9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Geschichte

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9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.02.2024 - Geschichte

In der FR erinnert Arno Widmann an die Gründung des "Reichsbanner Schwarz Rot Gold" vor hundert Jahren, also des Wehrverbands der demokratischen Parteien in der Weimarer Republik. Mit ungefähr drei Millionen Mitgliedern war er der damals größte Wehrverband. "Wir sprechen heute wieder von 'wehrhafter Demokratie'. Damals hatte das einen deutlich härteren Klang. Erstens ging es tatsächlich auch um Straßenkampf. Zweitens aber durfte Deutschland - das waren die Bestimmungen des Versailler Vertrages - nur über ein sehr limitiertes Kontingent an bewaffneten Truppen verfügen. 'Wehrhaft' war also nach innen und nach außen eine riskante Ansage. Sie war außerdem auch noch eine Misstrauenserklärung gegenüber der Reichswehr, der man immer mehr zutraute, sich im Zweifelsfall gegen die Republik zu stellen. Die Millionen überzeugten Republikaner des Reichsbanners waren so etwas wie eine Schutztruppe der Weimarer Republik. Sie waren aber natürlich zunächst einmal der Beleg dafür, dass Weimar nicht zum Scheitern verurteilt war."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.02.2024 - Geschichte

In der NZZ erinnert Ulrich M. Schmid an die Ausbürgerung Alexander Solschenizyns 1974, die die Sowjet-Führung anordnete. Anlass bot damals die Veröffentlichung des "Archipel Gulags" und der "Brief an die sowjetische Führung". "Für seine Heimat empfahl Solschenizyn keineswegs die Demokratie, die er von manipulierten Emotionen und Ränkespielen geprägt sah. Er wünschte sich ein autoritäres System, das aber die bürgerlichen Freiheiten respektieren solle. (...) Überhaupt zog Solschenizyn bereits in diesem Brief gegen die 'katastrophale Schwäche des Westens' vom Leder. (...) Russland habe sich zwar entschlossen, zum Westen zu gehören, aber im Gegensatz zu Europa und den Vereinigten Staaten blieben dem weniger entwickelten Russland noch zwanzig Jahre bis zum Ende der Sackgasse. Diese Zeit gelte es jetzt zu nutzen. Solschenizyn bezeichnete dabei den 'nationalen Egoismus' als hohen politischen Wert. Bereits im 'Brief an die sowjetische Führung' sind also alle Elemente angelegt, die Anfang der 2000er Jahre zum historisch unwahrscheinlichen und ideologisch naheliegenden Schulterschluss zwischen dem ehemaligen Lagerhäftling Solschenizyn und dem ehemaligen Geheimdienstoffizier Putin führten."

Deutschland war schon immer ein Export-Land, erklärt der Historiker Frank Bösch im Tagesspiegel-Interview mit Jan Kixmüller. Alte NS-Eliten gaben hierbei in den 1950ern den Ton an, mit wem Geschäfte gemacht werden sollten. "Die Kontinuität von NS-Eliten, etwa im Auswärtigen Amt und anderen Institutionen, förderte ein Verständnis für autoritäre Staaten. Viele Botschafter berichteten tolerant über Militärputsche und sahen diese als Garant für Sicherheit und Ordnung. Auch viele Unternehmen bewerteten die Ausschaltung von Gewerkschaften und Protesten als Stabilität. Mit Verweis auf die nationalsozialistische Vergangenheit argumentierten viele Eliten, dass die Deutschen nicht als 'Schulmeister' für Menschenrechte und Demokratie auftreten sollten. Die Linke argumentierte seit den 1960er Jahren genau umgekehrt: Gerade wegen unserer Vergangenheit sollten die Deutschen sich einmischen und Opfern helfen."

Arno Widmann erinnert in der FR an das Ende des Afghanistan-Krieges vor 35 Jahren, an dessen Ende eine Millionen Afghanen gestorben waren. "In Afghanistan mochte die Sowjetunion davon ausgegangen sein, dass ihr die blamable Niederlage, die das britische Weltreich hier Ende des 19. Jahrhunderts erlitten hatte, erspart bleiben würde, weil es inzwischen Flugzeuge gab, die auch in entlegensten Bergtälern versteckte Stellungen bombardieren konnten. Aber es gab inzwischen auch leicht transportierbare Abwehrraketen. Und die USA statteten den afghanischen Widerstand großzügig damit aus. Angebot erzeugt Nachfrage: In Windeseile entstanden immer neue kampfbereite Gruppierungen (...). Auch die Frage der Verschleierung oder Nichtverschleierung von Frauen spielte eine Rolle. Sie alle wurden von den USA und ihren Verbündeten - zu denen damals in der Afghanistanpolitik die Volksrepublik China zählte - mal mehr, mal weniger massiv unterstützt."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.02.2024 - Geschichte

"Der Umgang der NS-Behörden mit Schwarzen war insgesamt widersprüchlich", sagt die Historikerin Susann Lewerenz im taz-Gespräch: "Klar ist aber, dass es früh rassistische Ausgrenzung sowie individuelle Verfolgung durch Polizei und politische Gruppierungen gab. Ein Einschnitt war die Ermordung des Schwarzen Kommunisten Hilarius Gilges 1933 wohl durch SS und SA in Düsseldorf. Überhaupt wurden Schwarze Linke, die sich in den 1920er-Jahren im Zuge der Antikolonialismus-Bewegung zusammengefunden hatten, gleich nach der Machtübergabe an Hitler 1933 massiv verfolgt." Aber: "1934 gab es eine Diskussion zwischen dem Auswärtigen Amt und dem Reichsinnenministerium darüber, ob man Menschen aus den ehemaligen Kolonien aus der Diffamierung ausnehmen könnte. Das hatte nichts mit Menschenfreundlichkeit zu tun, sondern man glaubte die an Frankreich und Großbritannien verlorenen Kolonien auf diplomatischem Wege zurückbekommen zu können. Daher sollten die Siegermächte des Ersten Weltkriegs, die den Deutschen ohnehin ihre Grausamkeit in den Kolonien vorwarfen, nicht sagen können, dass Schwarze Menschen aus den Kolonien auch hierzulande diskriminiert würden."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.02.2024 - Geschichte

In georgischen Tbilissi wurde die Ikone der heiligen Matrona von Moskau, von der Stalin 1941 den Segen zum Sieg über Deutschland erhalten haben soll, mit Farbe besprüht, was auch in Russland für Empörung sorgte, berichtet Konstantin Akinsha in der NZZ. An der Figur, die die russisch-orthodoxen Kirche erst 1993 heiliggesprochen hat, lässt sich das Verhältnis von der Kirche zu Stalin ablesen, meint Akinsha: "Der Kult um die heilige Matrona ist von zentraler Bedeutung, da er zur Verschmelzung zweier Ideologien beiträgt - des orthodoxen Christentums und des militaristischen Kults von Putin um den großen Sieg im 'Vaterländischen' Krieg. Auch heute braucht Russland verzweifelt ein Wunder, um den Sieg über die sogenannten ukrainischen Faschisten zu erringen. Um dieses Ziel zu erreichen, scheinen Putin und Patriarch Kirill bereit zu sein, in ihren Gebeten den heiligen Stalin anzurufen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.02.2024 - Geschichte

Gerade gegen Ende entfaltete der europäische Kolonialismus noch äußerste Gewalt, schreibt der Afrikanist Andreas Eckert in der virtuellen FAZ-Beilage "Bilder und Zeiten" und erinnert etwa an das Wüten der Briten zur Zeit des Mau-Mau-Aufstands mit 20.000 Toten. Und doch lässt sich für Eckert Kolonialismus nicht auf ein einseitiges Gewaltgeschehen reduzieren, denn "der koloniale Staat stand auf dünnem Eis. Er brauchte die Legitimität und die Erzwingungsmacht einheimischer Autoritäten, um Steuern einzutreiben und Arbeitskräfte zu mobilisieren. Und er brauchte lokales Wissen. Diese Konstellation ließ Zwischenräume entstehen, in denen sich diverse einheimische Gruppen Möglichkeiten schufen, ihre Interessen in und mit dem Kolonialismus durchzusetzen. Dies galt etwa für jene Einheimischen, die in der kolonialen Verwaltung tätig waren."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.02.2024 - Geschichte

Die Ukraine "erlebt gerade ihre zweite Wiedergeburt" als Nationalstaat, schreibt Ulrich M. Schmid in der NZZ und gibt einen historischen Überblick über drei verschiedene Nationalstaatsmodelle, das deutsche, französische und italienische, die die Ukraine im Laufe ihrer Geschichte durchlief: "In Galizien gab es bereits 2013 eine überwältigende Mehrheit, die sich zur ukrainischen Nation bekannt hat. Im Zeitraum zwischen 2013 und 2015 stieg auch die Zahl der Befragten, die sich in der Zentral- und Ostukraine als 'Ukrainer' bezeichneten, deutlich an. Der Grund dafür liegt in der patriotischen Reaktion auf die doppelte russische Aggression in der Krim und in der Ostukraine im Jahr 2014. Der offene Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat das ukrainische Nationalprojekt auch in der Ostukraine weiter gestärkt. In diesem Sinne ist Putin der wichtigste Geburtshelfer einer ukrainischen Nationsbildung, die mit einem 'deutschen' Sammeln der Länder begann, sich in einer 'französischen' kulturellen Homogenisierung fortsetzte und in einer 'italienischen' Ost- und Südexpansion abgeschlossen wurde."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 31.01.2024 - Geschichte

Der 27. Januar war Holocaust-Gedenktag. Aber kann man ihn begehen, ohne den 7. Oktober zu erwähnen? Nein, meint Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, in der Jüdischen Allgemeinen: "Der 7. Oktober hat auch in der Frage der Erinnerung und des Gedenkens an die Schoa eine Entwicklung katalysiert. Was bedeutet es 79 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz, wenn junge Linke angesichts der Solidarisierung der deutschen Politik mit Israel 'Free Palestine from German Guilt' skandieren? Wenn an der Universität der Künste in Berlin Lynchmorde an Juden verherrlicht werden?" Auch Saba-Nur Cheema und Meron Mendel fragen in ihrer FAZ-Multikulti-Kolumne, wie man künftig des Holocaust gedenken soll - allerdings ohne auf den 7. Oktober zu sprechen zu kommen.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.01.2024 - Geschichte

Auf vielen Demonstrationen ist jetzt das Schild "AfD wählen ist so 1933" zu lesen, schreibt Moritz Eichhorn in der Berliner Zeitung. Dies sei historisch falsch: "Wer sich die historischen Parallelen genau anschaut, kommt zu einer anderen Zeitrechnung als diese Demonstranten. Wir haben nicht so sehr 1933. Wir haben viel eher 1923. Nach dem Putschversuch der NSDAP am 9. November 1923 wurde die Partei im gesamten Deutschen Reich verboten, zuvor war das schon in Preußen, Hamburg, Baden und anderen Ländern geschehen. Adolf Hitler kam ins Gefängnis, das Parteivermögen wurde gepfändet, die Parteizentrale geschlossen, die Zeitung der Nazis - Stichwort Social Media - verboten." Das tat dem Erfolg der NSDAP keinen Abbruch und ein Verbot der AfD wird diese auch nicht stoppen, so Eichhorn. "Der Schlüssel zur Abwehr der AfD ist die Union. Sie zieht nicht nur die Brandmauer. Sie ist die Brandmauer."
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9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.01.2024 - Geschichte

Auf geschichtedergegenwart.ch skizziert die Historikerin Julia Hauser die Verflechtungsgeschichte des Vegetarismus zwischen Europa, den USA und Indien mit besonderem Blick auf die rechte Schlagseite der Bewegung. So postulierten etwa Vertreter nationalistischer Strömungen in Indien, dass nur eine vegetarische Ernährung "die Einwohner des Subkontinents für den Kampf gegen die Kolonialmacht stärken könne. Für diese Strömung des Hindu-Nationalismus wurde die Kuh, im Hinduismus ein heiliges Tier, zentral. Vielerorts entstanden Kuhschutzgesellschaften, die nicht nur das Leben von Kühen schützen wollten, sondern auch gegen ihre angeblichen Feinde vorgingen - auch unter Einsatz von Gewalt, der Menschen das Leben kostete. Die Aggressionen richteten sich sowohl gegen indische Muslime als auch gegen Briten, die als Rindfleischkonsumenten wahrgenommen wurden, die Gewalt jedoch vor allem gegen erstere. Mehr und mehr wurden Muslime als Fremde, als zur entstehenden Hindu-Nation nicht Zugehörige stigmatisiert, während die Angehörigen der Hindu-Nation auf die vermeintlichen 'Aryas' zurückgeführt wurden, die zeitgleich auch in Europa - als 'Arier' - Indologen und Rassentheoretiker beschäftigten. Zeitgenössische Drucke, die zur Agitation genutzt wurden, stellten Muslime als entfesselte Mischwesen zwischen Mensch und Tier dar, die das Leben der heiligen Kuh bedrohten."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.01.2024 - Geschichte

Noch vor der Gründung Israels kolonisierten zionistische Juden das Land, indem sie es Arabern abkauften, erzählt Dan Diner in der FAZ. Aber schon früh habe "der Schatten der jüdischen Landnahme und der Vertreibung der Palästinenser auf Israel" gelegen. Natürlich kam es zu Gewalt und zu heute absurd anmutenden Konstellationen: "Während des israelischen Gründungskrieges 1948 vertrieben linksgerichtete israelische (Para-)Militärs Einwohner arabischer Dörfer und Ortschaften. An den Kühlern der sie zur Tat befördernden Fahrzeugen prangten die Konterfeis Stalins und Titos. Dieses Ereignisbild führt in die Endphase des Zweiten Weltkrieges zurück, als unter kommunistischem Vorzeichen in Ostmittel- und Südosteuropa Vertreibungen und ethnische Säuberungen exekutiert wurden, um in rotes Tuch gehüllte homogene Nationalstaaten zu etablieren. Mit solchen Analogien und Affinitäten armiert ließ sich Derartiges im Übergang vom britischen Mandat zum Staate Israel offenbar leichter begründen."

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Auch bei den gegenwärtigen Protesten gegen Rechts liegt der Vergleich zur Weimarer Republik nahe, aber es gibt einen entscheidenden Unterschied, notiert der Historiker Karl-Heinz Göttert, aktuelles Buch "Massen in Bewegung", in der Welt. Damals waren es Kampfbünde, die auf die Straße gingen, heute ist es die Zivilgesellschaft: "Schon die beiden Revolutionen in der ehemaligen DDR, am 17. Juni 1953 und am 9. November 1989, verdankten sich keinen Bünden, sondern spontanen Aktionen der Bürger. Der erste Protest wurde militärisch erstickt, der zweite war mit knapper Not erfolgreich. Auch die Geschichte der Bundesrepublik kennt Protestaktionen von großer Härte, von Polizeiversagen und unverantwortlicher Gewalt der Protestierenden. Man muss nur an die Zeiten des SDS erinnern, dessen Aktionen auf beiden Seiten eskalierten. Auch die Regierenden verloren gelegentlich die Contenance, wenn Helmut Schmidt etwa über die Demonstranten gegen den Nato-Doppelbeschluss herzog ... Proteste gegen Flugzeuglandebahnen oder AKW-Werke, gegen Braunkohleabbau oder die Preisgabe der Klimaziele, gegen den Krieg in der Ukraine oder gegen das Vorgehen Israels in Palästina verliefen alles andere als harmonisch."