Efeu - Die Kulturrundschau

Todessatte Klänge

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18.09.2023. Die SZ hört in einem Berliner Flugzeughangar mit Hans Werner Henzes Oratorium "Das Floß der Medusa", wie eine Revolution entsteht. Die Welt unterhält sich mit der Autorin Natalja Kljutscharjowa über ihre Flucht aus Russland. Die FAZ hört Geister von Staaten streiten in Marina Davydovas theatraler Freiburger Installation "Museum of Uncounted Voices". Die Berliner Zeitung gerät beim Atonal Festival in der Ausstellung "Universal Metabolism" in Trance
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.09.2023 finden Sie hier

Musik

Szene aus Henzes "Floß der Medusa". Foto: Jaro Suffner


Am Wochenende wurde auf dem Berliner Flughafen Tempelhof von der Komischen Oper Hans Werner Henzes Oratorium "Das Floß der Medusa" gegeben. Tobias Kratzer setzte dafür die Szene mit einem großen Wasserbassin inmitten der Publikumsreihen. Nett, aber hätte man auch drauf verzichten können, meint Wolfgang Schreiber in der SZ. Henze hat hier eine wahre Begebenheit vertont, erinnert er: Als 1816 die Militärfregatte "Meduse" unterging, retteten sich die Offiziere in die Beiboote und überließen "154 Unterschichtsmenschen" auf einem Floß ihrem Schicksal. Henze "hat daraus ein packendes Diskursoratorium gemacht mit dunklen und todessatten Klängen, mit fulminantem Chor und nur drei Protagonisten. Für Henze ist der Fall ein Musterbeispiel für das Entstehen von Revolutionen." Die Botschaft kam an, was das Publikum "im Schlussjubel für die Sänger und Musiker beweist, die Henzes emotional aufpeitschende, aber durchaus avantgardistischen Klangfindungen nie als nur ästhetisch gelungen, sondern immer auch als humanitäre Botschaften beglaubigen. Das gilt für Dirigent Titus Engel, der das Orchester im viel zu großen Hangar trotzdem zu feinsten Differenzierungen anleitet." In der Berliner Zeitung schreibt Peter Uehling zur Aufführung, im Tagesspiegel liefert Isabel Herzfeld die Kritik.

Weitere Artikel: Sarah Johanna Theurer resümiert im Tagesspiegel das Berliner Atonal Festival. Swantje Karich unterhält sich für die Welt mit der Songwriterin Arlo Parks anlässlich ihrer Europatournee über deren Gedichte und Songs. In der Welt postet Manuel Brug einen Verzweiflungstweet der Münchner Philharmoniker, die mit der Deutschen Bahn zu einem Konzert nach Berlin wollten und dort mit 4,5 Stunden Verspätung ankamen.


Besprochen werden das Antrittskonzert des neuen Frankfurter Generalmusikdirektors Thomas Guggeis in der Alten Oper mit einer Uraufführung von Lucia Ronchetti und Mahlers Siebter (FR), eine Ausstellung zur DDR-Tournee von Louis Armstrong 1965, an die das Minsk in Potsdam erinnert (taz)
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Kunst

Ausstellungsansicht "Universal Metabolism". Foto: Berlin Atonal.

Wie in Trance fühlt sich Thomas Oberender (BlZ) in der Ausstellung "Universal Metabolism", die im Rahmen des Atonal-Festivals im Kraftwerk Berlin gezeigt wird. Die Objekte der Schau "warten hier nicht in scheinbarer Neutralität, sondern werden aktiv, erscheinen und verschwinden." Mit den Werken von fast dreißig Künstlern machen die Kuratoren die Veränderung von Körpern und Systemen nicht nur sicht-, sonder erfahrbar, so Oberender. Vor allem beeindruckt ihn eine Arbeit von Romeo Castellucci: "Am Rande einer Bühne bewegt sich im Dämmerlicht eine Figur, die eine Kerze entzündet. Ihre tänzerischen Bewegungen erstarren plötzlich in einer Geste des Lauschens in den Saal, worauf sich auf der Leinwand hinter der Figur die Sprache entzündet. Dieser Moment ist der Auftakt der Arbeit 'The Third Reich'... Es lässt auf einer riesigen Leinwand einen sich konstant beschleunigenden Strom aller Substantive eines Wörterbuchs erscheinen, also von allem, was in der Welt einen Namen hat. Dieser Fluss der Wörter folgt dem Takt der Musik Scott Gibbons und liegt pro Wort im Bereich einer Zwanzigstel Sekunde. Bald übersteigt das Tempo die Grenzen des menschlichen Wahrnehmungsvermögens und wird zum hypnotischen Rausch, eine Erfahrung, die Arthur Jaffa ähnlich eindringlich mit seinem Bilderstrom 'Apex' erzeugt hat."

Weitere Artikel: Welt und FAZ schreiben Nachrufe auf den Künstler Fernando Botero. In der Berliner Zeitung unterhält sich Tomasz Kurianowicz mit dem Chef des neuen Fotografiska-Museums Yoram Roth.

Besprochen werden die Ausstellung "Voicing Bethanien ein Ausstellungsort im Kontext" im Kunstraum Kreuzberg/Bethanien (taz), die Ausstellung "Nachts" mit Fotos aus der Berghain-Szene im Veranstaltungsort AchtBerlin (taz), die Ausstellung "Luc Tuymans - Edith Clever" in der Akademie der Künste in Berlin (FAZ), die Ausstellung "Edvard Munch. Zauber des Nordens" in der Berlinischen Galerie (FAZ).
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Film

Reiner Wandler berichtet in der taz über einen Streit beim Filmfestival San Sebastian um einen Dokumentarfilm über die baskische Terrororganisation ETA, der zum größten Teil aus einem Interview des Journalisten Jordi Évole mit dem 72-jährigen Josu Urrutikoetxea besteht, "Kampfname Josu Ternera, der in Frankreich lebt und unter Auflagen auf ein Verfahren wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung wartet", so Wandler: "'Weißwaschung des Terrorismus' sei der Streifen, beschweren sich 514 Unterzeichner eines Manifestes. Philosoph Fernando Savater, Schriftsteller wie Félix de Azúa oder Fernando Aramburu, Journalisten, Uniprofessoren und Angehörige von ETA-Opfern fordern die Absetzung des Dokumentarfilms. Die Festivalleitung will davon nichts wissen. ETA und Gewalt sei von jeher ein Thema auf dem Festival gewesen."

Besprochen werden Torsten Rüthers Boxerdrama "Leberhaken" (FR), Paul B. Preciados Filmessay "Orlando, meine politische Biografie" (taz) und Steffi Niederzolls Doku "Sieben Tage in Teheran" (Tsp).
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Stichwörter: ETA, Orlando, Savater, Fernando

Literatur

Richard Kämmerlings besucht für die Welt die russische Exilautorin Natalja Kljutscharjowa im Flüchtlingsheim und unterhält sich mit ihr über ihr gerade erschienenes "Tagebuch vom Ende der Welt" - "ein bedeutendes, erschütterndes Dokument des russischen Alltags aus der Sicht einer mutigen Frau und alleinerziehenden Mutter, die darüber verzweifelt, dass so wenige gegen das lügenhafte System protestieren und den Wahnsinn des Angriffskriegs und seiner Verbrechen für normal halten", so Kämmerlings, und ihre Flucht. Schweigen wäre für Kljutscharjowa keine Option gewesen: "Ich hatte die Hoffnung, dass sie sich nicht für Bücher oder Literatur interessieren würden. Es ist unmöglich, sich unentwegt zu verstecken. Ich bin Schriftstellerin, es ist essenziell für mich, zu veröffentlichen. Ich muss mit Menschen reden, ich kann nicht nur Selbstgespräche führen wie eine Verrückte. Aber einen solchen Text zu publizieren, ist heute in Russland unmöglich."

Mit Martin Walsers Tod haben wir mehr verloren als einen Schriftsteller, denkt sich ein wehmütiger Hilmar Klute (SZ) bei der Gedenkfeier für Walser in Stuttgart: "Die Technomucke von der Stuttgarter Fußgängerzone unterlegt die Ansprachen und die Violoncello-Bemühungen des Musikerpaares Julius und Hyun-Jung Berger. Das eine verschwindet im anderen, Trauerfeiern wie diese in Stuttgart sind letzte freundliche Ausleuchtungen untergegangener Epochen, besonders wenn eine Jahrhundertfigur wie Walser als Chronist jener alten Bundesrepublik verabschiedet wird." In der FR berichtet Martin Oehlen.

Im Interview mit der SZ erklärt Ingo Schulze, seine Korrekturliste zu Charlotte Gneuß' Roman "Gittersee" nicht geheim gehalten zu haben. Warum auch? "Die Ost-West-Debatte steht ja weiterhin im Raum. Ein Grund dafür ist meiner Ansicht nach die Frage nach der Deutungshoheit. Dass so etwas wie meine Anmerkungen, die jedem Leser meines Alters aus dem Osten auffallen könnten, überhaupt den Anschein erweckt, etwas substanziell Anstößiges zu markieren oder selbst anstößig zu sein, ist vielleicht auch ein Indiz für eine gewisse Schieflage." Und: "Gittersee" ist nicht das einzige Buch auf der Longlist des Deutschen Buchpreises, das in einer Zeit und an einem Ort spielt, den die Autoren nicht selbst kannten, erinnert in der Berliner Zeitung Cornelia Geißler.

Besprochen werden Laurent Mauvigniers Roman "Geschichten der Nacht" (FR), Maxim Billlers Roman "Odessa" (Tsp) und Hörbücher in der FAZ, darunter zu Tijan Silas Bosnienroman "Radio Sarajevo" erzählt, Katherine Mansfields "In einer deutschen Pension", gelesen von Nina Hoss, und Poes Erzählung "Hinab in den Maelström", gelesen von Christian Brückner.
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Bühne

Szene aus "Museum of Uncounted Voices". Foto: Viktoria Nazarova.

FAZ
-Kritikerin Kerstin Holm verfolgt gebannt, wie in Marina Davydovas theatraler Installation "Museum of Uncounted Voices" im Theater Freiburg, die "Geister von Staaten, aber auch von Verfolgten temperamentvoll auf der Bühne streiten". Die Exilrussin Davydova setzt sich mit der Geschichte der Sowjetunion auseinander, so Holm, dafür erweckt sie auf der Bühne einen Museumsraum zum Leben, in dem sich die Stimmen unterschiedlicher Länder über die "richtige Version" der Historie streiten und dabei versuchen, die Schauspielerin Marina Weiß zu belehren. Davydova, die als Kind aus Aserbaidschan nach Moskau, dann nach dem russischen Angriff auf die Ukraine wegen Drohungen auch von dort fliehen musste, verhandelt hier auch ihre eigene Geschichte, weiß Holm: "'Davydovas 'Museum' zerlegt die Gewissheiten, Gruppenansprüche aufgrund von einstiger Größe, aber auch der Opferstatus infolge Gruppenzugehörigkeit werden desavouiert. Authentisch erscheint allein das Einzelschicksal, wie die monologische Schlussszene unter dem Titel 'Person' anhand der Biographie der Autorin vorführt. Weis rekapituliert Davydovas späten Besuch in Baku, wo sie ihre Geburtsurkunde erneuern will, wo der Friedhof, auf dem ihre Eltern lagen, zerstört ist und wo die Behörden die Halbarmenierin nicht kennen wollen."

Anna Netrebko hatte am Freitag abend ihren ersten Auftritt als Lady Macbeth an der Berliner Staatsoper: SZ-Kritiker Wolfgang Schreiber fand sie stellenweise "seltsam blass" und kann sich auch nicht von der Frage lösen, ob die Staatsoper wirklich auf dieser Besetzung bestehen musste. Auf Zeit online hat Dirk Peitz Verständnis für die Demonstranten vor der Tür: "Doch ändert auch das nichts daran, dass an diesem Abend in Berlin eine Frau eine Gesangsdarbietung vollführt hat, wie man sie selten zu Gehör bekommt. Die Kunst, so kann man es ebenfalls sehen, steht in einer derartigen Perfektion auch immer für sich." Mehr dazu in der Berliner Zeitung und der NZZ.

Besprochen werden Kay Voges Inszenierung von "Gameshow für Österreich" am Volkstheater Wien (SZ), Olivia Hirsts und David Byrnes Stück "The Vanishing Room" am English Theatre Frankfurt (FR), Kristo Šagors Adaption von George Orwells Roman "1984" inszeniert von Jörg Wesemüller am Staatstheater Darmstadt (FR), Clemens Bechtels und David Gieselmanns Stück "Das Ministerium" am Staatstheater Wiesbden (FR), Alexander Eisenachs Inszenierung von "Weltall Erde Mensch" am Deutschen Theater Berlin (tsp, BlZ, nachtkritik), Frank Castorfs Inszenierung von  Modest Mussorgskys Oper "Boris Godunow" an der Hamburgischen Staatsoper (taz, nachtkritik), Stefan Ottenis Inszenierung von "Give Peace a chance" nach Friedrich Schillers Stück "Wallenstein" am Theater Münster (nachtkritik), Robert Pienz Inszenierung von Michael Köhlmeiers Neufassung von "Antigone" am Schauspielhaus Salzburg (nachtkritik).
Archiv: Bühne