Intervention

Diese seltsame Wendung

Von Richard Herzinger
30.06.2023. Wunschdenken bestimmte die Wahrnehmung von Jewgeni Prigoschins Coup am letzten Samstag. Die Vorstellung, dass sich der putinistische Machapparat in internen Fraktionskämpfen selbst zerlegen könnte, hat etwas Verführerisches. Sie vermittelt die Illusion, wir könnten als unbeteiligte Beobachter dabei zusehen, wie sich die Bedrohung durch das putinistische Terrorsystem von alleine aus der Welt schafft. Damit würde es uns im Westen erspart bleiben, eine wahrscheinlich sehr lange währende Konfrontation mit dieser aggressiven Macht durchzustehen.
Folgte man am Samstag, dem 24. Juni 2023, den deutschen Medien, konnte man glauben, das Putin-Regime stehe kurz vor dem Zusammenbruch. Selbst seriöse und meist zuverlässige Experten und Analysten, die eilig im Live-TV befragt wurden, ließen sich dazu hinreißen, einen beginnenden "Bürgerkrieg" in Russland herbeizufantasieren.

Als sich der vermeintliche Aufstand des "Wagner"-Söldnerführers Jewgeni Prigoschin dann schon nach wenigen Stunden in Luft auflöste, war die Verblüffung groß. Seitdem versuchen die Kommentatoren und Fachleute, für diese seltsame Wendung Erklärungen zu finden, die ihren voreilig abgegebenen Diagnosen nicht allzu krass widersprechen. Im Wesentlichen einigten sie sich darauf, die farcenhafte Episode habe Putins Autorität immerhin nachhaltig erschüttert und die dramatische Instabilität seines Herrschaftssystems demonstriert.

Aber ist das wirklich so? Einstweilen lässt sich darüber nur spekulieren. Ebenso gut könnte Putin die Gelegenheit nutzen, um seine Machthierarchie in großem Stil von unliebsamen Elementen zu "säubern" und damit noch mehr zu zementieren. Fest steht allein: Der russische Vernichtungskrieg gegen die Ukraine geht, unberührt von den Turbulenzen um Prigoschin, unvermindert, wenn nicht mit noch gesteigerter Brutalität weiter.

Auszuschließen ist daher auch nicht, dass es sich bei dem Spektakel vom 24.Juni um eine abgekartete Inszenierung mit verdeckten Motiven gehandelt hat. Werden Prigoschin und zumindest ein Teil seiner Terrortruppe tatsächlich nach Belarus transferiert, muss das jedenfalls in höchstem Maße beunruhigen. Zu Recht hat Polens Präsident Duda die Frage aufgeworfen, welche Absicht in Wahrheit dahinter steckt: Die Übernahme von Belarus durch Russland voranzutreiben? Eine zusätzliche Bedrohung der Ukraine vom Norden her aufzubauen? Oder auch an Belarus grenzende NATO-Staaten wie Polen ins Visier zu nehmen? Statt sich darüber den Kopf zu zerbrechen, ob und wie lange Prigoschin den vermeintlichen Zorn Putins überleben wird, sollte sich der Westen beizeiten auf alle diese Varianten vorbereiten. Wer im Kreml-Machtgefüge möglicherweise wen beseitigt, sollte ihn dagegen nur am Rande interessieren.

Angesichts dieses Stands der Dinge wird deutlich, in welchem Maße die deutsche Wahrnehmung der Ereignisse des 24. Juni von Wunschdenken bestimmt war - und von einer fortdauernden Fehleinschätzung des wahren Charakters des russischen Herrschaftssystems. Die Vorstellung, dass sich der putinistische Machapparat in internen Fraktionskämpfen selbst zerlegen könnte, hat etwas Verführerisches. Sie vermittelt die Illusion, wir könnten als unbeteiligte Beobachter dabei zusehen, wie sich die Bedrohung durch das putinistische Terrorsystem von alleine aus der Welt schafft. Damit würde es uns im Westen erspart bleiben, eine wahrscheinlich sehr lange währende Konfrontation mit dieser aggressiven Macht durchzustehen, die uns enorme politische und ökonomische Anstrengungen inklusive einer massiven militärischen Aufrüstung auferlegt. Doch Hoffnungen auf eine wie immer geartete Selbstreinigung von Staat und Gesellschaft Russlands gehen an deren realem Zustand vorbei. Und schon gar nicht kann diese von sadistischen Massenmördern wie Prigoschin ausgehen.

Die Erregung, mit der die deutsche Öffentlichkeit bereits den Showdown für Putins Herrschaft erwartete - worin sich allerdings auch Angst vor einem dann drohenden "Chaos" mischte -, hat gezeigt, wie leicht sie sich noch immer von dem Agieren der russischen Machthaber in die Irre führen lässt. Eines ist diesen mit ihrem Spektakel jedenfalls gelungen: die Augen einer atemlosen Weltöffentlichkeit auf sich und ihre für die Menschheit angeblich schicksalhafte Bedeutung zu lenken. Niemand sprach für den Moment mehr über die von der russischen Soldateska in der Ukraine verübten horrenden Menschheitsverbrechen, die mit der ins Kalkül gezogenen Sprengung des Kernkraftwerks Saporischschja demnächst eine apokalyptische Dimension erreichen könnten. Doch die westliche Öffentlichkeit zeigt sich von dieser Gefahr erstaunlich wenig alarmiert. Lieber hängt man an den Lippen Putins und seines vermeintlichen Gegenspielers, um aus ihren Worten Aufschlüsse über die Machtverhältnisse in Russland zu gewinnen - als könnte man irgendetwas von dem, was diese chronischen Lügner und Täuscher von sich geben, für bare Münze nehmen.

Dabei ist die jetzt heiß diskutierte Frage, ob sich Putins Herrschaft eher stabilisiert oder destabilisiert, in gewisser Weise falsch gestellt. Denn für ein Regime wie dieses kann beides zugleich zutreffen. Herrscht in Russland doch eine "Stabilität", die von ganz anderer Art ist als das, was im Westen darunter verstanden wird. Bei dem russischen "Staat" handelt es sich um ein Mafiasystem, das sich aus der schrankenlosen Gewalt heraus, die es hemmungslos nach innen wie nach außen praktiziert, permanent selbst reproduziert.

Die Geschichte der Mafia kennt etliche Bandenkriege und Fehden zwischen konkurrierenden Gangsterbossen - doch so blutig auch immer diese inneren Machtkämpfe ausgetragen wurden, an der Ausbreitung des Mafiasystems an sich hat das nichts geändert. Für den Bestand einer zivilisierten Gesellschaft spielt es letzten Endes keine Rolle, ob der Mafia-Pate X oder Y die Geschäfte des organisierten Verbrechens kontrolliert. Es kann nur darum gehen, das kriminelle System im Ganzen zu zerstören oder zumindest so weit wie möglich einzudämmen.

In derselben Weise sollten wir die Vorgänge im russischen Mafia-Staat verfolgen: Ob nun Putin, Prigoschin oder irgendeine andere Ausgeburt der Unterwelt dort das Kommando führt - das System wird in seiner Aggressivität nicht nachlassen, bis es von der zivilisierten Welt in Gänze unschädlich gemacht worden ist.

Durch tatsächliche oder vermeintliche Rivalitäten innerhalb des putinistischen Machtapparas sollten wir uns daher nicht davon ablenken lassen, dass nur eines den völkermörderischen russischen Aggressionskrieg gegen die Ukraine beenden und die westliche Welt vor einem weiteren Vordringen der Kreml-Vernichtungswalze bewahren kann: die vollständige militärische Niederlage des moskowitischen Terrorstaats in allen seinen Facetten.

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. Hier der Link zur Originalkolumne.