9punkt - Die Debattenrundschau

Welcher Fluss und welches Meer?

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.12.2023. Masha Gessen, die gerade erst im New Yorker den Gaza-Streifen mit den Ghettos der Nazis verglich, soll am Freitag den Hannah-Arendt-Preis der Heinrich-Böll-Stiftung erhalten. Im ZeitOnline-Gespräch beruft sie sich auf Arendt, die auch Vergleiche mit den Nazis gezogen habe. "Ist dies das 'politische Denken', das die Böll-Stiftung mit Preisen auszeichnet", fragt Perlentaucher Thierry Chervel.  In Yascha Mounks Blog Persuasion blickt Aaron Sarins auf den Antisemitismus in China. Außerdem: Im Guardian fragt Timothy Garton Ash, wie die EU ohne einen einzigen Hegemon funktionieren soll.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.12.2023 finden Sie hier

Ideen

Die Autorin Masha Gessen, die vor einigen Tagen in einem israelkritischen Essay im New Yorker (Unser Resümee) unter anderem anprangerte, das "deutsche Bestehen auf der Singularität des Holocaust" verstelle den Blick auf israelische Verbrechen gegen die Menschlichkeit, soll am Freitag den Hannah-Arendt-Preis der Heinrich-Böll-Stiftung erhalten. Im ZeitOnline-Gespräch mit Peter Neumann, beruft sich Gessen auf Hannah Arendt, die 1948 die israelische Freiheitspartei mit den Nazis verglich: "Viele große jüdische Denker, die den Holocaust überlebten, haben nach dem Krieg direkte Vergleiche mit den Nazis gezogen. Es war für sie wesentlicher Bestandteil des Projekts 'Nie wieder'. Hannah Arendt  verglich die Freiheitspartei mit den Nazis nicht nur wegen ihres Nationalismus, sondern weil sie Gewalt anwendete gegen Zivilisten aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Der offene Brief bezog sich auf einen Angriff, den zionistische Einheiten im Frühjahr 1948 auf das arabische Dorf Deir Jassin im Nordwesten von Jerusalem verübt hatten, das in keiner Weise am Krieg in Palästina beteiligt war. Es ist eine Kritik an rassistisch motivierter Gewalt. Mir ist bewusst, dass diese Art des Vergleichs insbesondere in Deutschland schnell als Relativierung des Holocausts gilt. Deshalb ist es für mich auch so wichtig, dass eine so differenzierte und kluge Denkerin wie Arendt diesen Vergleich nicht gescheut hat."

"Ist dies das 'politische Denken', das die Böll-Stiftung mit Preisen auszeichnet", fragt ein entsetzter Perlentaucher Thierry Chervel in einem Twitter-Thread. Gessens Essay kulminiert in einem Vergleich des Gaza-Streifens mit den Ghettos, die die Nazis in Osteuropa für die Juden anlegten. Und nun werde "das Ghetto liquidiert". Chervel dazu: "Die Infamie dieser Gleichsetzung wird noch deutlicher, wenn man ein paar Zahlen vergleicht: Das Warschauer Ghetto hatte laut Wikipedia 450.000 Einwohner auf 3,1 Quadratkilometer, das heißt eine Bevölkerungsdichte von 146.580 Einwohnern pro Quadratkilometer. Der Gazastreifen hat 2,048 Millionen Einwohner auf 365 Quadratkilometer, das heißt eine Bevölkerungsdichte von 5.328 Einwohnern pro Quadratkilometer."

Mit das Bizarrste ist die Rolle, die Deutschland bei den internationalen Diskussionen über die Hamas-Pogrome und die israelische Reaktion darauf zugebilligt wird. Dabei hat Deutschland bei den jüngsten UN-Resolutionen doch eher eine wankende Haltung manifestiert. Als wollten sie Masha Gessens Essay sekundieren, veröffentlichen Dutzende Professoren internationaler Unis einen Aufruf unter dem Titel: "Germany's Departure from Reason: Global Scholars' Letter Condemning Germany's Role in Silencing and Contributing to Palestinian Genocide." Ihr Vorwurf: "Die deutsche Regierung und die Medienplattformen missbrauchen die Erinnerung an den Holocaust und setzen jede Kritik am Staat Israel mit Antisemitismus gleich. Gleichzeitig propagieren sie die unbegründete Vorstellung, dass die zugewanderte Bevölkerung in Deutschland, insbesondere Muslime, von Natur aus antisemitisch sind." Auf der Hand liegt für die Autoren außerdem Folgendes: "Im Wesentlichen verfolgt der Staat Israel eine völkermörderische Politik gegen die Palästinenser, die darauf abzielt, ihnen ihre Heimat zu nehmen."

Wie würden die Gründerväter der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, deren 75. Jahrestag wir in diesem Dezember begehen, wohl auf den Krieg in Nahost, das Schicksal der Uiguren oder die Folterpolitik nach dem 11. September blicken, fragt der Rechtswissenschaftler Philippe Sands, der im Guardian skizziert, was alles zu tun bleibt. Etwa im Blick auf die Klimakrise: Wir müssen "über die Rechte des Menschen hinausgehen und die Rechte der Natur anerkennen. Was das Klima angeht, sagen uns die Wissenschaftler, dass das, was sehr bald kommen wird, katastrophal sein wird und dass das Versäumnis der CO28, sich zum Ausstieg aus fossilen Brennstoffen zu verpflichten, unzureichend sein wird. Vielleicht wird es der Umwelt gut gehen, aber uns Menschen nicht. Denken Sie über Rechte im Zusammenhang mit der Klimakrise nach. Denken Sie an Ökozid, der als fünftes internationales Verbrechen in die Satzung des IStGH aufgenommen werden soll."

Bei einer Diskussion am Berliner Wissenschaftskolleg zur Lage in Israel, bei der die Sozialanthropologin Michal Kravel-Tovi und der Philosoph Omri Boehm sprachen, hörte Jürgen Kaube in der FAZ vor allem Einseitiges und Abgehobenes: "Boehm polemisierte gegen die 'Zwei-Staaten-Lösung', die völlig unmöglich geworden sei und nur noch als Mythos diene. Sein eigener Vorschlag eines binationalen föderalen Gemeinwesens bezeichnete er hingegen als Utopie. Rückfrage: Was unterscheidet eigentlich eine Utopie von einem Mythos? Was unterscheidet beides voneinander vor allem in einer Situation, in der die eliminatorischen Absichten der Hamas überdeutlich hervorgetreten sind, einer Hamas, die seit Jahrzehnten uneingeschränkt über den Gazastreifen herrscht? Das generelle Rückkehrrecht für Palästinenser in den binationalen Staat liefe auf 6,8 Millionen Juden und acht bis neun Millionen Palästinenser hinaus. Die Frage, wie unter solchen Umständen politische Teilhabe geregelt werden solle, erhielt den Bescheid, die palästinensische Mehrheit sei von Israel zu akzeptieren, für weitergehende Details fühlte sich der Philosoph nicht zuständig."

"An den privat finanzierten amerikanischen Universitäten wächst mittlerweile der Unmut der Geldgeber, jüdische Mäzene ziehen wegen der antisemitischen Auswüchse ihre Spenden zurück", berichtet Maria Ossowski in der Jüdischen Allgemeinen: "Es ist nicht auszudenken, welch ein Aufschrei durch die Szene ginge, wenn Deutschland darüber nachdächte, seine Hochschulfinanzierung an einen zielführenden Kampf gegen Antisemitismus zu binden. Eine absurde Idee? Zumindest keine realistische, auch wenn sie durchaus pragmatische Vorteile böte. Beim Geld hört bekanntermaßen die Freundschaft auf. Und beim Geist? Die FAZ berichtet via Wall Street Journal von einer kleinen Umfrage, die der Politikwissenschaftler Ron E. Hassner aus Berkeley mit 250 Studenten gemacht hat. 85 Prozent von ihnen bejahten die Parole 'From the river to the sea, Palestine will be free'. Welcher Fluss und welches Meer gemeint seien, wollte Hassner wissen. Einige antworteten, beim Fluss handle es sich um den Nil. Andere vermuteten den Euphrat. Das Meer sei die Karibik. Oder der Atlantik. (Es ist zu fürchten, dass bei deutschen palästinensischen Aktivisten die Antworten ähnlich faktenfrei ausfallen.)"
Archiv: Ideen

Politik

Erstaunlich: Dies hier ist ein Statement der deutschen Botschaft in Peking auf der chinesischen Internetplattform Waibo. Es wendet sich gegen gewisse Ausschreitungen in den Kommentaren unter Botschaftsbeiträgen, besonders Gleichsetzungen moderner Staaten mit Nazis, die in China offenbar gerade in Bezug auf Israel en vogue sind. Mit Deepl übersetzt liest sich der letzte Absatz des Statements so: "Wir möchten auch klarstellen, dass diejenigen, die sich die Mühe gemacht haben, die israelische Flagge mit Hakenkreuzen in ihren Avataren zu kombinieren, entweder ignorante Idioten oder schamlose Bastarde sind! Solche Konten werden von uns dauerhaft gesperrt. Wir danken Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und Ihr Verständnis."



Gefunden haben wir dieses Statement in einem Beitrag Aaron Sarins in Yascha Mounks Blog Persuasion. Sarin berichtet darin über einen wachsenden Antisemitismus in China: "Ein Video von Noa Argamani, einer israelischen Frau mit chinesischer Mutter, die am 7. Oktober von der Hamas entführt wurde, zieht nur Verachtung auf sich: Sie wird beispielsweise in einem Beitrag, der Tausende von Likes erhält, als 'Nazi' bezeichnet. Influencer mit Millionen von Followern bezeichnen den gesamten Staat Israel als 'Terrororganisation'."

Im Tagesspiegel-Gespräch mit Jan Kixmüller erklärt der Historiker Herfried Münkler, wie eine neue Weltordnung aussehen könnte. Im Moment befänden wir uns in einer chaotischen Übergangsphase von einer Ordnung zur anderen, denn "die alte mit der westlichen Hegemonie der USA" sei zu Ende gegangen. Münkler geht von "einem Modell der Pentarchie" aus, "also einer Ordnung der großen Fünf. Den Demokratien mit den USA und der EU stehen dabei die autokratischen und technokratischen Staaten Russland und China gegenüber - hinzu kommt wohl noch Indien als fünfte Macht. Es könnte stabilisierend wirken, wenn diese fünf Mächte gemeinsam darauf verzichten würden, sich gegenseitig ihre Ordnung aufzwingen zu wollen, sondern sich auf Regeln verständigen, die sie einhalten wollen - und dabei ihre jeweiligen Einflussbereiche friedlich zu halten. Ein einzelner Akteur kann das nicht. Die USA kämen beispielsweise an die Grenzen ihrer Möglichkeiten, wenn nun ein weiterer Krieg um Taiwan ausbräche. Eine Pentarchie hingegen könnte zur Befriedung der Welt beitragen."
Archiv: Politik

Europa

"Diana und Actaeon" des italienischen Melers Giuseppe Cesari erregte an einer französischen Schule Anstoß.

Mehdi Gherdane berichtet in Le Parisien über ängstliche Debatten an zwei Schulen in der Pariser Banlieue. In einer Schule in Mantes-la-Jolie äußerten sich Eltern muslimischer Schüler auf Whatsapp zornig, weil in einer Schulzeitung Hamas als "terroristisch" bezeichnet worden war. Eine Schulversammlung konnte die Erregung abmildern, aber einige Lehrer zogen es vor, ihr "Recht auf Rückzug" in Anspruch zu nehmen, das ihnen seit dem Mord an Samuel Paty zusteht. An einer anderen Schule fühlten sich muslimische Schüler (oder ihre Eltern) verletzt, weil ein Gemälde aus dem 17. Jahrhundert mit weiblichen Akten gezeigt worden war. "Diese Debatte erinnert an die Schwierigkeiten, die Lehrer haben, bestimmte Themen anzusprechen. Die Beschäftigung mit dem Islam, dem Säkularismus oder der Sexualerziehung sind zu heiklen Fächern geworden und immer mehr Lehrer geben zu, dass sie Selbstzensur üben. Diese Liste muss nun um den israelisch-palästinensischen Konflikt ergänzt werden."

Beim EU-Gipfel diese Woche werden zwei Europas aufeinandertreffen, ein liberales und ein populistisches - und was sie entscheiden, wird erheblichen Einfluss auf die Frage haben, ob wir uns auf ein "Europa des Krieges oder des Friedens, der Diktatur oder der Demokratie, des Zerfalls oder der Integration" zubewegen, konstatiert Timothy Garton Ash im Guardian: "Kann eine demokratische, auf Gesetzen basierende politische Gemeinschaft aus 27 sehr unterschiedlichen Ländern ohne einen einzigen Hegemon tatsächlich zusammenhalten und liefern? Die Frage einer Reform der EU, damit sie nicht von Schurken wie Orban untergraben werden kann, wird im Allgemeinen im Zusammenhang mit einer möglichen Erweiterung zur Schaffung einer Union mit mehr als 35 Mitgliedstaaten gestellt, aber das Dilemma ist bereits da. Da die europäische Parteienpolitik fragmentiert ist, bedeutet dies, dass man nicht nur mit 27 verschiedenen nationalen Interessen ringen muss, sondern auch mit der zusätzlichen Komplexität mehrerer Koalitionsregierungen. Und um es klar zu sagen: Diese Art und das Ausmaß einer nicht-hegemonialen Union durch Zustimmung hat es in der europäischen Geschichte noch nie gegeben und es gibt sie nirgendwo anders in der heutigen Welt."

Im Krieg in der Ukraine geht es dem russischen Regime vor allem auch um die Zerstörung der ukrainischen Identität anhand ihrer Kulturgüter, erinnert Kia Vahland in der SZ. Während sich der Westen mit Banalitäten beschäftigt, tobt in der Ukraine ein Kulturkampf, so Vahland: "Im Westen beschränkt sich die Diskussion über die kulturelle Dimension des Krieges gerne auf die selbstgenügsame Frage, ob man jetzt diese oder jene russische Sängerin noch einladen, diesen oder jenen russischen Klassiker noch inszenieren sollte. Ehrlicher wäre es, sich einzugestehen, welche Spuren der russische Imperialismus auch hierzulande gezogen hat. Haben nicht auch Deutsche den Maler Kasimir Malewitsch einst trotz seiner polnisch-ukrainischen Wurzeln unter 'Russischer Avantgarde' summiert? Wer sprach in Westeuropa vor 2022 von der dunklen Seite des Kultes um den russischen Nationaldichter Alexander Puschkin?"
Archiv: Europa

Geschichte

Um die Verbindung zwischen antirassistischem Aktivismus und Antisemitismus nicht nur an amerikanischen Universitäten zu verstehen, blickt der Kulturwissenschaftler Christian Voller auf den "Forschung und Lehre"-Seiten der FAZ zurück ins Brooklyn der Sechziger, ein "Stadtteil New Yorks, der ausgesprochen jüdisch geprägt war, zugleich aber einen hohen afroamerikanischen Bevölkerungsanteil hatte, der seit den Fünfzigerjahren stark anstieg. Das Zusammenleben auf engem Raum in den zusehends verwahrlosten Vierteln zeitigte früh schon Spannungen, und es etablierte sich ein spezifischer, von Teilen der Black-Power-Bewegung dann vehement befeuerter Antisemitismus, der die Juden vor Ort als Weiße adressierte oder zumindest als potentiell Weiße. Denn die Juden, so das Argument, könnten doch jederzeit in der Mehrheitsbevölkerung aufgehen, ein Privileg, das den Schwarzen aufgrund ihrer Hautfarbe verwehrt sei. Dieser milieuspezifische Antisemitismus, der sich mit bestimmten, nicht verallgemeinerbaren Erfahrungen verband, ist gut verbrieft. Wir finden ihn etwa in den Werken James Baldwins, und er zieht sich auch durch das Schrifttum der Black-Power-Gruppen."

Bestellen Sie bei eichendorff21!
Ebenfalls in der FAZ schaut Heinrich August Winkler, der ein Buch zur Geschichte der deutschen Revolutionen geschrieben hat, zurück auf das Jubiläumsjahr zur 175. Wiederkehr der Revolution von 1848: "Immer wieder wurde im Jubiläumsjahr 2023 die Klage laut, dass sich 1848 nicht die Demokraten, sondern die gemäßigten, zur Verständigung mit den alten Gewalten bereiten Liberalen durchgesetzt hätten. Besonders ausgeprägt geschah und geschieht dies in populärwissenschaftlichen Darstellungen des 'tollen Jahres' und besonders da, wo von radikalen Demokraten wie Friedrich Hecker und Gustav (von) Struve, den Führern des ersten badischen Aufstands vom April 1848, die Rede ist. Hinter ihrer Forderung nach einer deutschen Republik stand nur eine Minderheit der damaligen Deutschen und nicht einmal die Mehrheit derer, die sich als Demokraten verstanden. Wäre der Versuch gelungen, diese Staatsform gegen den Willen der Mehrheit zu erzwingen, wäre das Ergebnis eine Erziehungsdiktatur, aber keine Demokratie gewesen. Bis hinein in die Geschichtswissenschaft war das Bedauern zu hören, die Demokraten seien in der Paulskirche unzureichend vertreten, die Nationalversammlung also falsch zusammengesetzt gewesen. Da die Konstituante im Mai 1848 aus freien und annähernd gleichen Wahlen hervorgegangen war, mutet diese Beschwerde merkwürdig und nicht eben demokratisch an."
Archiv: Geschichte