikanlage. Eben nur Mono, nicht Stereo."

Besprochen werden: Die Doppelausstellung zu Franziskus von Assisi und Kiki Smith im Diözesanmuseum Freising (SZ) und die Retrospektive mit Gemälden von Nicolas de Stael im Musée d'Art Moderne in Paris (Welt).
Archiv: Kunst

Bühne

Die Frau ohne Schatten. Bild: Opéra Lyon.
Ein mitreißendes "Opernmonstrum" ist "Die Frau ohne Schatten" von Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss, die an der Oper Lyon von Daniele Rustioni inszeniert wird, meint Joachim Lange in der Neuen Musikzeitung. "In den ersten beiden Aufzügen projiziert er das im Märchenhaften verhaftete Kaiserpaares und das beschwerliche, aber redliche Leben des Färbers Barak auf zwei gesellschaftlich gegensätzliche Sphären. Auf der einen Seite eine sich ritzende Selbstmordkandidatin im Luxus mit Krankenschwestern. Auf der anderen Seite ein prekäres Milieu, in dem der Färber nicht nur drei Brüder mit durchbringen, sondern sich auch mit seiner ausgesprochen kapriziösen jungen Frau rumärgern muss." Ein hervorragend besetztes Stück, das den Kritiker in seiner Düsternis auch deshalb überzeugt, "weil die eindrucksvoll vollgebaute Drehbühne mit ihrer Zweiweltenbehausung um ein (metaphorisches) Palmenparadies der Spagat zwischen psychologisierend Märchenhaft hier und derb realistisch dort mit dunkler Opulenz gelingt. Über allem schwebt von Beginn an ein gewaltiger Felsblock, der ebenso auf die dem Kaiser angedrohte Versteinerung wie auf Keikobad verweisen mag. Der befindet sich später wie aufgebahrt darunter, wenn seine Tochter ihn anfleht. Er kehrt sogar wie eine erweckte Mumie ins Leben zurück. Das bleibt in der sich auflösenden Bühnenwelt aber eher eine Imagination der Kaiserin auf dem Weg zu sich selbst. Und diesmal in ihre Einsamkeit."

"'In der Schule habe ich etwas über Konsens gelernt, über diverse Genitalien, über Lust, über queeren Sex.' So beginnt das Stück 'LECKEN' des freien Performancekollektivs 'CHICKS*',beschreibt Zain Salam Assaad in der taz den Beginn eines Stücks, das nun auf dem Theaterfestival Plauen-Zwickau nicht aufgeführt werden kann. Die Performance "soll Jugendliche ab 14 aufklären und sexuell weiterbilden. Dafür sitzen zwei Performer*innen mit dem Publikum in einem Stuhlkreis. Zuschauende halten grüne und rote Lichter in den Händen und beantworten damit die Fragen rund um Körper und Sexualität. Zwischendurch laufen Popsongs über Oralsex, Menschen erzählen in Videos von ihren sexuellen Erfahrungen." Ob die Absage wirklich finanzielle Gründe hat oder vielleicht doch eher wegen Druck von Rechts zustande kam, kann Assaad nicht sagen, ist sich aber sicher: "CHICKS* ist ein Flinta-Kollektiv, das daran arbeitet, in der Schule vernachlässigte Fragen zu Sexualität, Queerness und Geschlecht zu beantworten...Doch die Absage ist ein Zeichen dafür, dass es um queere Kultur gerade in Sachsen schlecht bestellt ist. Mit Blick auf die große Zustimmung zur AfD dort könnte sich das Problem in Zukunft noch deutlich verschärfen."

"Im Theater unterm Dach ist eine bizarre Parallelgesellschaft zu besichtigen. Die Gruppe Polyformers lädt zu einer 'interaktiven Reise ins Reichsbürger-Land' ein - so der Untertitel ihres Erlebnisabends 'König von Deutschland'. Der widmet sich einer real existierenden Fantasie-Nation, über die ein gewisser Peter Fitzek seit 2012 als oberster Souverän herrscht", führt Patrick Wildermann im tagesspiegel ein in einen Theaterabend über "Selbstverwalter, Aussteiger und Schwurbler." Er findet: "'König von Deutschland' funktioniert glänzend als Aufklärungs-Parcours aus performativen Szenen und Selbstbildungsangeboten", der ihm klarmacht: "Man hat es bei Reichsbürger:innen nicht mit lustigen schrägen Vögeln zu tun. Sondern mit gefährlichen Ideolog:innen."

Weiteres: Das Wiener Burgtheater hat eine Klimabilanz aufgestellt (taz), "party in a nutshell" wird am Staatstheater Braunschweig aufgeführt (taz) und die FR interviewt die Sopranistin Adriana Gonzáles aus Guatemala.
Archiv: Bühne

Musik

Würzburg hat sich in den letzten Jahren still und heimlich zu einem Hotspot für Neo-Krautrock, Hauntology und artverwandte Musik entwickelt, staunt Christian Schachinger im Standard. Die Compilation "Gespensterland" verschafft einen Überblick über das Schaffen von Bands und Projekten wie unter anderem Brannten Schnüre, Baldruin und Freundliche Kreisel. Halluzinogene Drogen werden fürs vollendete Hörerlebnis empfohlen: "Teilweise ertönen in den Stücken durchaus Hinweise auf die Einnahme narrischer Schwammerln, im Falle von Brannten Schnüre etwa bei einer tonlos im Drogennebel singenden Jungscharleiterin, zu der im Hintergrund altertümliche, aus der Kreistanz- und Singkreis-Szene bekannte Instrumente wie Pumporgel, Drehleier, Flöten und Klanghölzer durch den Garageband-Fleischwolf im Laptop gedreht werden. ... Hingewiesen sei noch auf das Solowerk von Christian Schoppik alias Läuten der Seele. Er veröffentlichte 2022 das angenehm verstörende Ambient-Album 'Die Mariengrotte als Trinkwasseraufbereitungsanlage'. Pflicht! Ja, in Würzburg scheint es lustig wie in einem psychedelischen Comic von Eugen Egner zuzugehen: Glücklich ist, wer vergisst, dass er nicht zu retten ist." Hier ein Eindruck:



Weiteres: Maxi Broecking (taz), Harry Nutt (FR) und Gregor Dotzauer (Tsp) schreiben Nachrufe auf die Jazzerin Carla Bley (weitere Nachrufe hier). Besprochen werden das neue Album von Sufjan Stevens (taz), Peter Kempers Buch "The Sound of Rebellion - Zur politischen Ästhetik des Jazz" (Welt), das neue Album der Rolling Stones (Standard, FAZ), ein Jazzkonzert von Jeff Goldblum in Wien (Standard) und das Debütalbum der Schweizer Musikerin Priya Ragu (TA).
Archiv: Musik