Außer Atem: Das Berlinale Blog

Auf inbrünstige Weise ahnungslos - der Berlinale-Pressespiegel

Von Thomas Groh
25.02.2020. Zwischenfazit beim Tagesspiegel: Der neue Wettbewerb Encounters ist hochkarätig - saugt aber allen anderen Sektionen vampirisch das Blut aus. Delirant in der Wildnis: Abel Ferrars "Siberia" - aber immerhin plaudert munter ein Fisch. Sind Spermazoten im Wettbewerb Ausdruck eines "ätzenden Esprits" - die Filmkritik ist sich uneins! Perlentaucherin sendet Hilfesignale: Kontext in den Dokus verzweifelt gesucht! Und das waren noch Zeiten, als sich im Bauch des Sony-Centers die Pforten zwischen den Kinos öffneten, trauert der Freitag. Kurz: der Berlinale-Montag im Pressespiegel.
Bärenfavoritin ohne Aussicht auf den Bären: Josephine Deckers "Shirley"

Im Tagesspiegel ärgert sich Christiane Peitz: Josephine Deckers "Shirley" mit einer sich toll entgrenzenden Elisabeth Moss ist ein absolutes Highlight des Festivals, eine verdiente Bärenfavoritin - mit dem Schönheitsfehler, dass der Film, wie viele weitere Qualitätswerke auch, im von Carlo Chatrian neu ausgerufenen Nebenwettbewerb "Encounters" versenkt wurde: Für sie "eine Reform, die nicht greift. ... Gerade wegen seiner Qualität schwächt 'Encounters' den Wettbewerb, ja das gesamte Festival. Zu wenige Handschriften, zu wenig Bildkraft bei den Bären-Kandidaten: Warum traut Chatrian sich nicht, Josephine Decker oder auch 'Gunda' auf der großen Leinwand des Berlinale Palasts zu zeigen? Warum zeigt er nicht genau hier seine Favoriten? Gleichzeitig fehlen dem Forum als Arthouse-Plattform nun Autorenfilmer wie Puiu und Waelde." Zumindest von Elisabeth Moss ziemlich umgehauen ist auch Ekkehard Knörer in der taz: Sie "wirft sich in diese Rolle, als wäre sie dafür geboren. Mit guten oder unlesbaren Mienen zu bösen Spielen, in unkleidsamen Klamotten, mit herrischer Brille, nicht normschön, aber oft wie aus Willenskraft attraktiv. Ein Schwerkraftfeld eigener Art, aus Körper und Geist, ein wilder Attraktor, der den filmischen und psychischen Raum nach Belieben dominiert, formt und beugt."

Inbrünstig ahnungslos: Willem Dafoe in "Siberia"

Mit "Siberia" kehrt Abel Ferrara, der einstige Punk des subversiven New Yorker Kinos, erstmals seit 1995 wieder in den Wettbewerb der Berlinale zurück und hat dafür Willem Dafoe auf eine halluzinatorisch-traumwandlerische Sinnsuche quer durch verschneite Berge und Wüsten zu Schamanen und Zwergen in Rollstühlen geschickt und damit in der Pressevorführung bei offenbar einigen Kritikern den Impuls zum rettenden Gang in Richtung Kinofoyer ausgelöst. Zu sehen gibt es einen "mystischen Trip, einen Fiebertraum", schreibt Philipp Stadelmaier in der SZ nach diesem Besuch in einer "Zwischenwelt unter ästhetischer und spiritueller Dauerspannung, einem Malstrom an Bildern, der zwischen Himmel und Erde, Tag und Nacht, Eis und Hitze dahinfließt." Visuell ist der Film tatsächlich opulent, schreibt Carolin Weidner in der taz, bleibt aber im Großen und Ganzen ratlos zurück und zitiert den Filmemacher aus dem Presseheft, der "sagt, er verspüre noch immer einen großen Appetit darauf, was Kino alles sein könne. Momentan ist dieses Kino Willem Dafoe, auf inbrünstige Weise ahnungslos." Perlentaucher Thierry Chervel ging mit Vorbehalten in den Film, ließ sich dann aber gerne von der Lust am überraschenden Bilderwahnsinn mitreißen: "Am Ende bleibt, wie an unser aller Lebensende, ein abgenagtes Fischskelett. Aber nein, da ist ja noch der andere Fisch, und er spricht. Die Hunde spitzen höflich irritiert die Ohren. Es klingt hebräisch, oder vielleicht auch native American. Und ich bin sicher, es bedeutet: 'Nicht alles im Leben Sinn muss Sinn ergeben, schon gar nicht ein Film von Ferrara.'"

Noch schweigen sie, aber wehe, wenn sie babbeln: Nina Hoss und Lars Eidinger in "Schwesterlein"

Mit "Schwesterlein" von Stéphanie Chuat und Véronique Reymond feiert auch das Genre des Krebstod-Films sein Comeback im Berlinale-Wettbewerb. Mit Nina Hoss und Lars Eidinger stehen Deutschlands profilierteste Theaterschauspieler vor der Kamera. Der Film ist "edel arrangiert", schreibt Perlentaucherin Thekla Dannenberg. Aber in diesen Film wurde viel gelegt, "was sich nie ganz zueinander fügen will: Hänsel und Gretel, Eichendorff und Hamlet, das Theaterleben, Geschwisterliebe und Verrat in der Ehe. Und sie lassen es in den allerbesten Kreisen spielen: Lars Eidinger stirbt in einer fahlen Traurigkeit, die einem das eigene Blut aus den Adern gerinnen lässt. Die Schweizer Schauspieldiva Marthe Keller spielt ganz zart ihre grandiose Narzisstin, und Nina Hoss fällt nicht einmal aus der Rolle, wenn sie in einem Wutanfall auf eine Berliner Mülltonne eintritt." Tolle Schauspielleistungen, meint auch Andreas Fanizadeh in der taz, "doch im letzten Drittel nervt das allzu assoziative und selbstbezügliche Schauspielergebabbel." Den thematischen Schwergang des Films unterfüttern die beiden Schweizer Filmemacherinnen immer wieder mit komödiantischen Elementen, hält Peter von Becker im Tagesspiegel fest.

Immerhin klebt kein Sperma dran: Hi-End-Kommunikationstechnologie in "Effacer l'historique"

"Eine übertechnologisierte Gesellschaft am Rande des Wahnsinns" ist in der Komödie "Effacer l'historique" von Benoît Delépine und Gustave Kervern zu sehen, schreibt Michael Meyns. Viel Freude hat der taz-Kritiker an dieser "boulevardesken Klamotte" allerdings nicht: "Wenn schließlich ein Handy an Bertrands Backe klebt, weil es mit Sperma bespritzt ist, weiß man, der Tiefpunkt des bisherigen Wettbewerbs ist erreicht." Perlentaucherin Thekla Dannenberg hat bei diesem pausenlosen Feuerwerk an Pointen Tränen gelacht "und weiß sich doch diesen Menschen sehr verbunden, die sich im digitalen Leben verheddert haben wie Ladegeräte im Kabelsalat." Doch die Filmemacher "feuern immer in dieselbe Richtung und immer aus dem gleichen Register. Das gibt ihrem Gute-Laune-Film eine gewisse Selbstgefälligkeit." Von einer "grellen Nummernrevue" berichtet Andreas Kilb in der FAZ - am Ende allerdings versage "der ätzende Esprit".

Wer im Forum Ra'anan Alexandrowiczs "The Viewing Booth" sieht, eine essayistische Versuchsanordnung, in dem Maia Levy, eine junge Israelin, dekontextualisiertes Material aus dem Nahostkonflikt reflektieren soll, erkennt sich dabei vielleicht selbst als Berlinale-Gängerin wieder - zumindest ergeht es Perlentaucherin Anja Seeliger so: Sie sucht in den Berlinale-Dokus - genauer: in Jonathan Rescignos "Grève ou Crève", Radu Judes "Tipografic Majuscul" und Lei Yuan Bins "I dream of Singapore" - "nach Kontext, nach Hintergrund, nach einer Information, die mir hilft, die Bilder einzuordnen, und finde keine. ... Man kann nicht mal über sie diskutieren. Politisch unangreifbar, unbewertbar, jeder kann sich aus den Zutaten sein eigenes Gericht kochen. Das Verfahren ist international kompatibel."

Der Filmemacher Max Linz trauert in seinem großen Freitag-Essay über Kinokultur in der Krise jenen Zeiten nach, die im Zuge der Cinestar-Schließung Anfang des Jahres nun mehr vergangene sind, als sich nämlich im Bauche des Sony-Centers die sonst geschlossenen Pforten zwischen Blockbusterkino und Kinemathek öffneten: Hier ergab sich "eine bisher höchstbesondere, einmalige und glückliche Konstellation für das globale Cineastentum. ... Vom Foyer der Elementarinstitution Kino Arsenal, Zentrum der Berlinale-Sektion 'Forum des internationalen jungen Films', mit seiner temporären Buchhandlung des theorieavantgardistischen b-books Verlags und der Bar des Urban-Gardening-Projekts Prinzessinengarten, schwappte das Publikum in Massen zu den unabhängigen Forumsfilmen in die Cinstar-Kinos, deren Größe und technischer Standard sonst den oben genannten Produktionen vorbehalten war. Auch wenn der 'rote Teppich' vor dem sogenannten Berlinale Palast in der öffentlichen Wahrnehmung das Herz der Filmfestspiele ist, der Keller des Sony-Centers war in den letzten 20 Jahren die Hauptschlagader. Hier schlug der Puls des Festivals, ein enthusiastisches, gestresstes, irgendwann total übermüdetes, aber eben sehr vitales Publikum, das jede Rede vom Tod des Kinos vergessen ließ."

Weiteres: Carolin Weidner spricht in der taz mit der Filmemacherin Uisenma Borchu über ihren in der mongolischen Wüste spielenden Film "Schwarze Milch", deren Hauptfiguren Ossi und Wessi heißen. In der SZ gratuliert Fritz Göttler Ulrike Ottinger zur Auszeichnung mit der Berlinale Kamera. Der Filmdienst hat mit der Preisträgerin gesprochen. Dunja Bialas berichtet im Tagesspiegel von einem Panel zum Thema Intersektionalität im Film.

Besprochen werden Christian Petzolds "Undine" (ZeitOnline, unsere Kritik hier), Caetano Gotardos und Marco Dutras Wettbewerbsfilm "All the Dead Ones" (critic.de, unsere Kritik hier), Kitty Greens "The Assistant", der von Machtmissbrauch im Filmbetrieb handelt (ZeitOnline, FAZ-Blog), Rubikah Shahs Dokumentarfilm "White Riot" über die Initiative "Rock Against Racism" im Großbritannien der Siebziger (taz), Bettina Böhlers Schlingensief-Doku "In das Schweigen hineinschreien" (FR), der im Forum gezeigte Kollektivfilm "Ouvertures" vom The Living and the Dead Ensemble (Perlentaucher), Jonathan Rescignos "Grève ou Crève" (Perlentaucher), Matteo Garrones "Pinocchio" (Welt), Camilo Restrepos "Los Conductos" (critic.de), Yoon Sung-Hyuns "Time to Hunt" (critic.de) und Maria Ignatenkos "In Deep Sleep" (critic.de).

Außerdem: Viele weitere Besprechungen auf kino-zeit.de, bei critic.de und auf Artechock. Zum Hören: Der fünfte critic.de-Podcast. Immer einen Klick wert: der Kritikerspiegel von critic.de. Schnelle Updates: die SMS von Cargo. Und natürlich täglich mehrfach aktualisiert: unser Berlinale-Blog.