9punkt - Die Debattenrundschau

Das eklatante Schrumpfen der Mitte

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.11.2023. Juden, die Israel kritisieren, sollen in Deutschland "durch Diskreditierung zum Schweigen gebracht" werden, meint Deborah Feldman im SZ-Gespräch. Im Spiegel spricht sie von Bedrohung. "Muss sie Angst haben, wenn sie vor die Tür geht, dass dort ein Antisemitismus-Beauftragter steht und sie zusammenschlägt", fragt die Welt. Auf ZeitOnline skizzieren die Politologen Carlo Masala und Nico Lange, was die Welt nach einem russischen Sieg über die Ukraine erwarten würde. In der iranischen Opposition dominieren die monarchistischen Kräfte, berichtet geschichtedergegenwart. Und in der taz will der Philosoph Tilo Wesche der Natur Eigentumsrechte einräumen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.11.2023 finden Sie hier

Europa

Jüdische wie nicht-jüdische Stimmen, die sich nicht bedingungslos an die Seite der israelischen Regierung stellen, sollen in Deutschland "durch Diskreditierung zum Schweigen gebracht werden", sagt Deborah Feldman, die derzeit fast täglich Interviews gibt, im SZ-Gespräch mit Sonja Zekri: "Inzwischen empfinde ich es als Furcht einflößend, wie stark die Bundesregierung Stimmung macht gegen die, die für Frieden und nicht für die Zerstörung Gazas sind. Wir müssen darüber reden, ob es schon Repressalien sind, was viele erleben, Juden, die sich für eine friedliche Koexistenz starkmachen oder die eine starke Verbindung zu Palästinensern haben, kleine Leute wie ein Museumsführer oder etablierte Künstler, die nicht ausstellen oder nicht auftreten dürfen. Preisverleihungen an palästinensische Autoren und Autorinnen werden verschoben. Ich habe jüdische Freunde, die Kinder von Holocaust-Überlebenden sind, und sie empfinden es als Retraumatisierung, wenn die offizielle jüdische Gemeinde es schafft, ihre Aufträge zu sabotieren oder ihnen Bühnen wegzunehmen. Mir scheint, Deutschland hält sich seine Juden, aber nur die, die ihre etablierte Rolle spielen." Und weiter: "Deutschland brauchte Israel für die Konstruktion einer neuen Identität."

Im Spiegel-Gespräch mit Markus Feldenkirchen hatte Feldman gar davon gesprochen, als Jüdin, die Israel kritisiert, von Juden, deutschen Konvertiten und von deutschen Antisemitismus-Beauftragten bedroht zu werden. In der Welt fragt Alan Posener: "Muss sie Angst haben, wenn sie vor die Tür geht, dass dort ein Antisemitismus-Beauftragter steht und sie zusammenschlägt? Schmieren Konvertiten Davidsterne an ihre Tür? Rotten sich deutsche Juden zusammen, um ein Feldman-freies Palästina vom Jordan bis zum Mittelmeer und hierzulande die Herrschaft des Rabbinats zu fordern? Klopfen Polizisten im Morgengrauen an Feldmans Tür, weil sie den Zentralrat nicht mag?"

Der Westen habe seine Glaubwürdigkeit längst verspielt, sagt der in Jerusalem lebende palästinensische Philosoph Sari Nusseibeh im SZ-Gespräch: "Ständig werden andere Länder über Menschenrechte belehrt, aber wenn es um Israel geht, dann ist der Schutz der Bevölkerung in Gaza auf einmal weniger wichtig als das israelische Recht auf Selbstverteidigung. Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit interessiert im Westen gefühlt kaum jemanden." Gefragt, ob den Palästinensern Selbstkritik fehle, antwortet er: "Als Palästinensern fehlt uns die politische Einheit, das ist unser Problem, ich weiß. Und ja, wir sind stur. Wissen Sie, ich bin gegen Hamas, aber zur Wahrheit gehört eben auch, dass Benjamin Netanjahu die Hamas jahrelang unterstützt hat, weil er glaubte, dass dies der beste Weg sei, um die Gründung eines palästinensischen Staates zu verhindern. Israels jetzige rechte Regierung will keine einheitliche palästinensische Bewegung, dabei wäre das gut, um endlich den Friedensprozess anzustoßen."

"Ein russischer Sieg über die Ukraine würde das Ende der Welt, wie wir sie kennen, einläuten", warnen die Politologen Carlo Masala und Nico Lange auf ZeitOnline: "Die Ukraine würde dann ein permanenter Unruheherd im Osten Europas bleiben. Die Streitkräfte der Ukraine würden ihren Kampf gegen die russischen Invasoren fortsetzen, entweder regulär oder als Partisanen, im Untergrund und mit terroristischen Anschlägen. Ständige Angriffe und Anschläge würden den Krieg auf einer anderen Ebene weiterführen, während Russland mit Säuberungen, Mord, Kindesentführungen und Folter die Gewalt in den besetzten Gebieten fortsetzen würde. Sowohl die von Russland okkupierten Gebiete als auch die Restukraine wären dauerhaft instabil. Mehr und mehr Ukrainer und Ukrainerinnen würden das Land verlassen. Die einen, weil sie in den Russland zugeschlagenen Gebieten nicht leben wollen und aufgrund der russischen Repression, die zu erwarten ist, nicht leben können, die anderen, weil eine Restukraine, die sich noch immer im Krieg befindet, für Erwachsene und Kinder keine Lebensperspektive bietet. … Auch eine rasche Entwicklung und Einsatzbereitschaft ukrainischer Atomwaffen würde wahrscheinlicher. Europa würde auf Jahre von einem beidseitig atomar bewaffneten Dauerkonflikt dominiert."

In der FAZ resümiert Irina Rastorgujewa ein Interview, das der russische Blogger Juri Dud mit Vika und Vadim Zyganow, zwei patriotische russische Showgrößen, die Russlands orthodoxe Staatsideologie verbreiten, geführt hat. Und die wird zunehmend absurder: "Statistiken zufolge sind 66 Prozent der Bevölkerung Russlands orthodox, die Anhängerschaft des russischen Patriarchen Kyrill ist im Allgemeinen groß. Seit Beginn der Großinvasion verbreitet sie unter Gläubigen eine säbelrasselnde Mischung aus Verschwörungstheorie und Imperialismus, multipliziert mit sowjetischen Komplexen. Auch eine Kombination von religiösen und kommunistischen Symbolen ist inzwischen gang und gäbe. Geistliche weihen Denkmäler für Stalin, den obersten Religionsvernichter, mit den Worten 'Christus ist auferstanden' und behaupten, Stalins Repressionen habe der Kirche viele Märtyrer beschert. Einen Höhepunkt erreichte die kirchliche Rhetorik mit der Forderung nach 'Desatanisierung der Ukraine', wobei zugleich sämtliche Mittel, einschließlich der Apokalypse, den Zweck heiligen. Diese Ideen vertraten auch die Gäste von Dud."

"2024 wird das Jahr der AfD", warnte Michel Friedman bei den 54. Römerberggesprächen in Frankfurt, die zwar den optimistischen Titel "Vom aufhaltsamen Aufstieg des Rechtsextremismus" trugen, aber eher Anlass zur Sorge gaben, wie Miguel de la Riva in der FAZ berichtet: "Propaganda fällt in der Gesellschaft auf einen immer fruchtbareren Boden, wie der Sozialpsychologe Andreas Zick - eine der Autoren der "Mitte-Studie" der Friedrich-Ebert-Stiftung - und die Radikalisierungsforscherin Hanna Pfeifer zeigten. Denn die Daten ließen auf ein eklatantes Schrumpfen der 'Mitte' schließen, in der sich extremistische Einstellungen immer mehr ausbreiteten." In der FR schreibt Sylvia Staude.

Viele europäische Regierungen denken derzeit über neue Methoden nach, um Asylverfahren in Drittstaaten zu verlegen - damit wecken sie Erwartungen, "die nicht erfüllt werden können, und verkennen vor allem die Interessen der Herkunfts- und Transitstaaten", schreiben der Politikberater Eduard Gnesa und der Politikwissenschaftler Steffen Angenendt in der NZZ. Dabei blieben außerdem viele Fragen, inwiefern sich dieses Verfahren mit dem Völkerrecht vereinbaren ließe. "Was ist realistisch? Letztlich werden nur international bewährte Konzepte wie 'Protection in the Region' zum Erfolg führen: Schutz, Betreuung und Unterbringung von Flüchtlingen und Vertriebenen durch internationale Organisationen (z. B. UNHCR) in Nachbarstaaten von Ländern mit Konflikten führen dazu, dass weniger Schutzbedürftige sich auf lebensgefährliche Reisen begeben. Das bedingt das Einverständnis der Nachbarstaaten (...) und verlangt von den Zielländern Europas eine viel grössere Unterstützung dieser Staaten, aber auch der internationalen Organisationen. (...) Ein Vorteil des bewährten 'Protection in the Region'-Konzepts besteht auch darin, dass ein rechtlicher Rahmen und faire Standards bereits bestehen."
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Politik

Es gibt Anzeichen, das Reza Pahlavi, Sohn der letzten Schahs von Iran, Ambitionen hat, die Monarchie wieder einzuführen, sollte es zu einem Sturz des Regimes im Iran kommen, schreibt die iranische Journalistin Laleh Rashidi bei geschichtedergegenwart.ch. Zahlreiche Monarchisten unterstützen ihn dabei, überhaupt dominieren in der Oppostion rückwärtsgewandte Kräfte - und die monarchistische Propaganda tut ihr übriges: "Sie heben z. B. die freie Wahl der Kleidung, den westlichen Lebensstil der früheren Herrscher und die freundschaftlichen Beziehungen zu westlichen Ländern hervor. Und anstatt sich mit den historischen Ursachen der Revolution von 1979 zu befassen, unterzieht diese Propaganda die damaligen Ereignisse einer neuen Lesart: Sie sucht nicht nach den Wurzeln der Revolution, sondern kritisiert deren Akteur:innen und sie macht sie vollständig für die Folgen verantwortlich. Die Hauptursache der Revolution, das diktatorische Regime des ehemaligen Schahs, bleibt so im Schatten, während heute die Islamische Republik umgekehrt - und zu Recht - als Auslöser der jüngsten Unruhen genannt wird. In diesem Sinne werden auch alle Personen und Gruppen, die 1979 gegen das Schah-Regime gekämpft haben und dafür gefoltert und hingerichtet wurden, von den heutigen Monarchist:innen - und mit wachsender Unterstützung in anderen Oppositionskreisen - kollektiv als '1979er' denunziert: das Schimpfwort für alle Linken im Iran."

Auf den ersten Blick scheint der Staat in Afghanistan zu funktionieren, berichtet im Tagesspiegel die Politikberaterin Almut Wieland-Karimi, die zwei Wochen durch das Land gereist ist. Und trotz brutaler Einschränkung der Frauenrechte wägen die meisten Frauen, mit denen Wieland-Karimi gesprochen hat, ab: "Einerseits haben sie die Freiheiten und Möglichkeiten zu Republikzeiten geschätzt, zugleich haben sie die beständige Unsicherheit gefürchtet und die Korruption der Regierung gehasst. Nun schätzen sie die Sicherheit und vor allem, dass der Krieg und die Anschläge vorbei sind. Manche sprechen sogar von Frieden." Sie ist gegen eine Isolation und hofft, "dass eher muslimisch geprägte Staaten Zugänge zu den Hardlinern unter den Taliban suchen, die glaubwürdig unterstreichen können, dass Bildung für und Arbeit von Frauen nicht unislamisch sind." Deutschland solle mit den Taliban hingegen über "andere Themen als Frauenrechte" sprechen - "ohne deren Wichtigkeit aus dem Blick zu verlieren".

In Argentinien wurde der rechtsliberale Javier Milei zum Präsidenten gewählt, berichtet unter anderem ZeitOnline. Angesichts einer jährlichen Inflation von 143 Prozent möchte Milei die Zentralbank abschaffen und den Dollar als Leitwährung etablieren. "Abseits der angekündigten Kehrtwende in der Wirtschaftspolitik will Milei den Waffenbesitz liberalisieren, ist gegen das Recht auf Abtreibung, glaubt nicht an den menschengemachten Klimawandel und nennt den argentinischen Papst Franziskus einen Kommunisten. Zwar bedient er sich wie der ehemalige US-Präsident Donald Trump und der frühere brasilianische Staatschef Jair Bolsonaro einer Antisystemrhetorik, allerdings verzichtet er im Gegensatz zu seinen Vorbildern auf rechtsradikale Ausfälle und befürwortet etwa die gleichgeschlechtliche Ehe."
Archiv: Politik

Ideen

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In seinem aktuellen Buch "Die Rechte der Natur" fordert der Philosoph Tilo Wesche, der Natur Eigentumsrechte einzuräumen. Im taz-Gespräch erläutert er: "Wenn die Natur Eigentumsrechte hat und Menschen Naturgüter nutzen, kann ihnen auch eine Gebühr für die Naturnutzung abverlangt werden. Weil sie die Natur nutzen, müssten Unternehmen auch zahlen. Die Natur bekommt dann einen Preis, und dieser Preis muss reinvestiert werden, um die sozioökologische Transformation finanzieren zu können. (…) Der Vorteil von Rechten ist, dass sie durchgesetzt werden können, auch gegen Großunternehmen. In Ecuador führten die Rechte der Natur dazu, dass ein milliardenschwerer, internationaler Bergbaukonzern über Nacht gezwungen wurde, den Bergbau in einem Nebelwald einzustellen, und zwar ohne Entschädigung."

Der chinesische Politologe Jin Canrong bezweifelt die Existenz von Aristoteles, schreibt Thomas Ribi fassungslos in der NZZ. "'Er hat zu viel geschrieben', sagt Canrong. Das sei schon rein technisch nicht möglich gewesen, bevor sich das Papier im Westen verbreitet habe - das Papier, das in China erfunden wurde, wie man ergänzen soll." Aus dem Nichts kommt dies allerdings nicht: Zuvor hatten westliche Historiker "Zweifel geäußert, ob die chinesische Geschichte tatsächlich fünf Jahrtausende zurückreicht". "Die Skepsis des Westens trifft nationalistische chinesische Wissenschaftler an einem empfindlichen Punkt. Sie verstehen die kritischen Fragen aus dem Westen als Angriff auf das kulturelle Erbe Chinas".
Archiv: Ideen
Stichwörter: Canrong, Jin, Wesche, Tilo