Vom Nachttisch geräumt

Die Globalisierung des Ich und seine Vertreibung

Von Arno Widmann
17.08.2017. Das Individuelle verschwindet: Wie sich die griechische Porträtkunst Gewand und Frisur zuwendete, zeigt der Band "Bilder der Macht".
Der Untertitel des Buches lautet: "Das griechische Porträt und seine Verwendung in der antiken Welt" Die meisten winken jetzt ab: Was interessiert mich das. Nun ja. Es geht um die Globalisierung des Ich. Es wäre ganz falsch, dem Glauben des 19. Jahrhunderts anzuhängen, die Griechen hätten das Individuum entdeckt. Es stimmt auch nicht, dass sie die Porträtplastik erfunden haben. Ein kurzer Gang in irgendein ägyptisches Museum macht einem das klar. Aber wahr ist dann doch, dass der Export griechischer Lebens- und Kunstweisen, Hellenismus genannt, dazu führte, dass die spezifischen Formen der Porträtdarstellung, wie sie in Griechenland entwickelt worden waren, nicht nur im westlichen Mittelmeerraum, sondern tief nach Innerasien verbreitet wurden.

In Griechenland standen Porträtstatuen zunächst auf Gräbern, dann wurden Sportler, Wissenschaftler und Politiker mit Statuen im öffentlichen Raum geehrt. Ein genauer Blick auf die überlieferten Denkmäler zeigt, dass sie oft zwar wie Porträts einer realen Person aussehen, es aber nicht waren. Die Statuen mussten nicht aussehen, wie ihre verstorbenen Vorbilder lebend ausgesehen hatten, um als ihre verewigten Abbilder angesehen zu werden. Eine Statue des Theagenes auf Thasos erschlug einen Feind des Dargestellten. Sie wurde - als sei sie ein Mensch und eben nicht nur dessen Abbild -  "nach den drakonischen Gesetzen bestraft". Die Statue hatte gehandelt wie der Dargestellte, so die Vermutung des Erzählers dieser Geschichte, gehandelt hätte, darum war sie er. Nicht weil sie ihm ähnelte. Man darf aus der Ähnlichkeit zum Beispiel der Platon-Porträts aus ganz unterschiedlichen Ecken Griechenlands nicht auf ein gemeinsames Urbild schließen, das gar das Abbild des wirklichen Platon gewesen sein soll. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass "standardisierte Bildformeln" entwickelt wurden, bei denen es nicht um Ebenbildlichkeit mit einem bestimmten Menschen ging, sondern um ein Erscheinungsbild, auf das man sich geeinigt hatte. Der Witz war freilich schon der, dass diese Bildformel aussehen musste wie ein Individuum.

Wer den Band mit seinen 16 Beiträgen liest, der kann sehr schön beobachten, wie Individualisierung und Schablonisierung immer wieder mit einander im Clinch liegen. Ganzkörperstatuen des westlichen Perserreiches aus der Zeit zwischen 100 vor und 100 nach unserer Zeitrechnung zitieren nur noch wie von ferne den griechischen Einfluss, dem sie einst unterlegen waren. Der Kopf aus dem syrischen Dura Europos des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts wirkt wie ein Schreckbild oder eine Karikatur. Die Idee, dass es sich um einen bestimmten Menschen handeln könnte, kommt nicht auf. Sie soll, hat man den Eindruck, vertrieben werden. Zugunsten einer allgemeinen Idee. In der das Schöne dem Schrecklichen den Platz überlassen hat.


Pablo Gargallo, Greta Garbo, Madrid, Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía

Wer diesen Band liest oder auch nur die zahlreichen Abbildungen betrachtet, der erkennt, dass der Prozess, in dem sich die christliche Kunst von der römischen und deren griechischen Ahnen trennt, nichts spezifisch Christliches ist. Er spielt sich auch in ganz anderen Landstrichen und zu anderen Zeiten ab. Das "wahre Bild" ist nicht ein besonders kunstfertiges Abbild der Realität, sondern das Bild, das nicht von Händen gemacht, sondern von Gott gesandt wurde. Manchmal auch waren es wie beim Schweißtuch der Veronika oder dem Christusbild von Edessa, Bilder, die der Abdruck des Lebenden in einem Tuch hinterlassen hatte. Das sind trotz des behaupteten Lebensechtheit verbürgenden Verfahrens gerade keine realistischen, sondern stark formalisierte Bilder, die Porträt zu nennen heute niemandem mehr einfiele.

Wer den Beitrag von Antonio Invernizzi über das Porträt bei den Parthern liest, der erfährt, dass im ersten vor- und im ersten nachchristlichen Jahrhundert die Regeln der spätparthischen Kunst brachen mit der griechischen Vorstellung, dass der natürliche menschliche Körper der Ausgangspunkt der künstlerischen Arbeit sein müsse. An dessen Stelle treten Gewand und Frisur als klar definierte Statuszeichen. Man kann das in allen Kunstgattungen der Zeit beobachten. Das Individuum verschwindet hinter seiner gesellschaftlichen Position. So sehr, dass als einziges Relikt der griechischen Bildhauerkunst das Geschick übrigbleibt, mit dem der feingefältelte Stoff des Gewandes dargestellt wird. Alles andere wird irrelevant. Das Gesicht darf kein bestimmtes mehr sein. Die Archäologen, die eine Statue als die eines Betenden bezeichnen, können einem nicht sagen, ob der Beter ein Herrscher oder ein hoher Beamter ist. Es gibt keine Inschrift, die das erklärte. Es gibt aber vor allem nicht den Wunsch, das in der Abbildung selbst sichtbar zu machen. In Wahrheit haben wir es also, selbst wenn bestimmte Personen gemeint sein sollten, nicht mit Porträts zu tun, sondern es geht gerade darum, das Individuelle verschwinden zu lassen.

Man hat sich denkbar weit entfernt von dem Vergnügen, mit dem römische Bildhauer zur selben Zeit sich aufmerksamst der bunten Vielfalt des Menschengeschlechts zuwandten oder der Akribie, mit der zur selben Zeit die ägyptischen Mumienporträts von Fayum die Verstorbenen abbildeten. Lothar von Falkenhausen beschäftigt sich in einem Beitrag mit der Menschendarstellung im vorkaiserlichen China. Er weist darauf hin, dass Menschen nur sehr selten und nur sehr formalisiert dargestellt wurden. Und das, obwohl man in China die hellenistischen Darstellungen kannte. Man scheint sich bewusst gegen sie entschieden zu haben. Götter werden niemals in menschlicher Gestalt dargestellt, obwohl es Texte gibt, in denen sie so beschrieben werden. Menschen duften nicht dargestellt werden und schon gar nicht hochgestellte. Falkenhausen spricht geradezu von einem Tabu. Damit wurde erst spät gebrochen. Aber niemals so massiv wie dann in der Volksrepublik mit der Allgegenwart der Mao-Zedong-Plakate.

Falkenhausen widerspricht dem oft formulierten Eindruck, bei den Soldaten der Terrakottaarmee des ersten Kaisers handele es sich um Porträts wirklicher Soldaten. Jeder sieht zwar anders aus, aber dargestellt wird "die kollektive gesellschaftliche Identität des kaiserlichen Militärapparats". Es geht nicht um die Verewigung der Einzelnen, sondern um die zur Verfügungstellung des militärischen Gesamtkörpers. Es scheint freilich wichtig zu sein, darauf hinzuweisen, dass er sich aus unterschiedlichen Individuen zusammensetzt. Erst darin erweist sich ja Herrschaft und nun gar die eines ersten Kaisers. Das riesige Mausoleum für Qin Shi Huangdi mit den an die achttausend Kriegern, Pferden und Streitwagen entstand zwischen 221 und 210 vor unserer Zeitrechnung.  Es fällt schwer, sich die Entstehung der Terrakottaarmee vorzustellen ohne eine lange Tradition der Menschendarstellung. Über die aber scheint man nichts zu wissen.

Dieter Boschung, Francois Queyrel (hrsg): Bilder der Macht - Das griechische Porträt und seine Verwendung in der antiken Welt, Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2017, 472 Seiten, 120 s/w, 19 farbige Abbildungen, 69 Euro