9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Gesellschaft

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9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.02.2024 - Gesellschaft

Der Anthropologe Ghassan Hage verbreitet seinen Israelhass seit Langem unverblümt auf Social Media, berichtet Gerald Wagner in der FAZ. Die Max-Planck-Gesellschaft, bei der Hage Gastwissenschaftler ist, sei bisher tatenlos geblieben: "Ursula Rao, die Direktorin der Abteilung, in der Hage Gastwissenschaftler ist, lehnt eine Reaktion auf dessen Äußerungen mit Verweis auf die Leitung der Max-Planck-Gesellschaft in München ab. Diese teilte auf Anfrage mit, sie habe keinen Einfluss darauf, was Ghassan Hage auf seinen persönlichen Social-Media-Accounts poste. Dies unterliege in Deutschland der Meinungsäußerungsfreiheit, soweit keine Strafrechtstatbestände erreicht würden. Die Max-Planck-Gesellschaft teile und unterstütze keine antisemitischen Äußerungen."

In der NZZ zeichnet Birgit Schmid den Fall der Biologin Carole Hooven nach. Diese war 2021 noch Professorin in Harvard, bis sie in einem Interview erklärte, es gäbe nur zwei biologische Geschlechter, Menschen mit anderen Entscheidungen in Bezug auf ihr Geschlecht seien allerdings zu respektieren. Daraufhin wurde sie von den Studenten auf Twitter als transphob bezeichnet und das Arbeiten in Harvard für Hooven unerträglich. "Hooven hoffte, dass sich jemand von verantwortlicher Stelle für sie einsetzte. Nicht, um Hoovens Meinung, sondern die freie Meinungsäußerung zu verteidigen, die eine Elite-Universität auszeichnet. Sie erhoffte sich ein Wort der Dekanin der Faculty of Arts and Science, zu der die Evolutionsbiologie gehört. Dekanin war damals Claudine Gay. Erst später wurde diese zur Harvard-Präsidentin gewählt. Doch von Gay kam nichts. Als es für Carole Hooven nicht mehr auszuhalten war, kündigte sie."

Es braucht mehr Mut in ostdeutschen Klein- und Mittelstädten gegen die AfD auf die Straße zu gehen als in München oder Berlin, meint der Sozialwissenschaftler David Begrich in der SZ. Deshalb brauchen genau diese Menschen vor Ort Unterstützung: "Was jene brauchen, die sich in Ostdeutschland unter nicht gerade einfachen Bedingungen engagieren, ist die gesellschaftliche Sichtbarkeit, deren Licht in den vergangenen Jahren auf die AfD und ihr Umfeld fiel. Gebraucht wird eine Aufmerksamkeitsspanne, die auch dann noch anhält, wenn die schnellen Erfolgsmeldungen in der mühsamen Auseinandersetzung mit der AfD ausbleiben. Die stille Unterstützung aus Berlin oder München für eine demokratische Jugendinitiative in Sachsen bringt langfristig mehr als ein fotogener Pressetermin eines Bundespolitikers unter Termindruck."

Im Streit-Gespräch mit Jana Hensel und Tina Hildebrand in der Zeit debattieren der Soziologe Armin Nassehi und der Historiker und CDU-Politiker Andreas Rödder darüber, ob sich die gesellschaftliche Meinung von links-grün nach rechts bewegt. Eine "grüne Hegemonie" gab es nie, meint Nassehi, aber er stimmt zu, dass den Mitte-Rechts-Parteien nun Verantwortung zukommt: "Die Falschen müssen das Richtige machen. Helmut Kohl hat als konservativer Kanzler die meisten nationalen Souveränitäten an die supranationale Organisation der EU abgegeben, Gerhard Schröder hat Hartz IV eingeführt, und die CDU-Kanzlerin Merkel hat in der Flüchtlingskrise die Nerven behalten. Und so wird das Klimaschutzproblem wahrscheinlich nur unter Beteiligung von Mitte-rechts-Parteien gelöst werden können. Von mir aus auch ohne Grüne. Es spricht für unsere politische Kultur, dass dieses Switchen oft produktiv war."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.02.2024 - Gesellschaft

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In seinem aktuellen Buch nimmt der Soziologe Heinz Bude Abschied von den Boomern. Was das bedeutet, erklärt er im Welt-Gespräch: "Es wird eine Leerstelle geben, wenn diese Generation, immerhin 30 Prozent der Bevölkerung in Deutschland, sich zurückzieht. Das betrifft zuerst den Arbeitsmarkt, wo schon jetzt Menschen im Gesundheitssystem, im Handwerk oder bei der Steuerberatung fehlen. Aber 2030 wird sich auch die Frage stellen, was Erwerbsmoral, Bildungsbereitschaft und Initiativkraft ohne das Beispiel der Boomer bedeutet." Zudem entwickle sich die Dienstleistungsgesellschaft sich zu einer Selbstbedienungsgesellschaft: "Dienstleistungen, die wir im Augenblick noch relativ günstig einkaufen können, werden wir vermehrt selber erbringen müssen. Es könnte sein, dass die Kehrwoche wieder eingeführt wird, weil es keine Leute mehr für Gebäudereinigung gibt. Oder wenn, dann nur für einen Lohn von vielleicht 35 Euro die Stunde. Und dann ist es wirklich ein Kostenfaktor."

Es hilft schwarzen Menschen nicht weiter, wenn der Kampf gegen Rechtsextremismus ausschließlich an Weiße delegiert wird, meint in der taz die Autorin und Kabarettistin Michaela Dudley. Zumal es auch in der schwarzen "Gemeinschaft Ansichten gibt, die den Kampf gegen den Rechtsextremismus unterminieren. Dazu zählt der Antisemitismus. ... Frau Ogettes Post zu den Deportationsplänen der Rechten rät Weißen dazu: 'Check in bei den BIPoC um dich herum.' Wunderbar. Doch es obliegt auch uns Schwarzen, unseren jüdischen Mitbürgern eine seelische Zufluchtsstätte zu bieten, und zwar proaktiv. Nach der Ermordung von George Floyd gingen Abermillionen Weiße im Schulterschluss mit uns weltweit auf die Straße, und Jüdinnen waren ganz engagiert mit dabei. Warum bringen wir es kollektiv nicht, uns auf Solidaritätsmärsche für die israelischen Geiseln blicken zu lassen? Die fehlende Empathie ist beschämend."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.02.2024 - Gesellschaft

Der FU-Student Lahav Shapira ist von einem Kommilitonen krankenhausreif geschlagen worden, meldet unter anderem die Jüdische Allgemeine, auch auf Twitter kursiert das Thema. Der Kommilitone hatte Shapira in einer Bar erkannt. Shapira hatte sich vor einigen Wochen propalästinensischen Saalbesetzungen in der FU entgegengestellt und mit seinen antiisraelischen Kommilitonen diskutiert. "Zum genauen Tathergang kursieren leicht unterschiedliche Versionen", notiert die Jüdische Allgemeine. "So teilte die Berliner Polizei mit, dem körperlichen Angriff sei ein Streitgespräch zwischen beiden Studenten vorausgegangen. Die Begleitung des Betroffenen und zwei Familienmitglieder widersprechen dem: Lahav Shapira sei bereits hoch aggressiv angesprochen worden, es habe keine politische Diskussion gegeben. Dann habe der Angreifer S. unvermittelt mehrmals ins Gesicht geschlagen, sodass dieser stürzte. Auf den am Boden liegenden Shapira soll der Mitstudent dann eingetreten haben und schließlich geflüchtet sein."

Shapira ist der Bruder des Komikers Shahak Shapira und Enkel des israelischen Leichtathletiktrainers Amitzur Shapira, der beim Münchener Olympia-Attentat von palästinensischen Terroristen ermordet wurde. Shahak Shapira äußert sich auf Twitter:



Tobias Rapp lässt im Spiegel noch mal die erbitterten Debatten um Israel in der Kulturszene Revue passieren. Als Gegner macht er einerseits das kleine Blog Ruhrbarone aus, das von der Mbembe-Debatte bis zur Documenta vieles ins Rollen brachte, andererseits die "weltoffenen" Kulturinstitutionen, die sich nun nicht mehr trauen, ihre postkoloniale Idylle zu veranstalten. Und dann kommt der Aufruf "Strike Germany", der nun auch noch einen Boykott Deutschlands wegen mangelnder Israelkritik fordert. Zu ihren Unterzeichnern gehören die beiden Suhrkamp-Autorinnen Judith Butler und Annie Ernaux. Suhrkamp sagt dazu nichts, und daran soll man sich ein Beispiel nehmen, findet Rapp: "Auf Anfrage will Suhrkamp sich weder zu Butler noch zu Ernaux äußern. Hört man sich im Umfeld des Hauses ein wenig um, heißt es: alles halb so wild. Man habe die Kontroversen um Martin Walsers Paulskirchenrede überstanden, in der er von der 'Moralkeule Auschwitz' sprach. Man halte den Rechtsausleger Uwe Tellkamp aus. Und nun werde man auch diesen Sturm irgendwie überwintern. Was wahrscheinlich eine vernünftige Haltung ist."

Die Wohnungspreise steigen weiter in astronomische Höhen von bis zu 20 Euro pro Quadratmeter für Standardausstattungen. Diese Preise sind auch zu erklären durch den Anstieg der Baupreise - Investitionskosten lassen sich kaum mehr einspielen, schreibt Matthias Alexander im Feuilletonaufmacher der FAZ: "Unter diesen Umständen ist nicht der Rückgang der Wohnungsbauzahlen erstaunlich, sondern eher die Tatsache, dass überhaupt noch gebaut wird. Etliche große Unternehmen, darunter solche der öffentlichen Hand, haben ihre Neubauplanungen bis auf Weiteres komplett eingestellt. Im Getöse um die Signa-Pleite geht fast unter, dass eine ganze Branche dramatische Verwerfungen erlebt. Wer sich etwa unter Architekten umhört, erfährt von Büros mit besten Referenzen, die den Großteil ihrer Belegschaft entlassen haben."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.02.2024 - Gesellschaft

Mit charakteristischer Wucht prangert Sascha Lobo in seiner Spiegel-online-Kolumne den modernen Antisemitismus an, der zumeist den Umweg über die "Israelkritik" sucht: "Antisemitismus ist out - aber wirklich nur als Wort. Zwar wollen alle Antisemiten Juden hassen, nur möchte fast niemand mehr als Antisemit bezeichnet werden. Dafür gibt es die perfekte Ablenkungsstrategie: Antizionismus."
Stichwörter: Israelkritik

9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.02.2024 - Gesellschaft

Der Soziologe Linus Westheuser, der mit Steffen Mau und Thomas Lux die Studie "Triggerpunkte - Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft" (bestellen) verfasst hat, spricht im Zeit Online-Interview mit Robert Pausch darüber, dass die Debatte über die Schere zwischen Arm und Reich von rechts bestimmt wird. Das zeige sich beispielsweise im Streit um die Erhöhung des Bürgergeldes: "Im Hintergrund steht eine historische Schwäche von Gewerkschaften und linken Parteien. Beide Arten von Organisationen sind ja dafür da, denjenigen Machtressourcen an die Hand zu geben, die nicht über ein hohes Erbe oder ein florierendes Unternehmen verfügen. Sozialdemokratische Umverteilungspolitik galt lange als 'demokratischer Klassenkampf', als ein Ausbalancieren der Ungleichheit, die dem Kapitalismus innewohnt. Und Gewerkschaften gibt es, weil auch im Betrieb über Verteilungsfragen verhandelt wird, etwa das Verhältnis von Löhnen und Profiten. Wenn beide Institutionen heute geschwächt sind, gehen für viele Menschen Erfahrungen der Handlungsfähigkeit verloren. Gerade in einer solchen Situation der Demobilisierung werden diese Debatten zunehmend von einer moralisierten Konkurrenz zwischen Lohnabhängigen dominiert. Menschen, die das Gefühl haben, ihre Leistung würde nicht honoriert, grenzen sich dann eher nach unten ab, von denen, die es vermeintlich leichter haben als man selbst."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 31.01.2024 - Gesellschaft

Vor fünfzig Jahren wurde die japanische Botschaft in Kuwait von Mitgliedern der "Volksfront zur Befreiung Palästinas" gestürmt, gleichzeitig nahmen Mitglieder der Japanischen Roten Armee auf einer Anlage des Shell-Konzerns auf einer Insel vor Singapur fünf Geiseln. Auch die Japanische Rote Armee hat Dutzende Israelis auf dem Gewissen, erinnert Arno Widmann in der FR. Und betont: "Es gab linken Antisemitismus." Er selbst engagierte sich Ende der sechziger Jahre, so schreibt er, bei der maoistischen Minipartei KPD/ML - bis er ein Schlüsselerlebnis hatte: "Zu dieser Episode gehört auch, dass die RAF im Jahr darauf gegründet wurde und dass die Frankfurter KPD/ML bald danach sich selbst zerschlug. Allerdings klingelte am 6. oder 7. September 1972 ein Genosse an meiner Wohnungstür und fragte, ob ich nicht jemanden für ein paar Tage unterbringen könnte. Ich wehrte erschrocken ab. Begründete die Ablehnung aber nicht politisch, sondern mit der Anwesenheit meiner Ehefrau und meines Kindes. Es ging offensichtlich darum, jemandem Unterschlupf zu gewähren, der - wie auch immer - verwickelt war in den Anschlag auf die israelische Olympiamannschaft bei den Olympischen Spielen in München. Das Gespräch dauerte keine zwei Minuten. Aber mir wurde klar, wie falsch ich mich positioniert hatte. Wie sonst konnte er auf die Idee kommen, ausgerechnet bei mir zu klingeln."

Mit Schrecken und Traurigkeit kommen Haya Schulmann und Michael Waidner, beide Professoren für Sicherheit in der Informationstechnologie, in der FAZ auf die deutsche Gleichgültigkeit nach den Hamas-Pogromen vom 7. Oktober zurück. Anders als bei Muslimen, denen in den extremen Diskursen der AfD die Ausweisung droht, oder im Fall der Ukraine gab es gegenüber Israel und Juden in Deutschland keine breiteren Bekundungen von Solidarität, statt dessen Demonstrationen, "klein und leise pro Israel, groß und laut pro Palästina. Der Eindruck entstand, es gehe um einen Konflikt zwischen Israel und Palästina, nicht um den Kampf Israels gegen die Terrororganisation Hamas und ihre Verbündeten. Der einst breite Konsens darüber, was Terror ist, scheint verloren. Der Hamas ist es gelungen, die Realität zu verdrehen und aus legitimer Selbstverteidigung gegen den Hamas-Terror einen ungerechtfertigten Angriff auf die Bevölkerung Gazas zu machen."

Harvard-Präsidentin Claudine Gay ist zwar zurückgetreten (unsere Resümees). Aber Lawrence H. Summers, ehemaliger Präsident der Harvard-Universität, bekennt in einem längeren Twitter-Post, dass sein Vertrauen in die Leitung der Uni beschädigt bleibt. Was ihn stört, ist nicht, dass propalästinensischen Stimmen an der Uni viel Raum gegeben wird. "Ich stelle fest, dass der intellektuelle Erbe Edward Saids, Rashid Khalidi, der von vielen als antisemitisch angesehen wird, seit dem 7. Oktober zweimal eingeladen wurde, an der Universität zu sprechen. Natürlich sollte es jedem freistehen, zu sprechen oder Redner einzuladen. Ich stelle auch mit Enttäuschung, aber nicht wirklich mit Überraschung fest, dass Harvard meines Wissens nach keine Redner wie Dennis Ross oder Bret Stephens eingeladen hat, die pro-israelische Positionen vertreten." Und natürlich "gab es keine öffentliche Diskussion über die frühere Zusammenarbeit von Harvard mit von den Nazis kontrollierten deutschen Universitäten, über Quoten für Juden oder über die jüngste Diskriminierung israelischer Studenten."

Die Literaturwissenschaftlerin und Journalistin Rachel Salamander hat die Moses-Mendelssohn-Medaille in München erhalten. In ihrer Rede zur Preisverleihung, die in der SZ abgedruckt ist, thematisiert sie die Folgen des 7. Oktober und die neuerlichen, beziehungsweise nie verschwundenen Gefahren, denen jüdisches Leben ausgesetzt ist: "Der 7. Oktober 2023 hat unmissverständlich klargemacht, dass es wieder keine jüdische Generation gibt ohne Verfolgung und Vernichtung." Vieles, was in der Vergangenheit überwunden schien, sei heute wieder an der Tagesordnung: "Ist heute die Rede von Juden, so meist nurmehr noch im Kontext von Antisemitismus, KZ oder Krieg. Vor nicht allzu langer Zeit sah das noch ganz anders aus. Da rühmte man ihren Geist, ihre Weltläufigkeit, ihren Witz und ihre so großartigen Beiträge zur deutschen Kultur. Heute scheiden sich im pluralen Kulturmilieu an ihnen die Geister. Juden und Israel sind zum Zankapfel einer sich moralisch überlegen fühlenden Avantgarde geworden. Einladungen, Ausladungen, Entzweiungen, Cancel Culture, ein Kampf der offenen Briefe mit garantierter Medienaufmerksamkeit. Auf der Strecke bleibt die zivilisierte gegenseitige Anerkennung. Das Gespräch der Verschiedenen, das mir am Herzen lag, ist Vergangenheit."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.01.2024 - Gesellschaft

Im FAS-Gespräch sucht der Soziologe Armin Nassehi nach Gründen für den weltweiten Rechtspopulismus: "In der klassischen Industriegesellschaft konnte man die unterschiedlichen Schichten und Interessen einer Gesellschaft relativ einfach in politischen Konflikten abbilden. Inzwischen folgen Konflikte nicht mehr diesem Schema. Dieser Verlust an Übersichtlichkeit verbindet Arkansas, Südfrankreich und Nordhessen. Politik ist ja nicht dazu da, transparent wie in einem Hauptseminar Problemlösungen zu diskutieren, sondern die Anmutung zu haben, dass die Probleme lösbar sind. Und Populisten leugnen genau das. Sie sagen, dass nur sie die wahren Bedürfnisse der Menschen kennen, und sprechen den Eliten schon deshalb ab, irgendetwas zu einer Lösung beitragen zu können." Dabei haben wir keine "völlig depressive Gesellschaft", meint er: "Es ist eine depressive Form politischer Semantik und eine Überforderung durch Veränderungsdruck: Klimaschutz, Digitalisierung, Krieg, Migrationsfolgen. Für all das gibt es keine eingeführten, strukturierenden Konfliktlogiken wie das Verteilungsproblem in der klassischen Industriegesellschaft."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.01.2024 - Gesellschaft

Für die SZ hat sich Jens-Christian Rabe zum epischen Interview mit den Soziologen Hartmut Rosa und Steffen Mau getroffen. Mau hatte im letzten Jahr das viel beachtete Buch "Triggerpunkte" veröffentlicht, in dem er die These vertrat, die deutsche Gesellschaft sei weitaus weniger gespalten als vermutet. Nach den jüngsten Demos ist Mau verhaltener, vor allem aber Rosa widerspricht: "Ich fürchte, dass wir nicht so weit von amerikanischen Verhältnissen entfernt sind, wie wir es gerne hätten", glaubt er und fährt fort: "Ich glaube, die Spaltung liegt, wenn man so will, nicht auf der Einstellungsebene, ob man für oder gegen Umweltschutz ist. Sie liegt in dem Gefühl, die staatlichen Autoritäten seien viel zu aktiv, sie bedrohen meine Welt. Auf der anderen Seite dominiert das gegenteilige Gefühl, der Staat tue viel zu wenig, unser Alltag ist zutiefst umweltzerstörerisch, er ist homophob, er beruht noch immer auf kolonialer Ausbeutung. Die Spaltung liegt für mich also noch unterhalb der Weltbilder, es geht eher darum, welche Beziehung zur Welt und zur Politik man fühlt." Zudem mache sich auch im akademischen Milieu eine Ablehnung der Leitmedien breit, konstatiert Rosa. So höre er oft: "'Die Mainstream-Medien konsumiere ich nicht mehr, das ist Regierungspropaganda. Ich lese die SZ, die Zeit und den Spiegel nicht mehr, und ich sehe die Tagesschau und die Heute-Sendung nicht mehr an, weil die alle das Gleiche sagen.'"
Stichwörter: Rosa, Hartmut, Mau, Steffen

9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.01.2024 - Gesellschaft

Die CDU mit der AfD in einen Topf zu werfen, wie es viele Demonstranten in den vergangenen Tage getan haben, ist falsch und total kontraproduktiv, findet Sascha Lobo bei Spon. "Die toxische Erzählung, es gäbe eigentlich keinen Unterschied zwischen AfD und Union, kann sich in öffentlichen Debatten leicht verselbstständigen und schließlich bei manchen Menschen eine Scheu verringern, rechtsextrem zu wählen. Weil ja, wie manche Linke behaupten, eh kein Unterschied bestehe. Dabei ist wichtig zu erkennen, dass eine begriffliche Verschiebung in Deutschland die Diskussion erschwert. Wenn man die Debatte präzise und ernsthaft führen möchte, ist das Gegenteil von links nicht etwa rechts - sondern konservativ. Das lässt sich leicht belegen. Es stehen sich nach Selbstbezeichnung meist Linke und Konservative gegenüber. Wer von sich selbst als 'rechts' spricht, gehört nur selten noch zu den Konservativen, weil in 'rechts' viel zu viel 'rechtsradikal' mitschwingt." Die Konservativen haben "schon vor längerer Zeit die Gleichwertigkeit aller Menschen als Basis einer liberalen Demokratie akzeptiert und inzwischen verinnerlicht", meint Lobo. Das sollte man anerkennen, sonst beschädigt man die Demokratie, die man doch verteidigen will, meint Lobo.

In der taz sieht Lukas Franke den Faschismus in Deutschland wachsen, woran auch die Demonstrationen nichts ändern würden, "sie werden das Problem nicht an der Wurzel packen. Wohlstandschauvinismus und Weiter-so sind keine Option. Es braucht eine Erzählung, die Zukunftsängste übersetzt in Herausforderungen, die zu schaffen sind."

Die Linke braucht einen Plan, meint auch der Journalist Vincent Bevins, der im Interview mit der taz über sein Buch "If We Burn" spricht, das die Protestbewegungen der 2010er-Jahre untersucht. Viele dieser Bewegungen - in Nordafrika, der Türkei oder Lateinamerika - blieben erfolglos oder schlimmer, wandelten sich in rechte Bewegungen, weil die Aktivisten keine Vorstellung von der Zeit danach hatten: "Ich hörte solche Sätze von vielen Menschen, nicht nur in Brasilien. Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens, wie ich schon sagte, glaubten viele Linke, dass Massenproteste automatisch positiven Wandel bringen. Zweitens glaubten viele nicht an ihren eigenen Erfolg. Die Protestbewegung in Ägypten hoffte, viele Menschen auf die Straße zu bekommen, auf eine starke Reaktion gegen Polizeigewalt. Aber sie waren nicht darauf vorbereitet, die Hauptstadt zu übernehmen. In Brasilien wollten sie die Erhöhung der Busfahrpreise rückgängig machen, aber sie rechneten nicht mit so einer massiven Explosion auf der Straße. Was wir davon lernen können: Man braucht nicht unbedingt einen strikten Plan, an den man sich dogmatisch halten muss. Es wird viele Unberechenbarkeiten im Laufe des Prozesses geben. Man braucht aber eine generelle Vorstellung davon, was man erreichen will und wie man dort hinkommt. Außerdem benötigt man demokratische Organisationen, die flexibel genug sind, um auf unvorhersehbare Ereignisse reagieren zu können.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.01.2024 - Gesellschaft

Vanessa Vu versucht auf Zeit Online Gründe dafür zu finden, warum bei den Anti-AfD Protesten am Wochenende kaum Stimmen von Migranten und Geflüchteten zu hören waren. Was ist mit den antirassistischen Organisationen und Bewegungen passiert, die noch vor einigen Jahren sehr aktiv waren? Zwar gibt es bei den Demos explizite Statements gegen Rassismus, diese blieben aber "leeres Bekenntnis", wenn sich die Gesellschaft und vor allem die politische Mitte nicht selbstkritisch mit der aktuellen Migrationsdebatte auseinandersetzten: "Eine kompliziertere Erklärung für die kaum vertretenen Stimmen liegt in der prekären Struktur der Antirassismusarbeit. Vieles geschieht ehrenamtlich und voneinander losgelöst, es gibt keine etablierten Leuchtfiguren, die immer wieder gefragt werden und große Massen zusammenhalten. Somit werden viele antirassistische Bewegungen von lokalen Kleingruppen oder von prominenten Einzelpersonen getragen, die sich teilweise nur punktuell einbringen können und schnell ausgebrannt sind. Und diejenigen, die ihre Arbeit verstetigen konnten, indem sie beispielsweise gemeinnützige Organisationen gründeten, sind abhängig von öffentlichen Fördergeldern, die durch rechte Verleumdungskampagnen unter Druck geraten sind."