9punkt - Die Debattenrundschau

Jeder in seinem kleinen Königreich

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.07.2023. In der SZ glaubt Viktor Jerofejew, dass Prigoschin zu geradlinig war, um Putin wirklich gefährlich werden zu können. In der Welt fragt Gerd Koenen, warum gerade jene Ländern Osteuropas zu Russland neigen, die besonders gründlich von den Sowjets besiegt wurden. Im Tagesspiegel fürchtet Wolf Biermann, dass die Ostdeutschen an den Schlägen leiden, die sie nicht ausgeteilt haben. In der FR muss Stephan Lessenich einsehen, dass rechte Politik unmoralischer, aber eventuell attraktiver ist als linke. SZ und FAZ blicken zudem auf Frankreichs brennende Vorstädte und den Eisbären auf seiner schmelzenden Scholle.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.07.2023 finden Sie hier

Europa

Als einen Kampf zwischen zwei Matrjoschkas, betrachtet der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew in der SZ die Meuterei der Wagner-Truppen, wobei Jewgeni Prigoschin als die kleine Puppe in der großen Puppe Putin von Anfang an wenig Chancen hatte: "Eine Machtergreifung Prigoschins war unwahrscheinlich eben deshalb, weil sich die Gespaltenheit Putins als Stärke und nicht als Schwäche erweist. Der Wunsch Prigoschins, bis zum Ende zu gehen, knallhart die Wahrheit zu sagen, das ist eher typisch für einen Vertreter des kriminellen Russlands, dem danach ist, einen rauszuhauen, als für die Volksmassen, die sich ebenso wie Putin durch ihre Gespaltenheit auszeichnen, die Fähigkeit, zwei Wahrheiten zugleich zu sehen. Das kriminelle Russland ist ein ganz bestimmtes, jedoch nicht das wichtigste Element der russischen Mentalität. Hauptwesenszug ist eher der Scheißegalismus und damit die Fähigkeit zu überleben. Prigoschin ist sehr viel geradliniger als der Präsident, aber gerade deshalb weniger gefährlich."

In einem weiteren Text in der FAS widerspricht Jerofejew der Vermutung, dass Prigoschins Manöver ein mit Putin abgekartetes Spiel war, aber Verständnis für die Skepsis hat er durchaus: "Putins Russland hat sich selbst in eine tschekistische 'Spezialoperation' verwandelt, bei der niemand weiß, was wahr und was Fake ist.  Gerade diese andauernde Unbestimmtheit ermöglicht es Putin, die Macht zu manipulieren, die Eliten gegeneinander aufzuhetzen, Russland ohne klar umrissene Grenzen hinzustellen und einen Krieg zu führen, den Krieg zu nennen verboten ist."

Andrea Seibel unterhält sich für die Welt mit Gerd Koenen, der unter anderem über die Russlandliebe der AfD und über das "besondere Verhältnis zu Russland" spricht, das Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer den Ostdeutschen nachsagt. Ein "besonderes Verhältnis" hätten auch die Polen und kämen doch zu anderen Schlüssen, so Koenen. "Vielleicht ist der Gedanke zu kompliziert, aber wenn ich schaue, wo im östlichen Europa heute die innenpolitischen Mehrheiten gegenüber dem Krieg in der Ukraine nach Moskau neigen oder bröckeln, dann merkwürdigerweise besonders unter denen, die mit Hitler marschiert sind - die Ungarn, die Slowaken, Kroaten oder Bulgaren - und die von den Sowjets besonders gründlich besiegt worden sind. In der Psychologie gibt es ja das Phänomen der 'Identifikation mit dem Aggressor'."

Wunschdenken bestimmte die Wahrnehmung von Jewgeni Prigoschins Rebellion am letzten Samstag, meint Richard Herzinger in seiner Perlentaucher-Kolumne: "Dabei ist die jetzt heiß diskutierte Frage, ob sich Putins Herrschaft eher stabilisiert oder destabilisiert, in gewisser Weise falsch gestellt. Denn für ein Regime wie dieses kann beides zugleich zutreffen. Herrscht in Russland doch eine "Stabilität", die von ganz anderer Art ist als das, was im Westen darunter verstanden wird. Bei dem russischen 'Staat' handelt es sich um ein Mafiasystem, das sich aus der schrankenlosen Gewalt heraus, die es hemmungslos nach innen wie nach außen praktiziert, permanent selbst reproduziert."

In der taz deutet Sarah Pagung von der Körber-Stiftung dagegen Prigoschins Meuterei als Anfang vom Ende: "Die Räume des Denkbaren haben sich seit dem vergangenen Wochenende verschoben. Die Möglichkeit eines Russlands ohne Putin und eines Zerfalls des Machtsystems ist realer." In der SZ rekapituliert Georg Mascolo die Geschichte Berliner Hasenfüßigkeit gegenüber dem ungeniert mörderischen Agieren russischer Geheimdienste in Deutschland.

=====

Frankreich versinkt in einem Alptraum entfesselter Gewalt und aufrührerischer Rhetorik, in der SZ springt Nils Minkmar Präsident Emmanuel Macron zur Seite: "Linke wettern gegen die Polizei, Rechte gegen die Eltern des Opfers und die Kultur der Vorstädte. Macron ist der Präsident derer, die es gut finden, wenn ein Todesschütze in Polizeiuniform ins Gefängnis kommt und das Umfeld untersucht wird, die sich aber fragen, weshalb in Reaktion darauf Busse in Brand gesetzt werden, mit denen Leute zur Schule und zur Arbeit fahren, oder der Supermarkt geplündert wird. Macrons Stellung zwischen den sich radikalisierenden Lagern wirkt zunehmend bedrängt, er gleicht einem Eisbären auf einer schmelzenden Scholle."

Ziemlich scheinheilig findet es Niklas Bender in der FAZ, den bei einer Verkehrskontrolle getöteten Nahel M. zum minderjährigen Unschuldslamm zu küren. Der siebzehnjährige war schließlich ein krimineller Intensivtäter. Gleichwohl hält er auch die Polizei für einen Teil des Problems: "Ihr Einsatz ist in Frankreich oft unerbittlich: Man spricht lieber vom 'Wiederherstellen der öffentlichen Ordnung' als von 'Deeskalation'. Ausgerechnet der Glaube an einen starken Staat als Garant universeller Werte verhindert eine Debatte darüber, welche Strategie erfolgversprechend ist, und führt dazu, dass man Opfer in Frankreich eher in Kauf nimmt als anderswo. Schwerer zu fassen ist ein zweiter Aspekt des Staatsverständnisses: Die französische Obrigkeit lässt ihre Bürger eher in Ruhe, hier lebt jeder in seinem kleinen Königreich und respektiert die Gesetze nach Gutdünken; das ist die Seite, die Besucher aus dem Ausland meist als französisches Laissez-faire deuten. Die Kehrseite sehen sie selten: Wehe dem, der auf falscher Tat ertappt wird oder zu weit geht. Wenn die Staatsmacht eingreift, dann begegnet sie dem Bürger mit geballter Macht."
Archiv: Europa

Ideen

Im Tagesspiegel-Interview spricht der ewig Unerschrockene Wolf Biermann über sein kommunistisches Elternhaus, lumpenhafte Bescheidenheit und den neuen verklärenden Blick auf die DDR: "Das ist keine Sehnsucht, das ist aggressives Selbstmitleid. In einer Diktatur verwenden die meisten Menschen ihre Energie und Klugheit darauf, einigermaßen durchzukommen: nicht zu feige, nicht zu frech. Und es gibt viele gute Gründe, sich feige zu verhalten. Aber wenn Menschen alles Unrecht dulden, wenn sie im Betrieb oder in der Familie immer den Schwanz einziehen oder den Kopf, dann macht sie das chronisch seelenkrank. Diese Deformation wird unbewusst vererbt von Generation zu Generation. Oder wie es der große Pädagoge Pestalozzi mal formulierte: 'Man erzieht und erzieht, und dann machen sie einem doch alles nach.' Die Ostdeutschen sind nach zwei Diktaturen hintereinander doppelt geprägt. Kaputte Häuser und Straßen kann man in 30 Jahren wieder aufbauen, kaputte Menschen dauern etwas länger... Wir alle gehen nicht nur kaputt an den Schlägen, die wir einstecken, sondern auch an den Schlägen, die wir nicht austeilen."

Vor hundert Jahren wurde das Frankfurter Institut für Sozialforschung gegründet. Sein heutiger Direktor, der Soziologe Stephan Lessenich, steht im FR-Interview mit Michael Hesse genauso ratlos wie einst Adorno und Horkheimer vor der großen Frage, warum die Menschen einfach keine radikale Gesellschaftsveränderung wollen und die Linke immer wieder scheitert: "Der Erfolg von rechten Angeboten liegt nicht nur darin, dass sie ausbeutbare Emotionen und Affekte wecken, sondern es werden auch knallharte Interessen angesprochen. Eine Bevölkerungsmehrheit in den reichen Industrieländern weiß, was sie zu verlieren hat durch die 'falsche' Migration oder durch wirklich durchgreifende Maßnahmen gegen den Klimawandel, durch ein radikal anderes Energieregime dieser Gesellschaft oder ein Ende des Wachstumskurses und die Forderung nach Verzicht. Seinen eigenen Lebensstandard zu verlieren, kann rationaler Weise niemand wollen. Wenn sich dann jemand anbietet, diesen zu schützen, wie die politische Rechte, ist das erst einmal ein attraktives Angebot."
Archiv: Ideen