Bücher der Saison

Frühjahr 2008

Die umstrittensten, am besten und am häufigsten besprochenen Bücher der Saison
21.04.2008. Sachbücher: Islam, Kultur- und Kunstgeschichte, Geschichte, Elite, Gesellschaft, Biografien, Musik, Naturwissenschaften, Philosophie
Kroatische Literatur, Frühlinge / Romane / Comics, Erzählungen, Lyrik, Hörbuch / Reportagen / Sachbücher


Islam

Aus unterschiedlichen Perspektiven rückt in den Sachbüchern des Frühjahrs der Islam in den Blick. Olivier Roy, einer der international angesehensten Islamwissenschaftler, hat mit "Der falsche Krieg: Islamisten, Terroristen und die Irrtümer des Westens" eine Streitschrift wider die Vereinfachung geschrieben. Er beschränkt sich dabei nicht auf - differenzierte - Kritik an der kriegerischen US-Politik, sondern besteht auch auf einer Komplizierung des von wenig Kenntnis getrübten westlichen Islambilds. In den deutschen Feuilletons ist das Buch durchweg auf Zustimmung gestoßen. Die FAZ glaubt, "schon heute das wichtigste Buch für die Zeit nach dem nächsten großen Anschlag" gelesen zu haben. Als "fulminantes Büchlein" wird es in der SZ gelobt, die taz ist zwar mit Einzelheiten nicht ganz einverstanden, empfiehlt den Band des "originellen Denkers" dennoch zur Lektüre.

Sehr eindeutig fällt das Urteil zur Konkurrenz der Mohammed-Biografien aus. Während der "Mohammed" des Niederländers Hans Jansen vor allem wegen seines Sarkasmus und seines "unwissenschaftlichen Argumentierens" in der Zeit auf recht geharnischten Widerstand stieß, scheint dem deutschen Islamwissenschaftler Tilman Nagel mit zwei Büchern ein Wurf gelungen. In "Mohammed" () untersucht er "Leben und Legende" des Propheten, in "Allahs Liebling" () geht es um "Ursprung und Erscheinungsformen des Mohammedglaubens." So findet SZ-Rezensent Peter Heine, der gleich eine Einführung in die Geschichte der Mohammed-Biografien gibt, die Forschungsergebnisse und die Darstellung seines emeritierten Kollegen Nagel "in ihrer Fülle beeindruckend und überzeugend".

Nicht aus politischer, sondern aus historischer und kunstgeschichtlicher Perspektive nähern sich zwei weitere Bücher dem Verhältnis von Europa und Islam. Von Ekkehard Eickhoffs stark überarbeiteter Neuausgabe seines Buchs "Venedig, Wien und die Osmanen" das die europäisch-islamischen Verhältnisse in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhundert schildert, ist die FAZ ganz begeistert. Sie feiert den Band als Musterbeispiel einer "erzählenden Historiografie", die ihr beinahe schon ausgestorben schien. Der Kunsthistoriker Hans Belting entdeckt in "Florenz und Bagdad" eine arabische Vorgeschichte der vermeintlich typisch westlichen Zentralperspektive. Für die SZ ein "Geniestreich", der auch als aktuelles Plädoyer für den Kulturvergleich zu begreifen ist. Auch die Zeit fand den Band "gedanken- und faktengesättigt".


Kultur- und Kunstgeschichte


Lustvolle Beschäftigung mit der Lust leisten gleich zwei neue Sachbücher. Geradezu "süffig" geschrieben findet die SZ Thomas W. Laqueurs "Kulturgeschichte der Selbstbefriedigung" mit dem passenden Titel "Die einsame Lust" Vor allem, wie der Autor die Sexualdiskurse in den Kontext von Ökonomie und Ästhetik stellt, hat sie sehr überzeugt. Ebenfalls in der SZ wird Wolfgang Schullers "Die Welt der Hetären" empfohlen, und zwar der Fülle an Informationen wegen, die hier unverkrampft dargeboten wird.

Ein "großer Wurf" (so die FAZ, zumindest partiell "sehr erhellend" (so die SZ) ist für die Feuilletons die Untersuchung der Ethnologin Sabine Doering-Manteuffel über "Das Okkulte" Die Autorin untersucht die Faszination dunkler Kräfte vom Spätmittelalter bis in die Gegenwart. Deutlich wird, so die FAZ, dass die Wissenschaft ihren unseriösen Schatten stets mit sich führt. Wie nahe sich das Wissen und das Raunen allerdings wirklich sind, das hätte die SZ noch ein wenig klarer ausgeführt gesehen. Dennoch rät sie zur Lektüre.

Und zum Dessert: Ein von Paul Freedman herausgegebener Sammelband zum Thema "Essen" der nicht weniger als eine "Kulturgeschichte des Geschmacks" zu sein verspricht und nach Ansicht des hingerissenen Rezensenten der FAZ auch ist. Der Rezensent staunt, dass Akademiker so gut lesbar schreiben können. "Prachtvoll illustriert" sei das Buch auch noch - also alles in allem einfach "fabelhaft".


Geschichte


Nicht weniger als eine Vorgeschichte der Globalisierung erzählt Jürgen G. Nagel, lobt die Zeit, in seinem Buch über die Ostindienkompanien "Abenteuer Fernhandel" Die beiden um 1600 gegründeten Gesellschaften "East India Company" und "Vereinigte Ostindische Kompanie" organisierten die Kolonialwirtschaft ihrer Nationen - und wie der Autor den Kontext dieser ersten Globalisierung erläutert, das macht dieses Buch nach Ansicht der Zeit zum Standardwerk. Genauso enthusiastisch gelobt wird, ebenfalls von der Zeit, Anka Muhlsteins Darstellung von Napoleons gescheitertem Russlandfeldzug "Der Brand von Moskau" So "packend und anschaulich" findet der Rezensent das Buch, dass er sich nicht scheut, es Leo Tolstois Meistewerk "Krieg und Frieden" als Sachbuchvariante zur Seite zu stellen.

Eine engagierte essayistische Auseinandersetzung mit der Gegenwart seines eigenen Fachs legt der Mittelalter-Historiker Valentin Groebner mit "Das Mittelalter hört nicht auf" vor. Seine Aufforderung an die Kollegen, das Klagen sein zu lassen und stattdessen die Relevanz des eigenen Gegenstands klarzumachen, stößt bei NZZ, FAZ und FR auf offene Ohren und zustimmende Rezensenten. Michael Borgolte findet in der FAZ auch Groebners Forderung, über die Grenzen des "lateinischen Monopolmittelalters" hinweg nach Osten zu blicken, völlig richtig - weist allerdings darauf hin, dass die Disziplin da schon weiter ist, als Groebner unterstellt.


Elite

Nun da der Begriff "Elite" wieder salonfähig scheint, haben ein paar Autorinnen und Autoren genauer hingesehen, was sich dahinter verbirgt. Einigermaßen schockiert zeigt sich dabei Julia Friedrichs, die für ihre Reportage "Gestatten: Elite" in den Kaderschmieden der Wirtschaft die "Mächtigen von morgen" kennen, aber nicht unbedingt schätzen gelernt hat. Nicht Leistung zählt in erster Linie, hat sie erfahren, sondern, wie die FAZ in ihrer Rezension resümiert: "Habitus und Status", schlichter ausgedrückt "Stallgeruch".

Zu ähnlichen Ergebnissen wie Friedrichs kommt, allerdings aus soziologischer Perspektive, Michael Hartmann. Seine Studie "Eliten und Macht in Europa" belegt, dass insbesondere die Spitzenpositionen der Wirtschaft für Milieufremde kaum erreichbar sind. Für die taz ist das Buch ein Glücksfall für die Soziologie. Auch die Zeit findet das Buch spannend, fragt sich allerdings, warum der Autor auf politische Schlussfolgerungen aus seiner Diagnose verzichtet. Beim Perlentaucher stellt Arno Widmann fest: "Es ist eines der wichtigsten Bücher der letzten Jahre."

Und noch zwei Bände zum Thema: Während Heinz Verfürths Abrechnung "Die Arroganz der Eliten" vor den Augen der FAZ überhaupt keine Gnade findet (die Thesen seien entweder "banal oder zweifelhaft"), wird der schmale Band "Lob der Elite" der FAZ-Redakteurin Heike Schmoll von der SZ gelobt. Mit der Grundthese der Autorin, dass Elite notwendig, aber im wesentlichen eine Sache der "Haltung" ist, zeigt sie sich völlig einverstanden, vermisst allerdings "Therapie"-Vorschläge für die treffend diagnostizierten Mängel.


Gesellschaft

'68 kommt und geht seit vierzig Jahren wie Schlaghosen, Ratgeber für gute Manieren oder Soul. Heftig diskutiert, in der Regel meist sehr unfreundlich beurteilt wurde Götz Alys provokante Streitschrift "Unser Kampf" Die zentrale These - dass nämlich die '68er in ihrem Dogmatismus der Generation ihrer Nazi-Eltern wenig nachstanden - deutet schon der Titel an. "Schrill konstruiert" kommt der Zeit diese Behauptung vor, die SZ hält das meiste für "Quark", die FR hat immerhin eine "knackige Polemik" gelesen. Da muss zuletzt sogar die 68er-nahe taz dem Autor - wenn auch mit Vorbehalten - zur Seite springen, der das mit dem Desinteresse der Revolutionäre an der Demokratisierung schon ganz richtig sehe. Hier eine

Die Kritiker waren so damit beschäftigt, Alys "Renegatentum" zu geißeln, dass oft nur wenige Zeilen Platz blieben für die ihrer Ansicht nach besseren Bücher: Dazu gehörte der autobiografische Rückblick "Rebellion und Wahn. Mein '68" des Schriftstellers Peter Schneider. Die FR hält ihm zugute, dass er sich in Erinnerung an sein revolutionäres Gebaren selbst als "großmäuligen" Kämpfer und "kleinmütiges Würmchen" bezeichnet. Norbert Freis Buch "1968. Jugendrevolte und Protest" () erntet Anerkennung dafür, dass Frei '68 nicht als deutsche, sondern als "globale Jugendrevolte" beschreibt.

Durchweg beeindruckt zeigen sich die Rezensenten von Jan Philipp Reemtsmas Studie "Vertrauen und Gewalt", in der der Autor darauf insistiert, dass sich die Gewaltphänomene der Moderne nicht einfach durch Pathologisierung sozusagen wegerklären lassen. "Kühn", aber bezwingend kommt der SZ die Verbindung von soziologischem und literaturwissenschaftlichem Instrumentarium vor. Auch die FR bewundert die methodische Breite Reemtsmas, die seine nüchternen Analysen möglich macht.

Auf unterschiedliche Reaktionen stieß Pascal Bruckners polemische Abhandlung "Der Schuldkomplex" Europa und der Westen betonten, so Bruckners Behauptung, viel zu sehr ihre vergangene Schuld. Weswegen es ihnen am nötigen Selbstbewusstsein sowohl in der Auseinandersetzung mit dem Fremden wie am souveränen Umgang mit den starken Momenten der eigenen Traditionen fehle. Durchaus nachvollziehbar fand das alles die NZZ, während der SZ das alles doch "mit sehr heißer Nadel gestrickt" und reichlich undifferenziert schien.


Biografien

Im Februar feierte der bedeutende Politologe Wilhelm Hennis seinen 85. Geburtstag. Auf großes - und durchweg wohlwollendes - Interesse stieß die von Stephan Schlak verfasste Biografie die Hennis in die "Ideengeschichte der Bundesrepublik" einzuordnen unternimmt. Die Zeit bedauert, dass sich der Autor nicht recht zwischen beidem entscheide, bescheinigt dem Band insgesamt aber, dass er "eindrucksvoll und lesenswert" ist. Auch die SZ und die FAZ halten das Buch für wichtig und im wesentlichen gelungen.

Bisher nur in der SZ, da aber umso enthusiastischer besprochen: Hubert Manias Biografie des Mathematikers Karl Friedrich "Gauß" Gerade im Vergleich mit Daniel Kehlmanns Bestseller-Roman "Die Vermessung der Welt", dessen eine Hauptfigur Gauß ist, könne diese Biografie mehr als nur bestehen. Sie sei der Fiktion nicht nur in puncto "Kraft der Imagination" sogar deutlich überlegen und schaffe es, das nicht sehr aufregende Leben des Wissenschaftlers mit viel "erzählerischem Eigenleben" vor Augen zu stellen.

Auch nur einmal, nämlich in der NZZ, rezensiert wurde bislang Johannes Willms Lebensbeschreibung des letzten französischen Kaisers "Napoleon III." Zwar scheine der erste Teil des Buches eher eine Pflichtübung des Biografen. Wie Willms aber die Geschichte nach der Thronbesteigung des Napoleon-Neffen schildert, das hat den Rezensenten dann ohne Einschränkungen gefesselt.


Musik

Nicht weniger als das "gefährlichste und bezauberndste" Sachbuch des Frühjahrs hat die FAZ entdeckt: Die Musikagentin Sonja Simmenauer betreut beruflich Streichquartette und stellt in diesem Buch mit dem Titel "Muss es sein?" () nicht weniger als die Gretchenfrage der menschlichen Existenz schlechthin. Ja, es gehe um das Streichquartett als "exemplarische Lebensform", genauer: darum zu zeigen, dass das Leben nur lebenswert ist, wenn wir für etwas - etwa die Streichquartettmusik - glühen. Deutlich weniger, nun ja, glühend im Ton ist die Zeit-Rezension ausgefallen. Daran, dass sie in der Sache gleichfalls sehr freundlich ist, ändert das nicht.

Hauptberuflich ist Steven Isserlis Cellist. Mit "Warum Händel mit Hofklatsch hausierte" legt er nun aber schon sein zweites Jugendbuch mit Komponistenporträts vor - und kann die SZ damit voll und ganz überzeugen. Bei aller Begeisterung könne von Verklärung der Porträtierten nicht die Rede sein und aufgrund seiner Eleganz und Intelligenz sei das Buch durchaus für Erwachsene interessant.


Naturwissenschaften


Volker Sommer ist evolutionärer Anthropologe und beschäftigt sich seit einigen Jahren mit einer Schimpansen-Art im nigerianischen Gashaka-Gumti-Nationalpark. In dem Band "Schimpansenland" legt er seine aktuellen Forschungsergebnisse dar - vor allem aber ist das Buch, betont die FAZ, ein "entschiedenes Plädoyer" für den Fortbestand der gefährdeten Art. Man lernt einiges über die Schimpansen, etwas ihr Geschick beim Bau von Schlafnestern. Besonders eindrucksvoll und interessant findet der Rezensent aber die genaue Schilderung der konkreten Probleme, auf die man als Forscher vor Ort trifft.


Philosophie

Er stand im Ruf, ein großer Liebhaber zu sein. Er lebte und konversierte und dachte in Salons, in Palästen, an Höfen. Fürst Charles de Ligne lebte von 1735 bis 1814 und dass er ein Mann von Geist war, lässt sich nun in der Übersetzung seiner gesammelten "Gedanken und Fragmente" nachvollziehen. Die SZ jedenfalls hat sich von Scharfsinn und "Leichtigkeit" des Salon-Denkers bezirzen lassen und staunt über die Eleganz, mit der es ihm gelang, auch unangenehme Wahrheiten auszusprechen.


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