Efeu - Die Kulturrundschau

Bäuchlings durch die Dinghalde

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.10.2014. "Schlucken Sie die Aprikosen und die Pfirsiche / Und die Klingen des Rasierers / Erstaunen Sie mich!" Slate.fr erinnert sich an die Chansontexte, die Patrick Modiano einst für Francoise Hardy schrieb. In der NZZ erklärt der französische Autor Mathias Enard, warum er lieber dokumentarische Romane als literarische Reportagen schreibt. Die Theaterkritiker suchen den Reflexionsraum in Anne Lenks Inszenierung von Ernst Tollers "Hoppla, wir leben!". Die Welt sucht in der Bremer Kunsthalle nach der Energie Jason Rhoades. Die SZ erliegt der abgründigen Dialektik der Luisa Casati.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.10.2014 finden Sie hier

Literatur

Aufmacher der Literarischen Welt ist ein Auszug aus Patrick Modianos 2012 erschienenem Roman über das Paris der sechziger Jahre, "Im Café der verlorenen Jugend". Der Text ist mit einem wunderbaren Foto des jungen Modiano illustriert, der mit Françoise Hardy über einen See rudert.

Und damit hat es etwas auf sich: Als Jungschnösel aus der Hypokhâgne (was ist das?) hatte Modiano zwar noch über die yéyé-Generation hergezogen. Aber dann stellte ihm ein Klassenkamerad die schönste jemals existiert habende französische Schlagersängerin aller Zeiten, Françoise Hardy vor, und selbstverständlich verfiel er ihrem Charme und schrieb ihr den Text für die B-Seite einer Single, "Étonnez-moi, Benoît" mit einem leicht prätenziösen Text ("Avalez des abricots et des poires/Et des lames de rasoir/Étonnez-moi". Jean-Marie Pottier erklärt in Slate.fr die näheren Umstände und zitiert aus Hardys Memoiren: "Eines Tage hatte eine deutsche Fernsehshow die Idee, dass ich jemand präsentiere, den ich auf originelle Weise kennengelernt hatte. Auf Modianos Fantasie ist Verlass, und so dachte er sich schnell ein Szenario aus, nach dem wir uns auf einer Beerdigung kennenlernten und dort zu unserem Erstaunen feststellten, dass wir die selbe Amme hatten. Wir seien also Milchgeschwister gewesen. Danach widmete er mir seine Bücher mit "Dein Milchbruder"."

Hier Modianos Chanson:



Sieglinde Geisel unterhält sich in der NZZ mit dem französischen Autor Mathias Enard, der in seinen Romanen "Zone" und "Straße der Diebe" dokumentarische Methoden verwendet und erklärt, wozu ihm Fiktion dient: "Sobald ich das Wort Reportage" verwende, kann ich keine fiktiven Elemente mehr einführen. Im Roman habe ich mehr Freiheit. Zwar verändere ich die Elemente der Wirklichkeit nicht, aber ich stelle sie anders zusammen."

Der stationäre Buchhandel ist gerettet! Wenn auch nur in der Literatur, wie Thomas Schäfer in der Jungle World nach Durchsicht einiger Neuerscheinungen feststellt: "Zufall, Trend? Es ist zumindest frappierend, dass in den Herbstvorschauen erstaunlich viele auf erstaunlich austauschbare Weise angepriesene Romane vertreten sind, die erstaunlich ähnliche Geschichten erzählen; nämlich davon, wie ein mutiger (in der Regel weiblicher) Mensch einen "Buchladen zum Verlieben" gründet." Passend dazu und ebenfalls zum Verlieben: Eine Bilderstrecke beim Guardian mit lauter tollen Buchhandlungen.

Weitere Artikel: In der FAZ gratuliert Helmut Mayer dem Verlag Matthes & Seitz zum zehnjährigen Bestehen: "Ein Verlag, wie man ihn sich wünscht, offen für vielfältige Entdeckungen, die sich doch zu einem Gesamtprogramm fügen." In der taz erinnern sich der in der DDR aufgewachsene Autor Jochen Schmidt und der im Westen aufgewachsene Schriftsteller David Wagner an ihre Eindrücke vom jeweils anderen Deutschland. Andreas Fanizadeh plaudert mit dem Schriftsteller Andrej Kurkow über dessen Roman "Jimi Hendrix live in Lemberg" und im Zuge dessen unter anderem übers Hippie-Dasein in der Sowjetunion und die Situation in der Ukraine. Katharina Granzin porträtiert die in Finnland gefeierte Autorin Katja Kettu. Im Freitag führt Solveig Scholz durch die wichtigsten Werke der finnischen Literaturgeschichte. Andrea Diener berichtet in der FAZ von den Diskussionen auf der Frankfurter Buchmesse.

Besprochen werden unter anderen Marcel Beyers neuer Gedichtband "Graphit" (dem Gisela Trahms in der Welt eine hingerissene Kritik widmet), Liao Yiwus Buch "Gott ist rot" über die Christenverfolgung in China (Welt), ein Bildband von Bodo Plachta über Künstlerhäuser (Welt), das Romandebüt "Verzehrt" des Filmregisseurs David Cronenberg (taz), Lutz Seilers mit dem Buchpreis ausgezeichneter Roman "Kruso" (Jungle World, mehr), Kitty Kahanes Comic über die Wendezeit "Treibsand" (Tagesspiegel), Mooses Mentulas "Nordlicht - Südlicht" (FR), ein Sammelband über Walther Rathenau (Berliner Zeitung), Ulf Erdmann Zieglers "Und jetzt du, Orlando!" (SZ) und Stephanie Barts "Deutscher Meister" (FAZ).
Archiv: Literatur

Musik

Sehr toll findet Sophie Jung in der taz das neue Album der Chicks on Speed "Arstravaganza", das wie schon die Vorläufer "aus einem ausgetüftelten Gerüst aus Referenzen zusammengesetzt" ist: "Dass ihre Musik trotz Uplifting-Sound beim Mainstream wohl unverstanden bleibt, wissen die beiden, umso mehr konzentrieren sie sich auf die Kunstwelt. ... Chicks On Speed wollen das totale Kunstwerk, quietschig, punkig, revoltierend, schreiend und ausstellbar. "The empire had me for lunch"!" Spex präsentiert dazu das neue Video:



Weitere Artikel: Auf ZeitOnline referiert Tilman Steffen die Geschichte der Rockmusik-Zensur in der DDR. Die Berliner Philharmoniker und Simon Rattle begeisterten eine Woche lang New York, berichtet Peter Richter in der SZ und reicht Klagen weiter, wonach die Streicher ihre teuren, mit Elfenbein versehenen Bögen wegen neuer Einfuhrbedingungen zu Hause lassen und auf günstig vor Ort erstandener Billigware spielen mussten. Tsss.

Besprochen werden der Berliner Auftritt von Lady Gaga (Tagesspiegel, Berliner Zeitung, Welt), das Soloalbum von Kele Okereke, dem Sänger von Bloc Party (ZeitOnline), ein Konzert von Jan Delay (Tagesspiegel) und das Debütalbum des Garagenpop-Trios Ex Hex (Pitchfork).
Archiv: Musik

Bühne


"Hoppla, wir leben!" Foto: Thomas Dashuber

Erstaunlich intensiv findet Cornelia Fiedler von nachtkritik.de Anne Lenks Inszenierung von Ernst Tollers Weimarer-Republik-Groteske "Hoppla, wir leben!" am Münchner Residenztheater - nicht zuletzt wegen der drastischen Masken und Kostüme. Doch ganz zufrieden ist die Kritikerin nicht: "Einer Auseinandersetzung mit der Bedeutung dieses Revolutionärsdramas heute, in einem weiter entwickelten Kapitalismus, der neue Formen der Normalität beziehungsweise des Irrsinns kennt, weicht die Inszenierung aus. Sie setzt auf die Produktion eingängiger Bilder - die aber bleiben hinter Glas, wie eine Sammlung exotischer Schmetterlinge: weit weg." In der FAZ attestiert Teresa Grenzmann der Aufführung ebenfalls wegen der Treue zu Text und Bühnenanweisung "wenig Reflexionsraum". Beeindruckend findet auch Christine Dössel in der SZ dieses "grotesk-komische Typen- und Gruselkabinett": "Aber belebt, mit Blut versorgt und in die Gegenwart gerettet wird es nicht."

Weitere Artikel: Barrie Kosky, Intendant der Komischen Oper Berlin, lässt sich von der Welt zu Tisch bitten und erklärt, wie man gute Operette macht. In der SZ erklärt Kosky, wie die Operette zu ihrem schlechten Ruf gekommen ist. In der Welt fasst sich Manuel Brug an den Kopf: Die West Australian Opera in Perth will zwei Saisons lang keine "Carmen" spielen - Arbeiterinnen in einer Zigarettenfabrik, die den blauen Dunst besingen, das könnte den Sponsor Healthway abschrecken, der Gesundheitsbotschaften promotet.

Besprochen werden Sebastian Hartmanns "Woyzeck"-Inszenierung am Deutschen Theater Berlin und Stefan Puchers Charles-Manson-Musical am Thalia in Hamburg (Zeit).
Archiv: Bühne

Film

Auf ZeitOnline unterhält sich Julia Dettke mit Nele Müller-Stöfen und Edward Berger über deren Film "Jack", in dem ein einsames Kind durch Berlin streift.

Besprochen werden Lone Scherfigs "Riot Club" (FR), der dänische Western "The Salvation" mit Mads Mikkelsen (FAZ).
Archiv: Film

Kunst


Jason Rhoades, The Creation Myth, 1998, Friedrich Christian Flick Collection im Hamburger Bahnhof, Berlin

"Alles erstarrt". Traurig geht Hans-Joachim Müller in der Bremer Kunsthalle durch die "grabesstille" Ausstellung des verstorbenen kalifornischen Aktionskünstlers Jason Rhoades, den er als "gut aufgelegten Quirl" in Erinnerung hat: "Es muss in den Neunzigern gewesen sein, als man Jason Rhoades inmitten seiner Installation "Uno Momento" in der Basler Kunsthalle antraf. Es lag viel herum. Kübel, Kabel, Schläuche, Flaschen, Plastikbecher. Tücher, Papprohre, Einkaufskörbe. Kartonagen, Alufolie. Latten. Eine Bandsäge. Eine Klobrille. Ein Knoblauchzerstäuber. Girlanden von Farbscheinwerfern. Nebelmaschinen. Und tief drinnen ein leicht abschüssiges Rollenlager, auf dem der Künstler bäuchlings durch die Dinghalde rutschte. ... Uno Momento, unvergessen."


Anselm Kiefer, Ages of the World, 2014. Private collection. Photo courtesy Royal Academy of Arts. Photography: Howard Sooley / © Anselm Kiefer

Peter Iden von der FR ist nach London gereist, um dort die große Anselm-Kiefer-Schau in der Royal Academy zu besuchen. Die düstere Schwermut der ausgestellten Werke beeindruckt ihn sichtlich, und dabei insbesondere "Kiefers Insistieren darauf, dass es in der Malerei um etwas geht. Nicht um Einfälle, Mätzchen, Marktgeschrei, Medienpräsenz. Sondern tatsächlich: um Leben und Tod. ... Kiefer unterwirft auch sein eigenes Werk dem Gesetz der Vergänglichkeit: Wird nicht derart eines Tages alles unbedeutend werden, niemand mehr wissen wollen, was auf den Leinwänden einst zu sehen war, alles - und wir alle auch - einfach verschwinden, vergehen?"

Thomas Steinfeld schwärmt in der SZ von Kunstikone und Muse Luisa Casati, der gerade in Venedig eine Ausstellung gewidmet ist: "Sie ist das früheste weibliche "Fame Monster", und wenn Lady Gaga den Beginn ihrer Kunst suchte, so müsste sie das Internet vergessen, weit über Madonna zurückgehen und bei Luisa Casati anfangen. Wie man die eigene Person kultiviert, indem man sie auflöst, wie man sich behauptet, indem man sich durchlässig macht für die Strömungen der zeitgenössischen Kunst und Kultur - mit dieser abgründigen Dialektik ging die Marchesa Casati unzähligen Nachahmern voraus." (Bild: Adolf de Meyer, 1912).

Besprochen werden die Laszlo Moholy-Nagy gewidmeten Schau im Berliner Bauhaus-Archiv (Tagesspiegel), Martin Roemers" Ausstellung von Kriegsversehrten-Fotografien im Deutschen Historischen Museum in Berlin (Tagesspiegel) und die Ausstellung "Raffael bis Tizian" im Städel in Frankfurt (FR).
Archiv: Kunst