Außer Atem: Das Berlinale Blog

Nur Schock, keine Bedeutung: Erik Poppes "Utøya 22. Juli" (Wettbewerb)

Von Thekla Dannenberg
19.02.2018.


77 Menschen ermordete der rechtsextreme Massenmörder Anders Breivik im Juli 2011 in Oslo, 69 davon auf Utøya, im Feriencamp der sozialdemokratischen Jugendorganisation. Seine Untat läutetet er mit einem Anschlag auf ein Regierungsgebäude in Oslo ein. Zu Beginn des Films sehen wir diese Explosion mit den Bildern einer Überwachungskamera. Schnitt auf die Insel Utøya. "Du hast keine Ahnung, was passiert ist, also hör zu", sagt Kaya direkt in die Kamera, wie es scheint als eine Ermahnung des Zuschauers. Doch sie telefoniert mit ihrer Mutter über Kopfhörer. Im Zeltlager versuchen sich die Teenager darüber klar zu werden, was in Oslo geschah, ob es ein Anschlag war, und ob man immer gleich Islamisten vermuten darf. Wir lernen sie kurz kennen: die vernünftige, kontrollierte Kaya, ihre rebellisch Schwester Emilie, Christine, Petter und Magnus. Dann geht der Terror los, und er wird 72 Minuten andauern, so lange wie Anders Breivik tatsächlich auf der Insel mordete.

Über eine Stunde also erleben wir die Jugendlichen in Todesangst, unablässig hören wir aus der Ferne die Schüsse, aus der Nähe ihre Schreie, ihr Keuchen, ihr Weinen. Sie rufen übers Handy ihre Mütter an, kommen nicht zur Polizei durch, erreichen nicht die Schwester. Sie rennen durch den Wald, ducken sich in Gruben, kauern sich am Ufer der Insel in Felsspalte wie Schwalben im Mauerwerk. Sollen sie im Versteck bleiben oder weiter fliehen? Ein Mädchen stirbt in Kayas Armen, jeder Moment der Stille kündet nur von neuem Schreckens. Andrea Berntzen macht als Kaja ihre Sache hervorragend, und Erik Poppe inszeniert den Terror mit allen Mitteln der Kunst. Super professionell, alles ist auf die Minute genau kalkuliert, die Emotion des Zuschauers hält er so fest im Griff wie Breivik sein Gewehr. Aber es ist ein perverses Spektakel. Das einzige, was Poppe nicht ins Bild setzt, ist Anders Breivik selbst. Dessen käsige Fresse bleibt uns erspart.

Die Rechtfertigungsmuster für solche Film sind immer dieselben: Sie zeigen uns die Sicht der Opfer. So ist es gewesen, da darf man nicht wegsehen. Aber das ist Unsinn. Reine Wichtigtuerei. Der Film ist reiner Horror. Er funktioniert genau wie eines jener Computerspiele, mit denen sich Anders Breivik aufputschte, bevor auf Menschenjagd ging. Er liefert nur Schock, keine Bedeutung. Wer etwas über Breiviks Terror und das erschütterte Norwegen erfahren will, sollte Karl Ove Knausgards Essay dazu lesen (hier oder hier).

Utøya 22. Juli. Regie: Erik Poppe. Mit Andrea Berntzen, Aleksander Holmen und anderen. Norwegen 2018, 90 Minuten (Vorführtermine)