Efeu - Die Kulturrundschau

Zeitungen von gestern

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.07.2023. Die FAZ  ist hin und weg von Børre Sæthres liegendem Einhorn im Astrup Fearnley Museum in Oslo. Die FR lernt aus einer neuen Biografie, wie weit die DDR-Schriftstellerin Brigitte Reimann ihrer Zeit voraus war. Die taz lässt sich nicht täuschen: Greta Gerwigs "Barbie" ist alles andere als feministisch. Die Feuilletons schicken Mick Jagger zum Achtzigsten süße und vergiftete Geburtstagsgüße.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.07.2023 finden Sie hier

Kunst

Installationsansicht Børre Sæthre "My Private Sky", 2001. Foto: Christian Øen © Astrup Fearnley Museet.

Das Astrup Fearnley Museum in Oslo zeigt zu seinem 30. Jubiläum eine komplexe und selbstreflektierte Ausstellung, freut sich FAZ-Kritiker Stefan Trinks. Hin und weg ist er von Børre Sæthres Werk "My Private Sky": "Die atemnehmende Installation entstand bereits im Jahr 2001, wurde seither aber nie wieder aufgebaut oder auch nur in Teilen öffentlich gezeigt. Durch einen panoramafensterartigen Schlitz in der Wand sieht man in den lang gestreckten, mit weißen Rippen aus Milchglas und blauen Stoffbahnen ausgekleideten Raum dahinter, wo ein natürlich echtes lebensgroßes Einhorn auf dem Boden dieses azurnen Unendlichkeitsraums im Begriff ist sich aufzurappeln. Durch das Momentum der Bewegtheit des gehörnten Sagentiers und das Versprechen seiner Authentizität spiegelt Sæthre die Aufbruchshoffnungen seiner Community um die Jahrtausendwende. Und besiegt alle mit der unstillbaren Sehnsucht nach freier Phantasie, denn jeder und jede betritt diesen Raum, wird von dem atmenden Tier fixiert und lässt es mit sich geschehen."

Aus dem Foyer der Europa-Universität in Flensburg wurde eine Skulptur des Bildhauers Fritz During entfernt. Weil der nackte Frauenstatue überholte Bilder von Weiblichkeit bediene, ersetzte man ihn durch ein Fragezeichen in Regenbogenfarben. NZZ-Kritikerin Birgit Schmid schüttelt den Kopf: "Durings Frauenstatue weckt Phantasien und provoziert Deutungen. Man findet sie schön und anmutig, oder sie gefällt einem nicht, und man nimmt Anstoß. So wie es Aufgabe der Kunst ist. Dass ein buntes Fragezeichen einen Denkprozess in Gang setzt, muss man nicht befürchten. Es macht buchstäblich ratlos." In der SZ kritisiert Hilmar Klute beide Seiten der Debatte: "Interessant ist nur, dass die erbosten Kunstbewahrer bei jedem Eingriff in den öffentlichen Raum die gesamte Kulturgeschichte der Barbarei aufrufen, während die moralischen Verräumer sich kaum Gedanken über den Kunstcharakter der anstößigen Torsi und misogynen Körperdarstellungen machen."

Weitere Artikel: Stefan Trinks meldet in der FAZ, dass die Bayerische Landesbank das Kandinsky-Bild "Das bunte Leben", das von der Beratenden Kommission als NS-Raubkunst eingestuft wurde, an die Erben der Familie Lewenstein zurückgeben wird.

Besprochen werden die Ausstellung "Paco Knöller - Unter mir der Himmel" in der Hilti Art Foundation in Vaduz (FAZ), die Ausstellung "Before Tomorrow" im Astrup Fearnley Museet in Oslo (FAZ), die Ausstellung "Berliner Kontraste (2004-2015). Fotografien von Frank Silberbach und Nikolas von Safft." im Stadtmuseum/Ephraim Palais in Berlin (Tagesspiegel), die Ausstellung "Pathos and the Twilight of the Idle" mit Werken von Michael Armitage im Kunsthaus Bregenz (Standard).
Archiv: Kunst

Literatur

Cornelia Geißler spricht in der FR mit dem Literaturwissenschaftler Carsten Gansel über die DDR-Schriftstellerin Brigitte Reimann, über die er eben eine Biografie veröffentlicht hat. Damit ging es ihm auch darum zu zeigen, "dass Brigitte Reimann schon in den Fünfzigerjahren an Punkten war, wohin andere erst viel später gelangten. Vieles, was modernes Erzählen ausmacht, finden Sie in ihren frühen Texten, auch in 'Joe und das Mädchen auf der Lotusblume', dem anderen erst 2003 veröffentlichten Romanfragment. Es ist berührend und aufstörend zugleich zu sehen, wie viel weiter sie war als das Literaturverständnis, das die Gesellschaft damals hatte. Sie ist ihrer Zeit schlichtweg voraus. Wenn ich das sage, nimmt das Christa Wolf nichts von ihrer Größe, von der es mit Recht heißt, dass 'Juninachmittag' und 'Nachdenken über Christa T.' so etwas wie die Gründungsurkunde der neueren, der modernen DDR-Literatur sind."

Die syrische Lyrikerin Lina Atfah erklärt auf ZeitOnline, warum Menschen sich dazu entschließen, unter lebensgefährlichen Bedingungen aus ihrer Heimat zu fliehen. Ihre eigene Mutter war über das Meer und die Balkanroute geflohen. "Wenn eine Tragödie Menschen knetet, verändern sich sogar ihre Gesichtszüge - und etwas tief unten in den Seelen verschiebt sich für immer. Meine Mutter erzählt, das Gummiboot sei sehr eng und überfüllt gewesen, aber die Gruppe habe die ganze Zeit gesungen. Ihr Gesang klang wie ein Geschrei, das vom Rauschen der Wellen in der Dunkelheit ablenkte. Meine Mutter erinnert sich, wie ihr auf der Reise die Füße schmerzten, sie erinnert sich an die extreme Kälte. Sie habe so eine Kälte in ihrem Leben noch nie erlebt, und wenn ihr Körper ihr heute wehtut, sagt sie, es sei die Kälte der Balkanroute."

Besprochen werden unter anderem Emma Clines "Die Einladung" (Standard), Mirko Bonnés "Alle ungezählten Sterne" (Tsp) und Eva Viežnaviecs "Was suchst du,Wolf?" (FAZ).
Archiv: Literatur

Film

"Der im Vorfeld befürchtete Exodus von US-Filmen hat letztlich nicht stattgefunden", kommentiert Valerie Dirk im Standard unter den Eindrücken des aktuellen Doppel-Streiks in Hollywood das gestern bekannt gegebene Programm von Venedig, mit dem das Festival am Lido seinen 80. Jahrgang feiert. Die Namen sind schon mal sehr dekorativ: "Mit Sofia Coppola, David Fincher, Ava DuVernay, Bradley Cooper (über Leonard Bernstein) und Michael Mann (mit seinem Ferrari-Biopic 'Enzo') ist die amerikanische Filmindustrie sogar so stark wie lange nicht mehr in der Konkurrenz um den Goldenen Löwen vertreten", schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel. "Dass Venedig sich aber auch in puncto Arthousekino von Cannes nicht den Schneid aufkommen lässt, zeigen die Nominierungen der neuen Filme von Giorgos Lanthimos mit Emma Stone, Mark Ruffalo und Willem Dafoe und Pablo Larraín über einen vampirischen Augusto Pinochet. Bleibt nur die Frage, ob bis zur Eröffnung am 30. August die Streiks beigelegt sind. Sonst wird das Festival, wie schon zur Pandemie-Edition 2020, eine rein europäische Angelegenheit. Angesicht des Jubiläums eine traurige Aussicht." Felicitas Kleiner vom Filmdienst könnte es verschmerzen: "So wichtig das Schaulaufen ist, das Gesicht eines Festivaljahrgangs enthüllt sich nicht im Blitzlichtgewitter der Fotografen, sondern im dunklen Kinosaal."

Tazlerin Valérie Catil lässt sich keinen Bären und erst recht keine Barbie aufbinden: "Barbie" (unsere Kritik) rettet das Kino und den Feminismus obendrein? Denkste! "Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: 'Barbie' wird dazu führen, dass der Kinosarg noch früher zugenagelt wird. Der Film hat zwar ein paar lustige Momente und kluge Gedanken, die einen erfreuen könnten, wenn man sich nicht sofort darüber klar würde, dass das Skript von Mattel abgesegnet ist. 'Barbie' zeigt, dass Produktfilme eine absurde Popularität erlangen und die Handlung dafür vernachlässigt werden kann. Dass sich die Regisseurin Greta Gerwig, die einst der Indie-Bubble angehörte, für diesen Film verkaufte, hinterlässt einen bitteren Beigeschmack. Alles Antikapitalistische, alles Feministische, alles Konsumkritische von irgendeinem Mattel-Image-Heini genehmigt, weil seine Marktanalyse ergab, dass genau das von den Konsument*innen dankend verschlungen wird."

Außerdem: Indische Hinduisten protestieren gegen eine Sexszene in Christopher Nolans "Oppenheimer", in der aus der Bhagavad Gita vorgelesen wird, berichtet David Steinitz in der SZ unter Berufung auf den Guardian. FAZ-Kritikerin Sandra Kegel treibt sich mit Ruben Östlunds Cannes-Gewinner "Triangle of Sadness" (unsere Kritik) die Lust auf Kreuzfahrten aus. Besprochen werden Danny und Michael Philippous Horrorfilm "Talk to Me" (taz), der Disney-Kinofilm "Geistervilla" (Tsp), das auf Disney+ gezeigte Comeback von "Futurama" (ZeitOnline) und die Disney-Serie "Große Erwartungen" nach Charles Dickens (TA).
Archiv: Film

Bühne

"7 Todsünden" bei den Volksschauspielen in Telfs © TVS / Victor Malyshev© TVS / Victor Malyshev

Einen "wilden" und "unverblümten" Volkstheater-Abend hat SZ-Kritiker Egbert Tholl mit den vom neuen Intendanten Gregor Bloéb inszenierten "7 Todsünden" bei den Tiroler Festspielen erlebt. Bloeb hat neun bekannte Autoren mit den Texten beauftragt, unter ihnen David Schalko, Helena Adler und Lisa Wentz. Nicht alles an diesem Abend ist überzeugend, meint Tholl, aber er hat es in sich: "Zu Gregor Bloébs Volkstheaterverständnis gehört offenbar auch das Raue und Rohe, das Wüste und Grelle. Das passt. Seine Inszenierung ist überbordend in jeder Hinsicht, pralles Theaterleben, mal brillant, mal kaum zu ertragen. Alle Mittel werden bedient. Teil 6 ist ein Ballett von Marie Stockhausen, das 'Neid' als Eifersuchtsdrama zwischen zwei Männern und zwei Frauen erzählt, der Epilog ist ein Film von Hubert Sauper, der das Elend der Menschheit erzählt..."

Besprochen werden Jay Scheibs Inszenierung von Wagners "Parsifal" bei den Bayreuther Festspielen (nachtkritik) und Michael Sturmingers Inszenierung von "Jedermann" bei den Salzburger Festspielen (Welt). Andreas Homokis Inszenierung von Puccinis "Madame Butterfly" und Lotte de Beers Inszenierung von Verdis "Ernani bei den Bregenzer Festspielen (NZZ).
Archiv: Bühne

Musik

Mick Jagger 1965. Foto: Olavi Kaskisuo / Lehtikuva unter cc-Lizenz
Die Feuilletons gratulieren Mick Jagger zum 80. Geburtstag. Dessen "berauschende Vitalität" hat ihn "zum Halbgott gemacht", schwärmt Ueli Bernays in der NZZ. "Dazu gehört auch die androgyne Spielerei, mit der er den Körper aus der Gestik des Machismo gelegentlich in jene fluiden Sphären entlässt, wo schiere Lust über geschlechtliche Grenzen schäumt. Dann wandern die schwärmerischen Blicke von Abertausenden von Fans über den ausgemergelten Torso hinauf, um sich an das von wilden Strähnen gerahmte, von der breiten Nase dominierte Gesicht zu klammern. Aus den Augen grinsen Spott und Verführung. Die hungrigen, fleischigen Lippen aber machen sich ans Mikrofon heran, als wollten sie es verschlucken." Vergiftete Geburtstagsgrüße schickt Klaus Walter in der taz: Die Stones? Im Grunde seit 1972 ein einziges Selbstplagiat. Deren Musik? Angeeignet. Jaggers Texte? "Dem Studenten der Wirtschaftswissenschaften und späteren Bewunderer von Margaret Thatcher verdanken wir den dümmsten Rocksong, der je über Rock geschrieben wurde. 'It's only Rock but Roll and I like it' singt Jagger 1974 und spricht damit all jenen aus der Seele, die Pop schon immer für überschätzt hielten. ... Auf jedes 'Street Fighting Man' kommen nun mal drei 'Out of Time' (Baby du bist passé), auf jedes 'Sympathy for the Devil' ein 'Stupid Girl', ein Racheporno wie 'Under my Thumb' oder ein 'Yesterday's Papers'. Da werden Mädchen in puncto Gebrauchswert und Verfallsdatum mit den Zeitungen von gestern gleichgesetzt." Mehr zu Jagger schreiben Michael Pilz (Welt) und Edo Reents (FAZ).

Besprochen wird ein Album von Keith Jarrett mit Live-Aufnahmen aus dem Jahr 1994 von Arbeiten von Carl Philipp Emanuel Bach ("die Musik hebt bisweilen auch poetisch ab", freut sich Ljubisa Tosic im Standard).

Archiv: Musik