Vom Nachttisch geräumt

Die Haut vom Leib gezogen

Von Arno Widmann
01.08.2018. Zum 150. Geburts- tag von Karl Marx sind eine Menge Bücher erschienen: Schwere Biografien,  voluminöse Anthologien, Marx-Lesebücher und anekdotische Streifzüge. Aber etwas fehlt noch.
Im Mai wurde überall auf der Welt der 200. Geburtstag von Karl Marx kommentiert und gefeiert. Hier nur ein paar Hinweise auf einige wenige Bücher, die anlässlich dieses Ereignisses erschienen. Zunächst zwei Biografien. Die gewichtigste ist die 890seitige des langjährigen Herausgebers der New Left Review Gareth Stedman Jones, geboren 1942. Er ist Professor für Ideengeschichte in London und Direktor des Centre for History and Economics an der Universität Cambridge. Eine andere hat Jürgen Neffe veröffentlicht. Eine optimale Kombination: Ideen- und Wirtschaftsgeschichte, plus politisches Engagement. Lesen wir, was die Stedman Jones und Neffe über das Kommunistische Manifest aus dem Jahre 1848, den 1851 geborenen Sohn Frederick Demuth und über die "Kritik des Gothaer Programms", entstanden im April 1875, schreiben.

Das Manifest war eine Auftragsarbeit des Bundes der Kommunisten, der Marx unter Druck setzte, seinen Abgabetermin einzuhalten. Stedman Jones schildert detailliert den Weg von ersten Entwürfen hin zum endgültigen Text. Er arbeitet auch Engels' Rolle klar heraus, der die Idee der Katechismus-Form verwarf und die Idee eines Manifestes ins Spiel brachte. Stedman Jones preist den von ihm stets "Karl" genannten Verfasser als den ersten, der "die gigantische Veränderung, die in weniger als einem Jahrhundert durch die Entstehung eines Weltmarkts und die Entfesselung der beispiellosen Produktivkräfte der modernen Industrie stattgefunden hatte".

Er beschreibt dann die aussichtslose Lage, in die Karl Marx' Kritik der Verhältnisse ihn beim Versuch ihrer Umwälzung gebracht hatte: Die kommunistische Bewegung konnte sich fortan nicht mehr glaubwürdig mit "dem demokratisch-republikanischen Flügel einer liberal-konstitutionalistischen Bewegung" zusammentun. Man "unterstützte die Liberalen, während man gleichzeitig darauf verwies, dass ein liberal-bourgeoiser Erfolg die Lage des Proletariats weiter verschlechtern würde". Das Kommunistische Manifest mochte ein glorioses Stück Weltgeschichtsschreibung sein, als Orientierung in den Klassenkämpfen von 1848 war es verhängnisvoll.

Bei Jürgen Neffe - er ist der Autor von weit verbreiteten Einstein- und Darwin-Biografien - wird die Vorgeschichte des Manifests ebenso deutlich herausgearbeitet und auch die Zusammenarbeit mit Engels wird sehr deutlich gemacht. Neffe formuliert plastischer. Er beschreibt den Eindruck, den die Sätze des kommunistischen Manifests auf den heutiger Leser machen, deutlich prägnanter als Stedman Jones das tut. Marx, so Neffe, "schafft es mit Worten, die Erde so klein und so verwundbar zu zeichnen, wie sie den Menschen erstmals Heiligabend 1968 vom Mond aus fotografiert aufgegangen ist".

Sehr schön zeigt Neffe, wie Marx manches eben nicht begriffen und dann aufgeschrieben hat, sondern, wie er es erst beim Schreiben begriff. Neffe nimmt sich sehr viel mehr Zeit für die Nacherzählung und die Analyse des Kommunistischen Manifests als Stedman Jones. Am Ende kommt er, was die praktisch-politischen Konsequenzen der Theorie angeht, zum gleichen Schluss wie jener: "Einerseits sollen die Arbeiter mit Hilfe der Bourgeoisie demokratische Verhältnisse schaffen, um ihr dann mit ihrer Mehrheit (als könnten sie nicht auch anders wählen) die Macht zu entreißen." Ich mag Neffes in die Klammer gestellten Zwischen- und Gegengedanken. Er reißt noch einmal den Horizont bis weit in die Gegenwart hinauf. Kommunismus und freie Wahlen sind - auch darüber belehrt ein Blick ins Kommunistische Manifest - ein altes Problem.

Was schreiben die beiden über Frederick Demuth? Sie schildern beide genau die Quellenlage, erzählen von den Beschweigungsversuchen in der Familie und in der organisierten Arbeiterbewegung, von den Archivfunden, aus denen am Ende, so Stedman Jones, hervorgeht, "dass Freddy Demuth selbst, der 1929 verstorbene Werkzeugmacher, durchaus wusste, wer sein leiblicher Vater war." Neffe ist auch hier wieder der deutlich bessere Erzähler, der die Dramatik darzustellen weiß, dass Karl Marx mit der Haushälterin Lenchen Demuth ein Kind machte, als seine Frau unterwegs war, um bei Verwandten Geld zu leihen für die am Existenzminimum sich bewegende Familie des großen Revolutionärs. Marx' Ehefrau Jenny war nicht entgangen, was passiert war. Als Friedrich Engels sich als der Erzeuger des Knaben präsentierte, wird Jenny ihm das nicht geglaubt haben. Denn Engels hätte keinen Grund gehabt, sich nicht als Vater des Jungen standesamtlich eintragen zu lassen. Aber so wurde der Schein gewahrt. Karl und Jenny blieben ein Paar, Lenchen Demuth blieb eine Haushälterin, der Sohn Frederick wurde weggeben. Für die Kosten kam, wie für so viele andere Kosten auch, Friedrich Engels auf.

Neffe schildert sehr einfühlsam, wie das Ehepaar Marx nach einer Weile wieder zu dem vertrauten Ton zurückfand. Jürgen Neffe, dem es nicht im Traume einfiele, Karl Marx zu duzen, hat die Empathie und den Abstand, die ein Biograf braucht. Empathie gerade nicht nur für seinen Helden, sondern auch für die von ihm Verwundeten und für die Situationen, in die wir Menschen geraten.

Im Mai 1875 vereinigten sich die Sozialdemokratische Arbeiterverein unter August Bebel und Wilhelm Liebknecht mit dem einst von Ferdinand Lassalle gegründeten und zuletzt von Wilhelm Hasenclever geführten Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands, die sich dann 1890 in Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) umbenannte. Als Grundlage der neuen Partei diente das Gothaer Programm. Es war - wie auch die Einigung selbst - zustande gekommen, ohne dass Marx und Engels konsultiert, ja auch nur informiert worden waren.

Die beiden tobten. "Die Kritik des Gothaer Programms" ist das Ergebnis dieses Wutanfalls. Neffe schreibt dazu: "Wohl selten ist das Positionspapier einer Partei schlimmer verrissen worden. Aber mindestens ebenso selten dürfte es eine konstruktivere Kritik gegeben haben." Den zweiten Punkt macht der sonst immer so klare Neffe nicht deutlich. Er scheint zu meinen, dass Marx hier Einblicke gebe "in seine Vorstellungen einer nachkapitalistischen Welt". Ob die Beschwörung der "revolutionären Diktatur des Proletariats" für eine politische Übergangsperiode als konstruktive Kritik gelten darf, erscheint mir allerdings wenig schlüssig.

Stedman Jones dagegen weist daraufhin, dass es beim Gothaer Programm nicht mehr darum ging, wie beim Bunde der Kommunisten, beim Kommunistischen Manifest also, "die Lehre einer revolutionären Sekte zu verkünden, sondern ein glaubwürdiges Wahlprogramm für eine parlamentarische sozialdemokratische Massenpartei vorzulegen. Karl unternahm keinerlei Versuch, die Bestrebungen der Sozialdemokratie nach 1848 auf dem Kontinent zu verstehen... Und statt schließlich die demokratische Umgestaltung des Staates zu erörtern sprang er in eine imaginäre Phase des revolutionären Übergangs von der kapitalistischen in die kommunistische Gesellschaft, in welcher der 'Staat nichts andres sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats.'" Hier scheint mir Gareth Stedman Jones' Mangel an Empathie einen Zugewinn an Scharfblick gebracht zu haben.

Auf eine monumental angelegte Biografie kann ich hier nur hinweisen: "Karl Marx und die Geburt der modernen Gesellschaft" heißt sie. Der Autor heißt Michael Heinrich. Von 1987 bis 2016 war er Mitglied der Redaktion der Zeitschrift Prokla - Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft. Der eine oder andere wird in der Umbenennung einer Zeitschrift Probleme des Klassenkampfes in Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft so etwas wie ein zurück zum Gothaer Programm wittern. Mal beifällig, mal mit dem Unterton "ihr Verräter!" Bis 2016 war Heinrich auch Professor für Volkswirtschaft an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin. Von der auf drei Bände angelegten Marx-Biografie, die auch in den USA, Frankreich und Brasilien erscheinen soll, ist gerade Band 1 erschienen. Der zweite Band ist für 2020 geplant. Der erste Band hat 422 Seiten und reicht von 1818 bis 1841. Wir sind also bis zur Marxschen Dissertation "Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie" vorgestoßen.

Bei ihr arbeitet Heinrich einen Gedanken heraus, der mich sehr fasziniert. Wahrscheinlich, weil ich ihn nicht verstehe: "Die Repulsion ist die erste Form des Selbstbewusstseins - insofern sich das Atom auf sich bezieht, indem es sich (per Abstoßung) auf andere Atome bezieht..." So schreibt Marx. Bei Epikur weichen Atome von ihrer Bahn kurz und ohne Ursache ab. Das führt zum Zusammenprall der Atome. Eine Theorie des Selbstbewusstseins ohne Bewusstsein. Geht das Bewusstsein erst aus dem Selbstbewusstsein hervor? Man kann das ganz materialistisch lesen.

Aber das führt jetzt zu weit. Lieber noch ein Hinweis auf die letzten Seiten dieses ersten Bandes der sehr interessanten Auseinandersetzung mit Marx und seinem Werk. Sie sind überschrieben mit "Wie ist biografisches Schreiben heute möglich? Zur Methodik einer Marx-Biografie." Heinrich wendet sich gegen die biografische Belletristik und die von ihr betriebene Einfühlung und kommt nach ausführlichen Referaten zu historiografischen Biografiedebatten zu der nun allerdings auch nicht gerade umstürzlerischen Einsicht: "Das, was wir üblicherweise als 'Person' festzuhalten versuchen, ist weder eine einfache, klar abgegrenzte Einheit noch eine bloße Illusion, es ist das fortwährende Resultat eines Geflechts von Wirkungen... Vielleicht erweist sich die Person Marx als ein beständiger und unabgeschlossener Konstitutionsprozess." Wir dürfen gespannt sein.

Wer es weniger umfangreich, weniger problematisch haben will, dem sei heftig empfohlen: Uwe Wittstocks "Karl Marx beim Barbier". Es handelt nicht nur von Marx' letzter Reise, die ihn nach Algier führte, sondern schildert auch sein Leben. Er tut das formulierungs- und erkenntnisfreudig bis zum Ende. So schreibt Wittstock über den aus Algier zu seiner ihn in Marseille erwartenden Familie zurückkehrenden 64-jährigen: "Die Rippenfellentzündung, die er für überwunden hielt, war nicht ausgeheilt… Was letztlich keine Überraschung ist, denn die quälenden Behandlungen, denen sich Marx unterzog, waren nach dem medizinischen Kenntnisstand von heute sinnlos…. Eine Therapie durch Zugpflaster … entsprach dem damaligen Stand der Wissenschaft, hatten aber keinerlei Aussicht auf Erfolg. Die Ärzte haben Marx mit den besten Absichten monatelang nutzlos die Haut vom Leib gezogen."

Die Akribie, mit der Wittstock diesem Vorgang nachgeht, zeichnet sein Buch immer wieder aus. Die Metapher wörtlich zu nehmen, scheint eine Eulenspiegelei, ist aber wie auch ein Weg zur Wahrheit. Man muss nur ein paar Seiten zurückblättern im Buch und stößt dann auf eine, darauf weist Wittstock hin, von Herfried Münkler angeregte Überlegung, dass Marx sich in den 70er Jahren, ohne sich über die Gründe dafür deutlich geäußert zu haben, mit Chemie, Geologie und Agrikulturchemie ausgiebig beschäftigt habe. Womöglich waren ihm Zweifel am ehernen Lohngesetz gekommen, an der Idee also, dass die Kapitalisten den Arbeitern die Haut vom Leibe zögen, so dass die revolutionieren müssten, um leben zu können. Wenn die Verwertung des Kapitals nicht darauf angewiesen war, den Arbeitern allerhöchstens das Existenzminimum zu zahlen, dann öffnete sich der Horizont zu einem Konsumkapitalismus. Die neue Grenze des Kapitalismus wäre dann nicht das rebellierende Proletariat, sondern die Ressourcen des Planeten. Die Kapitalismuskritik müsste Teil einer ökologischen werden. Das hätte nicht nur dem Mitbegründer der Grünen, Rudi Dutschke, sehr gefallen, sondern wahrscheinlich auch dem jungen Marx, dessen an Feuerbach geschulter körperfreundlicher Materialismus so gut wie nichts zu tun hatte mit den Gleichungen und Ungleichungen der Kritik der politischen Ökonomie. Man wird Marx, da hat Wittstock ganz recht, nicht begreifen, wenn man nicht sieht, wie sehr er aus der Romantik kommt.

Wer jetzt genug hat und endlich einmal einen Blick in die Bücher von Karl Marx werfen möchte, der wird sehr schnell fündig. Im Internet gibt es kostenlos nahezu das Gesamtwerk von Marx und Engels zu lesen. Wem das zu viel, zu unübersichtlich ist, der nehme zwanzig Euro, trage sie zu seinem Buchhändler und schnappe sich das von Klaus Körner bei dtv herausgegebene Karl-Marx-Lesebuch und beginne mit dem Kommunistischen Manifest und dem 18. Brumaire, wenn er dann Feuer gefangen hat, wird er sich auch den restlichen Seiten gerne widmen.

Eine aktuelle Auseinandersetzung mit dem Werk von Karl Marx findet man in dem von Mathias Greffrath herausgegebenen Band "RE: Das Kapital". Von Hans-Werner Sinn bis Sahra Wagenknecht. Das Schöne daran ist, dass jeder der 11 Autoren ein Thema hat, an dem er die Fruchtbarkeit oder Unfruchtbarkeit der Marxschen Theoreme zeigen kann. Nicht jeder ist dabei unbedingt in seinem Element. Aber das erhöht ja eher den Reiz. Der jüngst verstorbene Elmar Altvater zum Beispiel schreibt über das "Anthropozän" völlig richtig: "Es ist nicht 'die Menscheit', die in den vergangenen zwei Jahrhunderten für die Heraufkunft des Anthropozän genannten Erdzeitalters Verantwortung trägt." Er erklärt darum: "Das Anthropozän ist eine Ausgeburt des Kapitalismus." Das stimmt exakt so, wie es stimmte, dass der Kapitalismus zum Faschismus führte. Wir wissen inzwischen, dass der Kapitalismus nicht der einzige Weg dorthin war. Wer mag, kann jetzt anfangen, über Begriffe zu streiten, statt auf die millionenfache Menschenvernichtung zu achten. Der Kapitalismus führt zum Untergang des Planeten. Das sagt aber noch nichts darüber, wie wir den Planeten retten können. Mit der Abschaffung des Kapitalismus wäre noch nichts getan.

Der ehemalige Direktor des Kölner Max Planck Instituts für Gesellschaftsforschung, Wolfgang Streeck, hat schon lange darauf hingewiesen, dass wer unser System "Marktwirtschaft" nennt, darüber hinwegtäuscht, dass wir es mit einer sehr spezifischen Form von Marktwirtschaft zu tun haben. Wir tun gut daran, sie Kapitalismus zu nennen. Streeck wurde nicht müde, darauf hinzuweisen, dass zwar Marktwirtschaft und Demokratie eine gewisse Affinität zueinander haben, dass der dem Kapitalismus eigene Konzentrationsprozess aber eher zu einer immer engeren Bündelung der Macht führt. Die jüngsten politischen Entwicklungen scheinen das auf verstörende Weise zu bestätigen. In seinem Beitrag aber wirft Streeck einen Blick zurück und betrachtet den von Marx beschriebenen Prozess der ursprünglichen Akkumulation. Er war ein Prozess der gewalttätigen Aneignung von Gemeindeland für die private Verwertung. Hunderttausende wurden in die Armut gestürzt, um als billige Fabrikarbeiter zur Verfügung zu stehen. Nichts anderes passiert heute. In vielen Weltgegenden mit den Methoden, die denen, die Karl Marx in England aufgefallen waren, zum Verwechseln ähneln. Allerdings gilt auch hier, dass die Geschichte der kapitalistischen Gewalt nur ein Abschnitt ist in einer viel längeren Gewaltgeschichte.

Étienne Balibar schreibt über Revolutionen. Es sind gerade mal 20 Seiten, in denen er deutlich macht, dass es bei Marx gerade keinen "Übergang" von der ökonomischen zur politischen Theorie gibt, dass sich Marx wohl dessen nicht nur bewusst war, sondern diesen Bruch deutlich herausarbeitete. Und zwar genau an der Stelle, den die herkömmliche Marx-Exegese als Darstellung ihres Zusammenhanges interpretierte. Wie ich das hier knapp formuliere, könnte man es für reine Spitzfindigkeit halten. Liest man aber den Marxschen Text mit der von Balibar zur Verfügung gestellten Brille, dann scheint es als nichts als die Wahrheit. Man hat das Hereinbrechen des Französischen und der Begriffe der Hegelschen Dialektik am Ende des vorletzten Kapitels des ersten Bandes des Kapital meist verstanden als triumphalistisches Menetekel. Balibar sieht es eher als Demonstration, als Markierung von Grenzen einer Betrachtungs- und Beschreibungsweise, die durch eine andere ersetzt werden muss. Balibar arbeitet aus verschiedenen Passagen der Kapitalkonvolute drei verschiedene Konzeptionen von "Revolution" heraus. Es gibt Stellen, die lassen die Auseinandersetzungen kulminieren in der Expropriation der Expropriateurs. Eine andere Variante ist die eines niemals zu Ende kommenden Auf-und-Ab. Die dritte Möglichkeit ist der Endsieg des Kapitalismus, der sich nach und nach die ganze Gesellschaft unterwirft: Produktion, Konsum und Bewusstsein. Diese Ausführungen schafften es nicht in den ersten Band des Kapital. Das war Karl Marx wohl zu viel. Seinen Beitrag beendet Balibar mit den Worten: "Dieser 'post-historische' und sogar 'post-sozialistische' Kapitalismus erscheint in mancher Hinsicht als unüberwindlich und unbesiegbar… Wir müssen die Arbeit erneut machen, die Marx geleistet hat, aber in dieser Neuauflage werden wir ihn unaufhörlich immer wieder an unserer Seite antreffen, als einen guten Weggenossen."

Es liegt vielleicht nur an mir, aber ich habe im Umkreis dieses Jahrestages kein systematisch-kritisches Buch über Karl Marx gefunden. Keinen großen Entwurf, der Karl Marx als einen Abschnitt der Geschichte des Sozialismus betrachtet, der in ihm einen der großen verhängnisvollen Treibsätze des Jahrhunderts sieht. Marx habe nichts mit dem Marxismus zu tun und schon gar nichts mit all den Schrecklichkeiten, die in seinem Namen begangen wurden. Die Marx-Forschung verhält sich zu ihrem Gegenstand wie Franz Alt zu Jesus. Nirgends ist ein Deschner in Sicht, der uns eine Kriminalgeschichte des Marxismus schriebe. Franz Alt hat natürlich recht: Jesus ist nicht verantwortlich zu machen für die Borgia oder für die Völkermorde in Amerika. Das ist offensichtlich. Aber es stellt sich doch die Frage nach der Verwendbarkeit. Da bietet Marx sehr viele Möglichkeiten, nichts läge näher als eine Kriminalgeschichte des Marxismus.

Gareth Stedman Jones, Karl Marx - Die Biografie, S. Fischer, Frankfurt am Main 2017, 891 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 32 Euro.

Jürgen Neffe: Marx - Der Unvollendete, C. Bertelsmann, München 2017, 656 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 28 Euro.

Michael Heinrich: Karl Marx und die Geburt der modernen Gesellschaft, Schmetterling Verlag, Stuttgart 2018, 422 Seiten, Abbildungen, 29,80 Euro

Karl Marx: Es kommt darauf an, die Welt zu verändern, hrsg. von Klaus Körner, dtv, 463 Seiten, 20 Euro.

Uwe Wittstock: Karl Marx beim Barbier. Leben und letzte Reise eines deutschen Revolutionärs. Karl Blessing Verlag, München 2018, 288 Seiten, 20 Euro

RE: Das Kapital - Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert, hrsg. von Mathias Greffrath. Etienne Balibar über Revolution, Michael Quante über Entfremdung, Sahra Wagenknecht über Monopole, Hans-Werner Sinn über Stagnation, Elmar Altvater über Anthropozän, Mathias Greffrath über Mehrwert, John Holloway über Widerstand, Robert Misik über Kooperation, David Harvey über Entwertung, Wolfgang Streeck über Gewalt und Paul Mason über Automation, Kunstmann Verlag, München 2017, 240 Seiten, 22 Euro