9punkt - Die Debattenrundschau

Aus verständlichen historischen Gründen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.07.2023. Muriel Asseburg von der Stiftung Wissenschaft und Politik war wegen ihrer israelkritischen Äußerungen kritisiert worden. Sie verteidigt sich im Spiegel-Gespräch. Die taz unterstützt ihre Position. Fassungslos blickt die FAZ auf das "Geschwurbel" des Berliner-Zeitung-Verlegers Holger Friedrich zum Quellenschutz. Im Tagesspiegel erklärt Sabine Krome vom Rat für deutsche Rechtschreibung: Zu viel Gendern könnte die Sprache beschädigen. Die SZ macht mit Historiker Jürgen Luh klar: Kronprinz Wilhelm war kein Zwerg.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.07.2023 finden Sie hier

Politik

Zwei Debatten erschütterten in der letzten Woche das deutsche Twitter-Dorf, Ahmad Mansour wurde als Person unmöglich gemacht (unsere Resümees), die Nahostexpertin Muriel Asseburg wurde für Dinge kritisiert, die sie gesagt hat (unser Resümee). Sie hatte in einem uferlosen Videogespräch mit dem Jungjournalisten Tilo Jung den Eingriff Israels in Dschenin mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine verglichen und behauptete, Deutschland mache die israelische Regierung zum "Schiedsrichter" ihrer Nahostpolitik. Da sie für die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) arbeitet, die die Bundesregierung berät, sorgten ihre Äußerungen für Irritationen und den üblichen Clash der Twitter-Blasen - auch der israelische Botschafter hatte sich allerdings geäußert. Zu ihrem Schiedsrichter-Vergleich äußert sie ich im Interview mit Christoph Schult vom Spiegel etwas eirig: "Ich bin sicher nicht die Erste, die auf diese Idee gekommen ist und das formuliert hat. Vielleicht ist der Begriff Schiedsrichter nicht so glücklich. Kronzeuge wäre besser. Die frühere Kanzlerin Angela Merkel zum Beispiel sprach diese Rolle dem israelischen Botschafter in Deutschland zu. Anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Haifa im Oktober 2018 sagte sie: 'Der Botschafter des Staates Israel in Deutschland wird genau beobachten, wie wir uns verhalten.'"

Anders als Mansour arbeitet Asseburg im Schutz einer Institution. Die Stiftung Wissenschaft und Politik publizierte gestern eine Verteidigung ihrer Kollegin: "Wenn Zitate verkürzt oder verfälscht wiedergegeben und Interpretationen des Gesagten genutzt werden, um gezielt Empörungen zu schüren, dann sind diese Vorwürfe in der Sache und im Ton unangemessen. Dies betrifft insbesondere den Vorwurf des Antisemitismus. Dagegen verwahren wir uns entschieden."

Stefan Reinecke und Katja Maurer verteidigen Asseburg in der taz. "Deutsche Linke, die aus verständlichen historischen Gründen Israel schützen wollen, sollten beachten, neben wem sie sich hier einreihen. Zum Beispiel Ex-Bild-Chefredakteur Julian Reichelt, der SWP 'antisemitischen Dreck' unterstellt und die Streichung der Gelder fordert. Beides ist lehrbuchhaft für rechtsautoritäre Politik: Auf ätzende Verleumdung folgt die materielle Zerstörung der Orte rationaler Diskurse." Für die beiden steht auch fest: "Man kann mit der teils rechtsextremen und offen rassistischen Regierung in Tel Aviv nicht mehr unverbrüchlich solidarisch sein. Sie ist Teil einer weltweiten autoritären Rechten, die auf die Abschaffung der Demokratie und die Herrschaft der Fake News zielt."

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Medien

Empört antwortet Michael Hanfeld in der FAZ auf die wortreiche Selbstrechtfertigung des Berliner-Zeitung-Verlegers Holger Friedrich, der journalistischen Quellenschutz nur unter unklaren Bedingungen gewähren will und der auch noch von einem Berliner Gericht Recht bekam (unser Resümee): "Folgten wir Friedrich und der 67. Zivilkammer des Berliner Landgerichts, wäre es mit der Aufdeckung von Missständen, Whistleblowern, Enthüllungsrecherchen vorbei. 'Selbst dort, wo der Quellenschutz nicht gilt, gibt es professionelle Standards, wonach Interna oder Informationen von Dritten nicht ohne Zustimmung verwendet werden dürfen', schreibt der Verleger Friedrich. Wäre das so, könnte die Presse einpacken, Geheimhaltung würde Gesetz, derjenige, der Wahrheit ans Licht bringen will, würde kriminalisiert. Das sind die Konsequenzen, die hinter dem Geschwurbel des Verlegers Friedrich stecken."

Ebenfalls in der FAZ meldet Jannik Müller, dass der RBB seine ohne Vergabeverfahren bei einer Anwaltskanzlei in Auftrag gegebene Untersuchung der Vorgänge am Sender einstellt - die Kanzlei ist einfach zu teuer.

In Frankreich wurde der Chefredakteur der Sonntagszeitung Journal du Dimanche (JDD) vom Milliardär und Medienmogul Vincent Bolloré durch einen Rechtsextremisten ersetzt, erzählt nun auch Thomas Kirchner in der SZ (unsere Resümees). Deshalb befinden sich sechzig Mitarbeiter seit drei Wochen im Ausstand. Dieser Streik weist auf eine gefährliche Entwicklung in der französischen Medienlandschaft hin, meint Kirchner: Bolloré "wird oft mit Rupert Murdoch verglichen. Sein wichtigstes Vehikel, der viel gesehene Nachrichtensender CNews, hat sich seit Bollorés Übernahme zu einem französischen Fox News entwickelt. Zemmour, mehrmals wegen rassistischer Äußerungen verurteilt, war lange Zeit der Starkolumnist bei CNews. Er verharmlost die Haltung des Vichy-Regimes während des Zweiten Weltkriegs gegenüber der jüdischen Bevölkerung und hat sich immer wieder offen antisemitisch geäußert."

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Gesellschaft

Der Rat für deutsche Rechtschreibung will heute ein Empfehlungspapier zur Verwendung von Genderzeichen vorlegen. Im Interview mit dem Tagesspiegel erklärt Geschäftsführerin Sabine Krome, warum in der Empfehlung Zeichen wie Doppelpunkt, Unterstrich oder Sternchen abgelehnt werden: "Die Sonderzeichen im Inneren des Wortes stören in vielen Fällen die Wortbildung und können das Lesen und Verstehen von Texten erschweren. Ein Beispiel: Das Wort 'Bauer'. Die männliche Pluralform ist 'Bauern'. Gegendert mit Sonderzeichen würde daraus 'Bäuer:innen' - die männliche Pluralform wird nicht korrekt darstellt. Auch die Satzbildung kann sich verändern, wenn zum Beispiel mehrere Artikel oder Pronomen nötig sind, um mehrere Geschlechtsidentitäten abzubilden ('der/des Präsident*in')". In jedem Fall brauche es eine amtliche Rechtschreibung, "das ist sinnvoll vor dem Hintergrund von Textverständnis, Rechtsverbindlichkeit und Lernbarkeit der Orthografie, vor allem für Deutschlernende. Wenn wir das nicht beachten, grenzen wir große Gruppen von Lesenden und Schreibenden aus, und eine solche Ausgrenzung ist ja gerade nicht im Sinne einer diskriminierungsfreien gerechten Sprache und Schreibung." Krome plädiert statt dessen für die Verwendung "geschlechtsübergreifende Formulierungen wie etwa 'Gäste', 'Publikum', 'Lehrkräfte' oder Partizipformen wie 'Studierende'. Solche Formulierungen sind von der Rechtschreibung her korrekt und deshalb auch zu empfehlen."
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Geschichte

Die Hohenzollern haben ihre Klagen auf Entschädigungen für Enteignungen in der sowjetischen Besatzungszone nach 1945 zwar zurückgezogen, aber die Frage, nach der Bedeutung Wilhelms von Preußen für die Nazis bleibt. Damit beschäftigt sich auch Jürgen Luh, Mitarbeiter im Ressort Wissenschaft und Forschung der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten und Direktor am Research Center Sanssouci (RECS) in Potsdam, der mit seiner "lesenswerten" Aufsatzsammlung "Der Kronprinz und das Dritte Reich" "der Verzwergung des Exkronprinzen Wilhelm von Preußen und der Bagatellisierung seines Engagements für den Nationalsozialismus einen Riegel" vorschieben will, wie Lothar Müller in der SZ erklärt. Luh habe zu diesem Zweck auch die Presse der damaligen Zeit ausgewertet, um zu belegen, dass Wilhelm keineswegs so randständig war, wie die Hohenzollern heute behaupten. "Zwar spielte er bei den Manövern, die zur Reichskanzlerschaft Adolf Hitlers am 30. Januar 1933 führten, keine nennenswerte Rolle, doch trug er als öffentliche Figur und Exponent der antirepublikanischen alten Eliten zum Aufstieg der Nationalsozialisten und zur Etablierung ihrer Macht nach dem 30. Januar 1933 nicht unerheblich bei. Zum Wirkungspotenzial dieser öffentlichen Figur, so der Befund bei Luh wie bei Malinowski, trug bei, dass sie als Repräsentant nicht nur der alten Eliten im Allgemeinen, sondern des kaiserlichen Herrscherhauses im Besonderen wahrgenommen wurde."
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